Seit der Antike gilt der Mensch als «vernünftiges Tier» – als «animal rationale». Sieht und hört man sich allerdings heute um, kommen einem schnell die Zweifel. Es wimmelt von Bullshittern, Fakeverbreitern, Klimaleugnern, Impfgegnern, Wissenschaftsskeptikern, Verschwörungstheoretikern, Mobbern, Trollen – eine Pandemie der Irrationalität, so hat man den Eindruck, und nicht erst seit den Viren.
Da muss sich die Abwehr einer neuen Aufklärung formieren. Und in der Tat: Seit gut fünfzehn Jahren hat sich ein Genre von Ratgeberliteratur auf dem Markt etabliert, die uns endlich zu aufgeklärten Wesen machen soll.
Sie suggeriert im Kern: Im Grunde ist der Mensch ein zutiefst irrationales Wesen, sein Denken ist imprägniert von logischen Fehlschlüssen, statistischer Ignoranz, Voreingenommenheit, Fakeglauben, Instinkten. Es ist an der Zeit, zur Vernunft zu kommen. Und zwar nicht mit philosophischer, sondern mit wissenschaftlicher Aufklärung.
Rezentes Neuaufklärertum
Begonnen hatte das rezente Neuaufklärertum mit zwei Bestsellern: «Blink» von Malcolm Gladwell (2005) sowie «Thinking Fast and Slow» von Daniel Kahneman und Amos Tversky (2011). Beide kompilieren die Fülle der Forschungsergebnisse aus Psychologie, Neuro- und Kognitionswissenschaften auf eine für Laien einsichtige Weise, wenn auch mit fast entgegengesetzten Absichten. Gladwells Stil ist anekdotisch, er hebt die unbewusste Verarbeitung von Informationen hervor, die Regie des Augenblicks im Denken, die Macht der Intuition. Oft seien schnelle Bauchentscheide präziser als langsame Kopferwägungen. Wogegen Kahneman und Tversky unseren Blick gerade auf die Fehlbarkeit von Schnellentscheidungen lenken. Und sie tun dies in systematischem Stil, indem sie ein voluminöses Kompendium der kognitiven Voreingenommenheiten («Bias») erstellen. 2007 würdigte übrigens der Psychologe Gerd Gigerenzer in seinem lesenswerten Buch «Bauchentscheidungen» die Macht der Intuition lehrreicher als Gladwell.
2007 würdigte übrigens der Psychologe Gerd Gigerenzer in seinem lesenswerten Buch «Bauchentscheidungen» die Macht der Intuition lehrreicher als Gladwell.
Zahlreiche Autoren begannen im Wind von Kahneman und Tversky zu segeln: selbsternannte Lotsen durch das Feld alltäglicher Denkfallen. Etwa David McRaney mit «You are not so smart» (2011, deutsch: «Ich denke, also irre ich», 2012), oder Rolf Döbeli alias Dobelli mit «Die Kunst des klaren Denkens» (2011). Eher pessimistisch gab sich der Sozialpsychologe Jonathan Haidt in «The Righteous Mind» (2013). Er verstieg sich zur These, Rationalität sei eine «Illusion» und die «Verehrung der Vernunft» das Beispiel eines «Glaubens an etwas, das nicht existiert». Wobei man sogleich anfügen muss, dass Haidt primär die «rechtschaffene Vernunft» in Religion und Politik im Visier hat. Und sie bietet tatsächlich kaum Anlass zu Optimismus.
Zur Vernunft schubsen
Es lässt sich endlos darüber streiten, ob der Mensch «von Natur» aus vernünftig oder unvernünftig sei. Die Ausgangsfrage von Immanuel Kant. Er attestierte jedem (weissen) Menschen vernünftige Anlagen. Und wenn der Mensch sie nicht entfalten will? Dann muss man ihn – so lautet eine zeitgemässe Antwort – dazu schubsen. «Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstösst» (2008) – auch dies ein Bestseller, geschrieben von einem Rechts- und einem Managementwissenschafter, Cass Sunstein und Richard Thaler. Sie gehen von der Frage aus, die gegenwärtig in der Debatte um die Impfpflicht schon fast dröhnend widerhallt: Was tun mit den «Unvernünftigen»? Statt sie Vernunft zu lehren, kann man sie durch Tricks oder Anreize dazu (ver)führen, vernünftig zu handeln.
In den USA soll man die Leute mit einer Kiste Bier für das Impfen «belohnt» haben. Sunstein spricht von «aufgeschlossenem Paternalismus».
In den USA soll man die Leute mit einer Kiste Bier für das Impfen «belohnt» haben. Sunstein spricht von «aufgeschlossenem Paternalismus». Die implizite Arroganz dieser «Aufgeschlossenheit» ist allerdings nicht zu übersehen. Die meisten Menschen sind unvernünftig, sagt sie. Schubsen ist im Grunde Unvernunft-Management – zum «Besten» der Unvernünftigen, versteht sich. Und wer weiss, was dieses «Beste» ist? Die Managementwissenschafter, Verhaltensökonomiker, Neuropsychologen?
Wie man ein Gauss wird
Es gibt auch Optimisten. Zum Beispiel den Mathematiker Marcus de Sautoy, einer der produktivsten populärwissenschaftlichen Autoren. Sein Zauberrezept heisst «Shortcut»: Abkürzungen im Denken. Eben ist sein Buch «Thinking Better: The Art of The Shortcut» (2021) erschienen. De Sautoy listet zehn Schnellverfahren – Heuristiken – auf, wie man komplexe Probleme durch das Erkennen von (mathematischen) Mustern bewältigen kann. Vorbild ist ihm der legendäre Mathematiker Carl Friedrich Gauss, als neunjähriger Schüler. In einer Arithmetikstunde stellte der Lehrer der Klasse die von ihm als mühsam taxierte Aufgabe, alle Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Der junge Gauss lieferte dem verblüfften Lehrer das Resultat, kaum hatte dieser die Aufgabe formuliert. Das Muster: Man zählt 1 und 100, 2 und 99, 3 und 98 zusammen, insgesamt 50 Mal 101: ergibt 5050. Ein klassischer «Shortcut».
De Sautoy zeigt, wie durch ähnliche Muster das Verständnis etwa von exponentiellem Wachstum, bedingter Wahrscheinlichkeit oder Netzwerktopologie erleichtert werden kann. Das ist einsichtsreich und vergnüglich. Die ganze Sache hat freilich einen Haken. De Sautoy präsentiert Resultate oft wie Kaninchen aus dem Zylinder. Aber man benötigt zum Verständnis der Tricks viel Mathematik, und die ist und bleibt haarig, was de Sautoy geflissentlich unterschlägt. Zu «Shortcuts» gibt es keinen niederschwelligen Zugang. Sein Buch macht keinen Gauss aus uns. Dies zu behaupten, wäre Rosstäuscherei.
Der Pop-Rationalist
Der Psychologe Steven Pinker ist eigentlich der Pop-Rationalist dieser Tage. Sein neustes Buch heisst «Mehr Rationalität: Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes».
Der Psychologe Steven Pinker ist eigentlich der Pop-Rationalist dieser Tage. Sein neustes Buch heisst «Mehr Rationalität: Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes» (2021). Er zeigt sich darin offensiv optimistisch: «Eine Liste von Arten der Dummheit kann nicht erklären, warum wir so klug sind.» Wie gern pflichtet man ihm bei. Aber Pinkers Rationalitätsbegriff hat arg Schlagseite. Er macht aus seiner Präferenz für die «harten» Wissenschaften kein Hehl. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Wer heute jedoch wissenschaftliche Rationalität verteidigt, müsste seinen Reflexionshorizont schon erweitern. Wer etwa Modelle der mathematischen Spieltheorie oder Entscheidungstheorie zu Vorbildern der «Vernunft» hochstilisiert, sollte zumindest einen Seitenblick darauf werfen, wie solche Modelle rationale Heroen vom Kaliber eines John von Neumann dazu brachten, 1950 einen «vernünftigen» vorbeugenden Nuklearkrieg gegen die Sowjetunion zu propagieren. Hinzu kommt etwas anderes. Die hyperventilierende Klappentext-Lobhudelei täuscht nicht über die heimliche Verkaufsideologie hinweg: Kauf einfach das Buch und schon bist du smart. Smartness als persönliche Trumpfkarte im Leistungswettbewerb. Vernünftig sein heisst, dem anderen immer eine Nasenlänge voraus sein. Aus der Ferne grüsst die Hohepriesterin des «rationalen Egoismus» Ayn Rand.
Die Gutmeiner
Nichts gegen das ehrenwerte Vorhaben, uns im Zeitalter des Fakes und des Bullshits eine kritische Denkhaltung beizubringen: Bias erkennen, Statistiken deuten, Fehlschlüsse vermeiden, Expertenmeinungen einschätzen und was noch alles. In der Tat ist nichts nötiger. Das Problem liegt eher darin, dass man den Vernunftbegriff immer marktadaptierter zu definieren versucht. Der Soziologe und Philosoph Max Horkheimer sprach vor fast achtzig Jahren von der «Instrumentalisierung» der Vernunft, ihrer Subsumtion unter die wirtschaftlich-technische Zweckrationalität. Diese Dialektik entfaltet sich heute flächendeckender denn je, wie Figura zeigt. Deshalb gehörte zu einer wirklichen Aufklärung vordringlich das Bewusstsein dieser Instrumentalisierung – und darüber schweigen sich die neuen Aufklärer auf eine beredte und bezeichnende Weise aus.
Auch wenn Besser-Denken-Ratgeber regelmässig Bestsellerstatus erreichen, ist nicht zu erwarten, dass wir immer vernünftiger werden. Instant-Rationalität gibt es nicht. Denken ist ein prekäres Geschäft. Und klar denken noch prekärer. Mit Büchern zu klarem Denken anleiten ist gut gemeint. Aber wie das bekannte Bonmot weiss: Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut.