Am 9. Juni stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über drei Volksinitiativen zum Gesundheitswesen ab. Bundesrat und Parlament empfehlen alle drei Initiativen zur Ablehnung. Ein Hausarzt hinterfragt die Kostenbremse-Initiative. – Ein Gastbeitrag von Emil Schalch.
Drei Gesundheits-Initiativen
Die Volksinitiative «Maximal 10 Prozent des Einkommens für die Krankenkassenprämien (Prämien-Entlastungs-Initiative)» der SP fordert eine einkommensabhängige Deckelung der Prämienkosten. Bundesrat und Parlament lehnen sie ab und haben einen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet.
Die Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» («Kostenbremse-Initiative») der Mitte-Partei soll dafür sorgen, dass die Prämienkosten nicht viel stärker steigen als die durchschnittlichen Löhne und die Gesamtwirtschaft. Auch dieser Initiative steht der indirekte Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe von Bundesrat und Parlament gegenüber.
Die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» eines den Corona-Massnahmen gegenüber kritischen Komitees verlangt ganz allgemein, dass für staatliche Eingriffe in die körperliche und geistige Unversehrtheit die Zustimmung der betroffenen Person vorliegen muss. Bundesrat und Parlament lehnen sie ab, weil das Geforderte bereits in der Verfassung als Grundrecht verankert ist.
Es ist wahr, dass in der Gesundheitsbranche aufgrund neuer Gesetze, Verordnungen, Gärtchendenkens und anderer Ursachen ein Durcheinander herrscht. Mitte-Nationalrat Gerhard Pfister, einer der Initianten der Kostenbremse-Initiative, sagt es in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» (TA) richtig: Es besteht Handlungsbedarf für den Aufbau eines Gesundheitswesens, das bessere Ergebnisse erzielt und für die ausgegebenen Mittel qualitativ hervorragende Leistungen erbringt.
Der Mitte-Chef greift im Interview meines Erachtens zwar zu gewagten Vergleichen. Doch das Schönreden – ebenfalls im TA – durch Yvonne Gilli, Präsidentin der Ärztevereinigung FMH und Befürworterin des indirekten Gegenvorschlags, hilft den Patienten genauso wenig. Das persönliche Erleben der Patienten zeigt eben, dass Gerhard Pfisters Argumente nicht an den Haaren herbeigezogen sind.
Unerwartete Praxisschliessungen
Zwei Beispiele der letzten sechs Monate aus der Region Berg im Kanton Zug, wo ich praktiziere: Eine Praxis wurde behördlich geschlossen. Selbstverständlich wurde niemand von den Behörden informiert, die Patienten standen vor verschlossenen Türen und bis heute ist nicht klar, wie sie an ihre Unterlagen kommen. Eine zweite, erst vor zwei Monaten eröffnete Praxis ging Konkurs. Patienten, die ihre Termine wahrnehmen wollen, finden aktuell am verschlossenen Praxiseingang eine entsprechende Notiz. Es ist eine Erlebniswelt, die zutiefst verunsichert, auch mich als Hausarzt!
Sicher ist es für das Gesundheitswesen wichtig, das Wachstum der Ausgaben zu senken oder mindestens zu verlangsamen. Genauso sicher ist aber, dass sinkende Gesundheitsausgaben eine Gefährdung für jede Gesundheitseinrichtung – Praxis, Spital, Heim – darstellen, weil die eingesparten Ausgaben nichts anderes als die entgangenen Einnahmen der Einrichtungen sind.
Dieser Konflikt ist der Kern des Problems, mit dem jene konfrontiert sind, die an einer echten Reform der Gesundheitsversorgung arbeiten. Nationalrat Pfister möchte mit seiner Initiative sechs Milliarden Franken einsparen. Er zitiert Studien, wonach dies von unseren Gesundheitseinrichtungen bei gleichbleibender Qualität verkraftet werden kann. Doch solches kann nur gelingen, wenn die Verantwortlichen aus Politik und Gesundheitsbranche das gesamte Gesundheitswesen endlich vom Patienten her denken und gestalten.
Der Patient weiss, was er braucht
Als Erstes müssen wir verstehen, welche Behandlungsergebnisse für die Patienten wichtig sind. Anschliessend ist zu berechnen, was es kostet, diese Ergebnisse zu erzielen. Nur so wird es möglich, ein kosteneffizientes, qualitativ hochwertiges Gesundheitswesen aufzubauen und zu betreiben. Ein Gesundheitswesen, in dem klar ist, was es braucht und was es nicht braucht, kann nicht vom Schwanz, das heisst von den Kosten her aufgezäumt werden.
Daher müssen wir wissen, was für die Patienten am wichtigsten ist, und wir Gesundheitsdienstleister und Politiker müssen aufhören, davon auszugehen, dass wir es wissen. Diese Aussage wird in der wissenschaftlichen Literatur von zig Studien belegt! Wenn ich meine Patienten frage, sprechen sie nicht von Krankenkassenprämien. Sie sagen, dass die Schmerzen sie beschäftigen.
Wichtig ist für sie auch, in der Lage zu sein, die Rollen im Leben, die sie für sich in Anspruch nehmen, spielen zu können. Ferner ist ein Gefühl des Wohlbefindens wichtig, genauso wie der wahrgenommene Gesundheitszustand. Unabhängig von der medizinischen Diagnose geht es einem Patienten nicht gut, wenn er sagt, dass er sich nicht wohl fühlt. Des Weiteren erwarten Patienten einen bequemen Zugang zur Gesundheitsversorgung und hoffen auf Gesundheitsdienstleister, die ihnen zuhören, ihnen ihre Versorgungsoptionen erklären und sich um ihr Wohlbefinden kümmern.
Gesundheitsversorgung ist Teamarbeit
Patienten erwarten auch, dass ihre Gesundheitsdienstleister als Team arbeiten. Sie gehen davon aus, dass Informationen, die einem Mitglied des Versorgungsteams zur Verfügung stehen, über die Stufen Hausarzt-Facharzt-Spital-etc. erhalten bleiben und allen Mitgliedern der Versorgungsteams zugänglich gemacht werden. Ist es zu viel verlangt, Patienten und ihre Anliegen in die Gestaltung «ihres» Gesundheitswesens einzubeziehen?
Im aktuellen Gesundheitswesen, wo Leistungserbringer und Politiker «schon wissen, was unseren Patientinnen und Patienten guttut», haben es aus dem gesunden Menschenverstand geborene und eigentlich einfache Anliegen schwer, obwohl deren Nicht-Berücksichtigung unter dem Aspekt der sich daraus ergebenden Kosteneffizienz und Patientenzufriedenheit (der Patient erhält für seinen Prämienfranken einen für ihn fassbaren und nachweisbaren Mehrwert) unverständlich ist.
Die Kosten unseres Gesundheitswesens sind nur das Eine. Mehr noch zu Besorgnis Anlass gibt, dass die für unser Gesundheitswesen verantwortlichen Leistungserbringer, Leistungsträger und Politiker «blind navigieren». Aus Patientensicht fehlen ihnen wesentliche Daten über die für die Betroffenen wichtigen Behandlungsergebnisse, die mit der Erreichung dieser Ergebnisse verbundenen Kosten und das entsprechende Sparpotential. Wo Daten bereits vorhanden sind, wissen sie nicht, wie sie diese nutzen können, um den besten Weg aus der aktuellen Systemkrise zu finden.
Fragwürdige Big-Data-Lösungen
In der Zwischenzeit verkompliziert die boomende Big-Data-Branche die Situation mit dem Versprechen, den Datenbedarf unseres Gesundheitswesens durch den Aufbau einer kostspieligen Infrastruktur (z. B. elektronisches Patientendossier) zu decken. Solche Lösungen produzieren umfangreiche Daten, welche die Organisationen des Gesundheitswesens schnell mit nutzlosem und verwirrendem Material erdrücken können, wenn die Entscheidungsträger keinen Plan haben, wie sie diese Daten in Massnahmen umsetzen können.
Genau hier ist der gesundheitspolitische Schwachpunkt sowohl der Kostenbremse-Initiative als auch des FMH-Gegenvorschlags anzusiedeln: Eine Idee, in welche Richtung sich das schweizerische Gesundheitswesen entwickeln soll, also wofür gespart werden muss oder warum das System gleichbleiben soll, scheint nirgends vorhanden zu sein!
Gesundheitsversorgung ist für alle Verantwortlichen ein schwieriges Unterfangen, weshalb es für alle mittlerweile verlockend ist, einfach abzuwarten und zu hoffen, dass «die Dinge sich wieder normalisieren». Nur: Das werden sie nicht! Die Kosten für die Gesundheitsversorgung sind für Einzelpersonen und die öffentliche Hand einfach zu hoch und zu intransparent geworden. Sie verschlingen staatliche Mittel, die sonst für Sicherheit, Infrastruktur und Bildung genutzt werden könnten.
Ein einfacher Fragenkatalog
Die Zeit drängt und die Initiativen der SP und der Mitte inklusive des Gegenvorschlags der FMH drohen eine wirkliche Reform des Gesundheitswesens nur auszubremsen. Es ist daher ein ethischer Imperativ, Schritte zu unternehmen, um das Gesundheitswesen, dem wir alle angehören, mit einem System zu versehen, welches das Wissen um den Patienten als Person mit seiner Erkrankung im Rahmen einer wirklich patientenzentrierten und integrierten Versorgung in den Vordergrund stellt. Das ist kein obskures Konzept, sondern der einzige gangbare und kosteneffiziente Ausweg aus all den Missständen heraus, die sich im Laufe der Zeit im Gesundheitswesen angesammelt haben.
Erfolg und Qualität einer Umstellung auf patientenzentrierte Versorgung könnte man anhand von drei einfachen Fragen beurteilen, die man den Patienten unmittelbar nach Kontakt mit ihrem Gesundheitsteam beispielsweise per SMS aufs Handy schickt:
- Wie sehr hat man sich bemüht, Ihnen zu helfen, Ihre gesundheitlichen Probleme zu verstehen?
- Wie sehr hat man sich bemüht, die Dinge zu ermitteln, die Ihnen in Bezug auf Ihre Gesundheitsprobleme am wichtigsten sind?
- Wie sehr wurde darauf geachtet, dass das, was Ihnen am wichtigsten ist, in die Entscheidung über das weitere Vorgehen einfliesst?
Die Grundversorgung stärken
Solche einfachen Daten in Echtzeit zur Verfügung zu haben, würde es den verantwortlichen Leistungserbringern erlauben, die getroffenen Massnahmen und die damit verbundene Qualität zu beurteilen und da, wo nötig, Korrekturen vorzunehmen. Eine Verbesserung entsteht aus gemeinsamer Einsicht in die Notwendigkeit des Wandels, einer klaren Vision und realisierbaren ersten Schritten. Solche aber sind nur möglich, wenn ausreichende Mittel vorhanden sind, die – und da führt kein Weg daran vorbei – zuerst einmal eingespart werden müssen.
Natürlich müsste mit diesen Mitteln zuerst einmal die medizinische Grundversorgung gestärkt werden. Hier sind sich erstaunlicherweise alle einig. Und daher ist es schon paradox, dass der entsprechende, vom Volk mit 88 Prozent Ja-Stimmen angenommene Verfassungsartikel 117a seit 2014 durch die Kantone nicht umgesetzt wird und alle Entscheidungsträger lediglich zuschauen. Der Artikel verpflichtet Bund und Kantone, für eine ausreichende, allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität zu sorgen. – Das Rad muss nicht neu erfunden werden.
Dr. med. Emil Schalch, der seit 1988 als Hausarzt praktiziert, ist Zentrumsleiter im Gesundheitspunkt Oberägeri (ZG). Die Gruppenpraxis respektiert und unterstützt das Konzept der ganzheitlichen Versorgung, fördert die aktive Beteiligung der Patienten und verwendet evidenzbasierte Leitlinien.