Die Sonne scheint noch über Spanien, auch im Winter. Aber die Schattenseiten nehmen bedenklich zu und erinnern an die tragische Komponente im Flamenco und in der Geschichte des Landes. Die Wirtschaft ist nun seit sechs Quartalen in der Rezession. Sie hat sich im vierten Quartal 2012 vertieft – minus 1,8 Prozent für das Bruttoinlandprodukt aufs ganze Jahr – und wird laut dem Internationalen Währungsfonds 2013 (geschätzte minus 1,5 Prozent) andauern, was immer auch die Regierung Rajoy vom konservativen Partido Popular verspricht. 2014 darf man auf magere 0,8 Prozent Aufschwung hoffen, weit entfernt von den 2 Prozent, die zur Schaffung neuer Arbeitsplätze nötig wären.
Austerität vorläufig kontraproduktiv
2012 verlor Spanien 850'000 Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 26 Prozent, für die Jungen unter 25 Jahren auf 55 Prozent (auf den Kanarischen Inseln, die vom Tourismus leben, auf 70 Prozent). Im öffentlichen Sektor wurden 7 Prozent der Stellen gestrichen, mehr als in der Privatwirtschaft. Die von der EU verordnete Austerität hat ihren hohen sozialen Preis, aber zeigt noch keinerlei positive Auswirkungen.
Die Reformpolitik kam zu spät, auch wegen des sozialistischen Vorgängers von Rajoy, Zapatero. Sie ist zur Zeit, wie dies auch langsam von der EU zugegeben wird, noch folgenlos oder gar kontraproduktiv. Dies zeigte sich mit der überfälligen Liberalisierung des Arbeitsmarktes (die Rajoy in Spanien vor Hollande in Frankreich durchsetzte). 6 Millionen Personen sind arbeitslos, 2 Millionen Haushalte erhalten keine Arbeitslosenunterstützung mehr. Die Gesamtbevölkerung beträgt 47 Millionen.
Negatives Echo im Volk, bei der Wirtschaft, im Ausland
Die spanischen Unternehmer, welche diese Reform seit Jahrzehnten forderten, haben Rajoy dafür nur knapp gratuliert, sind aber sonst zu 52 Prozent unzufrieden mit ihm. Das undankbare Volk findet nur zu 24 Prozent Gnade für Rajoy nach einem Jahr Regierungstätigkeit – das war etwa die gleiche Sympathie für den Verlierer Zapatero Ende 2011. Aber heute sind keine Wahlen in Sicht und auch kein sozialistischer Hoffnungskandidat.
Der strenge Galizier Rajoy hat es zudem nicht geschafft, sich in Brüssel und bei Angela Merkel oder bei Hollande – der verzweifelt die europäische Südachse sucht – Liebkind zu machen. Als er von Merkel, seiner wirtschaftsliberalen politischen Gesinnungsgenossin, eine «expansive» Politik – das heisst mehr Kredite – forderte, kanzelte diese ihn ab. Sie forderte ihn auf, mehr nach Lateinamerika zu exportieren, als ob sich das befehlen liesse. Als einziger kleiner Lichtblick für die Regierung kam letzte Woche die erfolgreiche Staatsanleihe, aber mit einem im europäischen Vergleich zu hohen Zinssatz von 5,4 Prozent.
Wieder Auswandererland
Spanien fühlt sich jetzt trotz Bankenhilfe von der EU deklassiert, auf das Niveau von Griechenland relegiert – und sich selbst moros und auch von seiner jungen Generation verlassen. In den letzten Monaten haben 125'000 Junge, spanische und ausländische, das Land verlassen, um in Westeuropa, Grossbritannien, den USA, in Arabien oder Asien eine Ausbildung oder einen Job zu erhalten. Spanien ist wieder zu einem Auswandererland geworden. Auch die lateinamerikanischen, rumänischen und marokkanischen Einwanderer verlassen die iberische Halbinsel – und das Ende der Immigration hilft weder der Wirtschaft noch der Sozialversicherung.
Regierungspartei und Monarchie angeschlagen
Um alles noch schlimmer zu machen, hat der Partido Popular von Rajoy eine massive Korruptionsaffäre am Hals. Ein früherer Parteikassier hatte dem Parteikader während Jahren generös illegale Zulagen in diskreten Umschlägen zugehalten und selbst Millionen auf seinem Schweizer Konto gescheffelt.
König Juan Carlos, nach der Franco-Diktatur arm, aber als nationaler Held der neuen Demokratie auf den Thron gekommen, ist unterdessen reich geworden. Er war, 75-jährig, während der Krise mit seiner angeblichen deutschen Geliebten auf Elefantenjagd in Botswana, während sein Schwiegersohn, ein Olympiade-Gewinner, Gelder veruntreut hat. Die «schlimmste Zeit der Monarchie» titelten die spanischen Zeitungen. 1998 waren 72 Prozent in Umfragen überzeugte Monarchisten, heute sind es nur noch 53 Prozent. Aber der 45-jährige Kronprinz Felipe, seriöser als sein Vater, könnte die Monarchie nochmals retten.
Unabhängigkeitsrhetorik in den Regionen
Explosiver als das Überleben der Monarchie bleiben die historischen Unabhängigkeitsbewegungen im Baskenland und jetzt neurotischer denn je in Katalonien. Als ob das bereits «balkanisierte» Europa auf die Schotten, die Flamen, die Basken, die Katalanen wartete. Die Korruption in Katalonien unter «nationalistischen» Vorzeichen – sowohl bei den Sozialisten, als auch bei der schon seit zu lange regierenden bürgerlichen Partei von Pujol und jetzt Mas – ist in ihrem ganzen Ausmass noch nicht aufgedeckt. Regierungschef Mas, der sich politisch kaum von Rajoy unterscheidet, will in Barcelona mit dem Unabhängigkeits-Getue vor allem eigenes Verschulden in seiner Region verdecken.
Rückkehr in die Brutalität?
Die «indignados» – die Empörten, die tagelang die Plaza del Sol in Madrid besetzt hielten – sind den «resignados» im ganzen Land gewichen, die nicht mehr wissen, was noch von wem fordern. Noch gab es Proteste gegen die Zwangsräumung von Leuten, die ihre Miete oder ihre Hypothek nicht mehr bezahlen konnten nach der Explosion – schon ab Ende 2007 – der Immobilien-Blase, die in Spanien mafiose Ausmasse angenommen hatte und wichtigster Grund der Bankenkrise war. Bis eine Million Neubauten stehen heute leer.
Der anglophile Schriftsteller Javier Marias, heute 61 Jahre alt, der die Verfolgung seines Vaters in der Franco-Diktatur mit- und überlebt hat, kommentiert mit einer lasziven Distanz die Erfahrung seiner Generation in Spanien. Die Euphorie der «movida» nach der Franco-Diktatur, welche die spanische Gesellschaft – so Marias – schnell «kultiviert» und modernisiert hatte, hat sich in den letzten Jahren nach dem Wahlsieg der Sozialisten unter Felipe Gonzalez 1982 von einer irrationalen Hoffnung wieder in eine, wie Marias heute beobachtet, «bequeme alte Brutalität» gewandelt. Das klingt vielleicht etwas trostloser, als es ist.