Der Titel „Dene wos guet geit“ verweist auf ein gleichnamiges Chanson von Mani Matter. Der legendäre Berner Liedermacher singt darin wehmütig und träf von der suboptimalen Besitzverteilung im Sozialstaat: „Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit, was aber nid geit …“. Eingespielt wird das Lied in Cyril Schäublins famosem Spielfilmdebüt nicht, doch es bildet das ideelle Fundament des Plots.
Er erzählt von denen, denen es gut geht, weil es anderen etwas weniger gut geht, auf überraschende Weise: Schäublin hat sich eine Enkeltrick-Betrugsstory ausgedacht. Im Film sieht man früh symbolstarke, statische Bilder: den vom Zürcher Künstler Werner Zemp 2002 designten „Abfallhai“-Kübel (er hat Kultstatus); einen gelben Vibrations-Taster an einer Verkehrsampel; eine Kreuzung mit Fussgängerstreifen, mit an- und wegfahrenden Autos. Da steht die Protagonistin Alice Türli (Sarah Stauffer, sehr einnehmend) und konsultiert ihr Handy.
Sie jobbt in einem Callcenter, verklickert Abonnemente und Policen für Telefon-, Internet- und Krankenkassenanbieter. Dinge, die man meistens nicht braucht, weil man sie bereits hat. Doch wenn trotzdem Umsatz generiert werden will, muss die Kundschaft immer wieder mit technischen Gadgets und Rabatten neu geködert werden.
Maloche und faule Tricks
Die Maloche in einem Callcenter wird nicht wirklich wertgeschätzt, der Erfolgsdruck auf die Akquisiteure ist hoch. Was Alice wenig schert. Sie ist ein Verkaufstalent und verdient sich einiges dazu – illegal. Im Telefoninterview entlockt sie älteren Damen – angeblich um deren eigener Sicherheit willen – sensible Daten wie Kontostand, Bankverbindungen, familiäre Angaben. Mit diesen Informationen konstruiert Alice eine Lügengeschichte und ruft potenzielle Opfer privat an. Sie gibt sich als Enkelin aus, die plötzlich in eine finanzielle Notlage geraten ist und jetzt das „Grosi“ verzweifelt anfleht, ihr mit einer grösseren Summe Bargeld auszuhelfen.
Man will es kaum glauben, aber Fälle wie diese nehmen zu, allen Aufklärungs-Kampagnen zum Trotz: Wen das Klima im entpersönlichten Digital-Zeitalter überfordert, wer älter ist, gar vereinsamt, wird anfälliger für Gesten vermeintlicher Fürsorglichkeit. Alice Türli nutzt das gerissen aus. Bereits hat sie so viel Geld ergaunert, dass sie es – dieses Mal zu ihrer eigenen Sicherheit – bei einer feinen Zürcher Privatbank deponieren kann. Schweizerisch solider und zynischer geht es nicht.
Das andere Zürich, gleich um die Ecke
Handlungsort in „Dene wos guet geit“ ist erkennbar Zürich. Allerdings nicht die schmucke Altstadt, das Bellevue mit Seesicht, der Paradeplatz mit Banken und Boutiquen in Prachtbauten. Schäublin switcht „just around the corner“, quasi um die Ecke ins Stahlbeton-Büroturm-Niemandsland. Weitab vom City-Schick.
Wer hier eines der hochgesicherten Gebäude betritt, braucht mindestens einen Badge. Im Inneren buhlen dann rhetorisch geschulte Verkäufer um Kunden, obwohl sie keiner von ihnen darum gebeten hat. Längere Dialoge gibt es kaum, dauernd werden Zahlenreihen, Kontonummern, WiFi-Passwörtern kommuniziert – im IT-Slang, dem babylonischen Sprachgewirr unserer Zeit.
Draussen vor den Türen beseitigen städtische Reinigungs-Brigaden Sprayer-Spuren und Abfall, derweil sich inmitten von quietschenden Tramzügen, röhrenden Lastwagen und jaulenden Automotoren die wenigen Passanten roboterhaft ans Smartphone klammern, als wären es Anker oder Rettungsringe. In diesem Hightech-Biotop pocht das zwinglianische Zürcher-Stadtherz härter, wie von einer hauchdünnen Eisschicht überzogen.
Die Polizei als Freund und Helfer
Immer wieder sind Gruppen von Polizisten in anthrazitfarbener Kampfmontur zu sehen, gepanzert wie Schildkröten. In Zigarettenpausen reden auch sie über Handy-Flatrate-Angebote, Privates wird nur knapp gestreift. Die sprichwörtlichen Freunde und Helfer wirken gelassen, sind aber hellwach, weil auf Pikett: Sie würden sofort eingreifen, falls ihre im Hintergrund Personen kontrollierenden Kollegen Support bräuchten; es ist Vorsicht geboten, weil am Hauptbahnhof wieder mal eine Bombendrohung eingegangen ist.
Im narrativen Hauptstrang tauchen nun zwei Ermittler auf – korrekte, freundliche Herren. Sie sind damit befasst, Alice Türli das Handwerk zu legen. Es gilt, Telefon-Aufzeichnungen auszuwerten, die Enkelin einer betrogenen Dame, einen Banker, das Betreuungspersonal im Altenheim zu befragen. Und der Delinquentin eine Falle zu stellen.
Händel und grosse Gefühle
Auffällig ist in Cyril Schäublins bestechendem Opus auch die subtile Tongestaltung mit überwiegend Umweltgeräuschen und – sehr wohltuend – ohne penetranten, nervig emotionalen Musik-Sirup. In „Dene wos guet geit“ summt mal ein Polizist seinen Korps-Gefährten einen Song vor, doch der Namen des Interpreten ist ihm entfallen. Und in der Filmmitte nimmt man klassische Klänge wahr, sphärisch, wie durch einen Schleier gefiltert. Handelt es sich dabei um ein paar Takte aus Georg Friedrich Händels „Concerto in b flat Major Op 4 No. 6 HWV 294“, das im Abspann genannt wird?
„Dene wos guet geit“ haftet etwas klinisch Distanziertes, Kühles an. Doch Cyril Schäublin kann auch Gefühlskino. Wie etwa in einer Sequenz in einem Alterszentrum. Dort trifft sich ein bärenhafter Pfleger (berührend gespielt vom Zürcher Rapper Skor alias Daniel Bachmann) mit einer ältere Dame zur Therapiesitzung. Sie wirkt fahrig, ihr ist sichtlich unwohl. Sie soll Bilder benennen, die ihr auf dem Tablet gezeigt werden. Mal erkennt sie ein Haus, einen Balkon, eine Familie. Aber eigentlich will sie nur eines: heimgehen.
Tiefer Blick ins Herz
Doch der Pfleger nimmt seine Aufgabe ernst. Er fragt weiter, geduldig und fordernd. Als die Zeit um ist, spendet er der Patientin Lob, begleitet sie „nach Hause“: in ihr Zimmer, im Heim. Wunderbar, wie sich hier die empathische Haltung entfaltet, die dem Autor Cyril Schäublin eigen ist: Er schaut seinen Figuren tief ins Herz und in die Seele. Weil er sie liebt.
Das schafft so nur ein Kreativer, der von Neugierde angetrieben, mannigfach interessiert ist. Schäublin ist weit gereist, ist mit der Sprache der Strasse vertraut. Er hat im Spital gearbeitet, einiges erlebt und für seinen Film generell sorgfältig recherchiert. In „Dene wos guet geit“ fliessen Erfahrungen zusammen, die Schäublins freigeistige Persönlichkeit geprägt, sein stupendes Talent befruchtet haben.
Dystopie ohne Endzeitstimmung
„Dene wos guet geit“ erinnert unter anderem an George-Orwell’sche-Überwachungsvisionen. Der Film hat etwas Dystopie-haftes, doch er beschwört keine in der Zukunft verortete Endzeit-Stimmung und redet keinem plakativ-klischierten Kulturpessimismus das Wort. Schäublin bleibt in der Gegenwart und brauchte nichts dazu zu erfinden. Er hat im Jetzt verstörende Dinge aufgespürt und komprimiert, weil er sehr genau hingeschaut, zugehört hat. Das macht sein Erzählen von der virulenten Angst, im Soge einer unkontrollierbar werdenden Virtualität zu ertrinken, plausibel.
Wie im Billard
Ganz bemerkenswert, wie der ideenreiche Filmgestalter das originär, mit zuweilen fein-ironischem Humor und melancholisch-optimistischen Zwischentönen vermittelt. Formal, indem er auf hektische Schnitte und Kamera-Akrobatik verzichtet, den Zuschauer in eine verblüffende Position manövriert: Man wird zum Zaungast, der wie auf einen Billard-Tisch schaut. Dort bewegen sich die Charaktere wie Kugeln über die Spielfläche, stossen klackend aneinander, driften weg, vereinen sich über die Bande gespielt zu neuen Konstellationen. Und bleiben doch im abgezirkelten Rahmen gefangen.
Dass das so geschmeidig wirkt, ist nicht zuletzt das Verdienst der exzellenten Kamera-Arbeit von Silvan Hillman. Er zoomt nur selten ganz nahe an die Figuren heran, so, als müsste unbedingt ein Sicherheitsabstand eingehalten werden in dieser an Intimität armen „Dene wos guet geit“-Welt.
Zürich, Peking, Berlin
Cyril Schäublin wurde 1984 in Zürich geboren und wuchs in einem politischen, kulturellen, filmaffinen Milieu auf. Die Mutter ist Französisch-Dozentin und Videocoach, der Vater Architekt, der ältere Bruder studierte arabische Sprachen und Philosophie.
Nach der Maturität zog Cyril Schäublin 2004 nach China. Er studierte Mandarin und Film an der Beijing Central Drama Academy. 2006 wurde er an der renommierten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) aufgenommen, die er 2012 im Bereich Regie mit dem Diplom abschloss. In der deutschen Metropole lernte er seine Mentoren kennen, den Philippiner Lav Diaz (Goldener Löwe an den Filmfestspielen von Venedig 2016 und Goldener Leopard am Filmfestival Locarno 2014) sowie den avantgardistischen US-Dokumentarfilmer James Benning. Cyril Schäublin realisierte diverse Kurzfilme, die weltweit an Festivals aufgeführt wurden. Oder in Kunstinstituten wie dem New Yorker Museum of Modern Art (MoMA).
Unorthodoxe Filmproduktion
Sein erster Langspielfilm, „Dene wos guet geit“, erlebte seine Uraufführung am internationalen Filmfestival von Locarno 2017, für eine unorthodoxe Schweizer Produktion eher die Ausnahme: Wer keine etablierte Produktionsfirma im Rücken hat und auf das zeit- und energieraubende, hofierende Weibeln bei Fördergremien, beim Bundesamt für Kultur, beim Fernsehen verzichtet, hat es als Filmkreativer schwer.
Doch in Bezug auf seinen ersten langen Film hatte Schäublin eine klare Strategie: Er wollte unabhängig bleiben, künstlerisch wie finanziell. Deshalb gründete er die Seeland Filmproduktion und brachte „Dene wos guet geit“ in trockene Tücher. Mit tatkräftiger Unterstützung von Freunden, dank seines guten Netzwerks und eines offiziellen Budgets, das sogar für Schweizer Verhältnisse im Low-Low-Bereich liegt.
Bereicherung im Schweizer Filmschaffen
„Dene wos guet geit“ überzeugte die Programmverantwortlichen in Locarno, das Publikum, die internationale Kritik. Und die Jury, die dem Film eine lobende Erwähnung zusprach. Seitdem ist das Werk an weiteren Festivals wie Rotterdam, Bilbao, Thessaloniki oder São Paulo gezeigt worden. Verdientermassen. Cyril Schäublin ist ein ambitionierter Filmer, der übrigens mehr dem Understatement zuneigt als trendigem Lautsprechen. Zudem verfügt er über ein Traditionsbewusstsein, das auf weltoffener Universalität fusst, aber im Heimatlichen wurzelt.
Cyril Schäublin ist diskussionslos eine Bereicherung im Schweizer Filmschaffen, das sich zusehends von dogmatisch-ideologischer Verkalkung, redundanter Larmoyanz über mangelnde Unterstützung und vom kleinkarierten Futterneid emanzipiert. Und endlich mehr Selbstbewusstsein entwickelt und über die Grenzen hinaus manifestiert.
Uhren, Anarchisten und Liebe
Was kommt nun? Cyril Schäublin hat vor einigen Monaten in China ein Auftrags-Video realisiert. Und er ist – das Allerwichtigste – Vater eines Sohnes geworden. Da ist natürlich einiges zu tun, zumal auch die nächste Filmarbeit Konturen annimmt. Wieder ein Spielfilm, in dem wie in „Dene wos guet geit“ der Frage nach der Verteilung von Besitz nachgegangen wird. Die Handlung spielt im zeithistorischen Umfeld „von russischen und schweizerischen Anarchisten in jurassischen Uhrenfabriken. Jemand bastelt eine Zeitbombe. Es geht um Absinthe und Nitroglycerin. Viel Schnee und eine Liebesgeschichte“. Soviel mag der Autor bereits verraten.
Vorerst aber startet „Dene wos guet geit“ im Kino, wo exzeptionelle Filme wie Cyril Schäublins Werk hingehören. Es ist mit vielen Laiendarstellern homogen, überzeugend besetzt, erzählt eine aktuelle Story mit wohltemperierter Suspense und ist vom Rätselhaften umflort. So geht Filmmagie: Man muss nicht alles begreifen, wenn man es mit den Sinnen spürt: „Dene wos guet geit“ verdient ein sensitives, aufmerksames, grosses Publikum.
„Dene wos guet geit“ ist ab 11. Januar 2018 im Kino zu sehen.
«Dene wos guet geit»- Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=me8bkw6EHFU