Noch vor dem ersten Ton fährt die Oper «Andrea Chénier» mit dem Bühnenbild wuchtig ein. Der stilisierte Arc de Triomphe und die darin drohend eingebaute Guillotine vor der barocken Ostfassade der Stiftskirche mit den Doppeltürmen sind ein spannungsgeladenes Versprechen. Mutig.
Kampf um Ideale
Der Mut zur Wucht wird dem 1896 an der Mailänder Scala uraufgeführten Meisterwerk von Umberto Giordano und dem Librettisten Luigi Illica gerecht. Dem Verismus verpflichtet, dreht sich «Andrea Chénier» vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und der jakobinischen Schreckensherrschaft um Brutalität und Gerechtigkeit, um Treue und Verrat, um Liebe und Hass.
Zentral ist die Frage, weshalb das Ideal der Menschenwürde die persönliche Niedertracht und gesellschaftlichen Katastrophen nicht dauerhaft zu überwinden vermag und bestenfalls als Leitstern leuchtet. Das Musiktheater in der Tiefe verstanden, bereichert die Diskussion.
Beherrschte Leidenschaft
Die St. Galler Festspiele entschieden sich für eine historisch verankerte und aktuell gebliebene Oper. Sie birgt allerdings das Risiko in sich, der zugkräftigen und zuweilen pathetischen Musik zu erliegen, die lyrischen Duette romantisch zu überhöhen und die anklagenden Gesänge verbittert zu steigern. Keine Spur davon. Der Respekt gilt Umberto Giordanos stupender Sicherheit, die musikalische Leidenschaft zwar auszuleben, aber darin nicht bis zur Peinlichkeit zu schwelgen.
Der Komponist wird vom litauischen Dirigenten Modestas Pitrenas, Konzertchef am Theater St. Gallen, brillant gewürdigt, ebenso vom Sinfonieorchester St. Gallen, vom Chor des Theaters St. Gallen, vom Opernchor St. Gallen und vom Theaterchor Winterthur.
Den herrlichen Genuss vollenden die polnische Sopranistin Ewa Vesin als Maddalena di Coigny, der venezolanische Tenor Jorge Puerta als Andrea Chénier und der russische Bariton Alexey Bodganchikov als Carlo Gérard. Auch die übrigen Rollen sind erstklassig besetzt. Das Lob wäre unvollständig ohne den Hinweis auf die höchst zufriedenstellende Tontechnik.
Packendes Finale
Bestechend ist die Leistung der griechischen Regisseurin Rodula Gaitanou. Sie schafft es, die ohne Ouvertüre mitten im Geschehen beginnende Oper mit ihren labyrinthischen Handlungssträngen klar zu strukturieren. Die vier Akte gehen fliessend – abgesehen von der Pause – ineinander über, mal mit einer einzigen Solodarbietung, mal mit sämtlichen Sängerinnen und Sängern und Statisten. Die Tempowechsel und die Farbwechsel der Kostüme gehören als dramaturgische Impulse dazu.
Das Stück wogt nicht hin und her, sondern entwickelt sich packend aufs Finale zu. Im gemeinsamen Sterben unter der Guillotine beweisen Andrea Chénier und Maddalena ihre gegen die Vergänglichkeit und die Schicksalsschläge rebellierende Liebe.
Diese wohl das Herz berührende, doch den Kitsch vermeidende Gewissheit verdankt sich auch den griechischen Ausstattern takis, die unterstützt von Lise Bondu fürs Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich zeichnen.
Das Beil fällt. Stille im Klosterhof. Dann warmer Applaus und eine Standing Ovation.
Die 18. St. Galler Festspiele mit der Oper, mit Tanz, Konzerten und einem Gottesdienst dauern bis zum 7. Juli.