Ein oft zitiertes Wort des Apostels Paulus besagt, dass die Weisheit dieser Welt Torheit sei bei Gott. (1. Kor 3, 19). Dazu schrieb Goethe: «Es wäre nicht der Mühe wert, siebzig Jahre alt zu werden, wenn alle Weisheit der Welt Torheit wäre vor Gott.» (Maximen und Reflexionen). Aber von Goethe einmal abgesehen, was bleibt übrig von jenem Satz des Paulus, falls es Gott nicht gibt? Ein mir befreundeter Pfarrer antwortete: «Das Wissen von der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens.» Schön, man kann es auch so drehen. Aber wie verhält es sich denn eigentlich mit diesem Gott – dem Gott der Christen, demjenigen der Juden und dem der Muslime, von denen manchmal ein jeder von den zwei andern als verschieden, manchmal die drei als ein und derselbe definiert werden.
Existenzielle Fragen und die Wende zur Rationalität
Im Alten Testaments erscheint Gott personifiziert als mächtiger Übervater, manchmal liebend, manchmal zornig strafend, aber immer auch ein Du, ansprechbar, ein Partner, vor den man treten und mit ihm hadern konnte, ihm Fragen stellen, Rechenschaft von ihm fordern durfte, so wie es Moses, so wie es Hiob getan haben, was zu grossartigen existentiellen Dialogen führte. Personifiziert waren zunächst auch die Götter der alten Griechen, die sich in alles menschliche Geschehen einmischten und sich dabei mehr den untereinander geführten Machtkämpfen als dem Dialog mit den Menschen widmeten.
Und dann geschah eine der tiefstgreifenden Revolutionen im menschlichen Denken, die im europäischen Kulturbereich bis heute von eminenter Bedeutung blieb: In Ionien, der Westküste der heutigen Türkei, traten die vorsokratischen Philosophen auf, die – nachdem ihr Denkvater, Thales von Milet, die Sonnenfinsternis von 585 v. Chr. vorausgesagt hatte – mit der Götterwelt Homers aufräumten und das Geschehen in der Natur nicht mehr als Folge göttlicher Einwirkungen, sondern als berechenbare physikalische Naturereignisse deuteten. Blitze erklärten sie nicht mehr als von Zeus geschleudert, sondern als eine Folge von Wolkenbewegungen, Erdbeben verstanden sie nicht mehr als eine von einem Gott verfügte Strafe, sondern zum Beispiel als Folge einer Welle auf der unendlichen Fläche des Wassers, auf welchem das Schiff Erde – wie Thales spekulierte – schwamm und durch die Welle erschüttert wurde. Die Vorstellung von etwas Göttlichem behielten sie bei, aber intellektualisiert: Sie verstanden es nicht mehr in personifizierter Form, nicht mehr anthropomorph, sondern als eine undefinierbare Kraft, eine geistige «Substanz», eine Art Fluidum, das die Welt umfasste oder sie durchdrang.
Philosophische Schwierigkeiten mit Gott
Genau da sind heute die Philosophen wieder angelangt, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist heute einem Philosophen ein personifizierter Gott schlechterdings undenkbar, da man diesem ja einen Standort zuweisen müsste, was dem im Glauben wurzelnden Theologen gelingen mag, jedoch nach den Regeln der philosophischen, also vernunftmäßigen Logik unmöglich ist. Zweitens gerät ein personifizierter Gott unabwendbar in Konflikt mit der Theodizee, also mit der Frage, wie ein allgütiger, allwissender und allmächtiger Gott das Elend, die Kriege, die Verbrechen unter den Menschen dulden kann.
Diese Klippe versuchen heutige Philosophen damit zu umgehen, dass sie Gott wiederum als etwas Undefinierbares, als eine Art Fluidum erklären und diesem die Allmacht und die Verantwortlichkeit für das menschliche Handeln kurzweg absprechen. Anders ausgedrückt: Gott hat die Welt und die Menschen darin erschaffen, ist aber nicht verantwortlich dafür, was die Menschen mit seiner Schöpfung machen; er beeinflusst es in keiner Weise und schuldet niemandem Rechenschaft oder Rechtfertigung. Schuldig an allem Bösen und verantwortlich dafür ist einzig und allein der Mensch. Grundlegend ist diesbezüglich die kleine, 1987 bei Suhrkamp erschiene Schrift «Der Gottesbegriff nach Auschwitz» von Hans Jonas, der sich seinen Glauben zu erhalten suchte, nachdem seine Mutter in Auschwitz ermordet worden war.
Der Mensch – Gestalter seiner selbst
Ähnliches, allerdings ohne dem Gott die Allmacht abzusprechen, hatte 500 Jahre früher schon Pico della Mirandola vertreten. In seiner Schrift über die Würde des Menschen, die Jacob Burckhardt als eines der «edelsten Vermächtnisse» der Renaissance bezeichnete, lässt er Gott zum Menschen sagen: «Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, den ich dir überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen (…) damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.» Jean-Paul Sartre definierte dann den Menschen ebenfalls als Gestalter seiner selbst, aber ohne einen Gott irgendwelcher Art in seine Vorstellung einzubeziehen oder daran zu glauben.
Wissen und Glauben im Konflikt
Bei jenen neuzeitlichen Gotteskonstrukten wie etwa derjenigen von Jonas wollen jedoch die betreffenden Philosophen ihrem Gott trotz seiner Substanzlosigkeit die Ansprechbarkeit belassen. Und da stellen sich nun erhebliche Probleme. Wenn man sich Gott als eine Art Fluidum denkt und ihm die Allmacht nimmt: Wie kann man, und weshalb sollte man dann noch zu ihm, einem schweigenden und untätigen substanzlosen «Etwas» beten? Mit dieser Frage gelangt man unabwendbar vor die Kluft, welche eine Verständigung zwischen Gläubigen und Ungläubigen verunmöglicht. Immanuel Kant hat in seiner «Kritik der reinen Vernunft» dieses Hindernis auf eine bewundernswert einfache Formel gebracht: «Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.» Lessing hat mit einer ebenso einfachen Formel zu vermitteln versucht: «Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.» In aller Bescheidenheit bin ich der Meinung, dass sich zum ganzen Problemkreis des Gottesbegriffs vernünftigerweise nur zweierlei sagen lässt. Entweder: «Ich glaube», oder: «Ich glaube nicht.»
Weihnachten spricht eine andere Sprache
Über derlei Gedanken sinnierend bummelte ich an einem Vorweihnachtsabend in Berlin über den Weihnachtsmarkt am Kurfürstendamm. Lichterketten glitzerten an den Verkaufsbuden, Mütter kauften ihren an der Hand gehaltenen Kindern Lebkuchen oder Zuckerwatte, ein Geruch von Glühwein und Bratwurst erfüllte die Luft. Halb belustigt stellte ich mir vor, dass rund um die Welt herum Christen, einschließlich der Antisemiten unter ihnen wie etwa seinerzeit der rabiate Judenhasser Luther, den Geburtstag eines jüdischen Wanderpredigers zelebrieren. Und es drängte sich mir die Frage auf, ob Weihnachten auch unter Hitler gefeiert wurde – Weihnachten freilich nicht als Geburtstag eines Juden, aber irgendwie sonst? Vermutlich trugen auch damals Mütter Geschenke nach Hause, legten sie in der Wohnstube unter den geschmückten Tannenbaum, die Kinder erfreuten sich an seinem Glanz und an den Geschenken, und die Väter sengten mit Kerzenflammen ein paar Tannenzweige an, dass sich weihnachtlicher Duft in der Stube ausbreite und Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen.