Nun ist es wieder soweit: Aus ‚Andhra Pradesh‘ werden ‚Telangana‘ und ‚Seemandhra‘.
Indien hört nicht auf zu wachsen. Da sind einmal die achtzehn Millionen Menschen, mit denen das Land jährlich die Erde beschwert. Aber auch die Zahl der Bundesstaaten nimmt immer noch zu, mit immer neuen Zellteilungen. Gab es 1947 noch acht Provinzen, wurden daraus bald 11, später 24 Bundesstaaten, schliesslich 28. Und nun werden es, wenn alles gut geht, bald 29 sein.
Letzte Woche verabschiedete das Kabinett den Entwurf einer Verfassungsänderung, der aus ‚Andhra Pradesh‘ einen neuen Staat namens ‚Telangana‘ herauslösen wird. ‚Andhra Pradesh‘ wird verschwinden, weil sich Befürworter und Gegner der Scheidung nicht einigen konnten, wer den Namen erben darf. So kommt nun neben ‚Telangana‘ ein zweiter Staat mit dem schönen Taufnamen ‚Seemandhra‘ hinzu.
Gezerre um Hyderabad
Der eigentliche Streit drehte sich aber nicht um Namen. Es ging darum, wer das Kronjuwel des alten Staats erben durfte, die Hauptstadt Hyderabad. Die Sechs-Millionen-Metropole ist ein lukratives Streitobjekt, mit dem historischen Glanz einer alten Königsstadt, sowie der IT-Industriezone ‚Cyberabad‘ und ihren mehreren hunderttausend ‚Workstations‘.
Das Gezerre um Hyderabad zeigt, warum es überhaupt zur Trennung kommt. Vor sechzig Jahren zogen beide Regionen nach am gleichen Strick, als sie unter der gemeinsamen Flagge der Telugu-Sprache die riesige Provinz Madras verlassen wollten. Sie war die einende Plattform, und die Schaffung von Andhra Pradesh wurde zum Grundstein der landesweiten Reorganisation der Bundesstaaten gemäss sprachlicher Zugehörigkeit.
Wirtschaftliches Gefälle
Doch ein kultureller Schulterschluss muss auf gleich starken ökonomischen Beinen stehen, soll er Bestand haben. In Andhra wuchsen die Beine nicht gleichmässig. Hyderabad und Telangana waren das Staatsgebiet des Nizams gewesen. Sein letzter Spross war der reichste Mann der Welt, ein Feudalherrscher, der sein Land als persönliche Pfründe behandelte und es nicht in die Moderne führen mochte.
In den Küstengebieten dagegen, im Besitz der englischen Kolonialmacht, wurden Landreformen durchgeführt; genutzt wurden die Wasserwege des Godavari- und Krishnaflusses zum Ausbau grosser Bewässerungssysteme. Die Steuern flossen, aber auch die Bauern wurden wohlhabend, und viele investierten nach der Unabhängigkeit ihren Überschuss in der Hauptstadt Hyderabad. Heute ist sowohl Industrie wie Gewerbe fest in der Hand der Bauernkaste der Reddys, und dank ihrem Bildungsstand sind sie auch in Politik und Verwaltung dominant.
Das wirtschaftliche Gefälle zwischen dem alten Königreich und der fruchtbaren Küstenregion nahm zu, die anhaltende Armut im Innern von Andhra stach, in sichtbarem Kontrast zur reichen Meeresregion, ins Auge. Telangana radikalisierte sich, von kommunistischen Politikern bis zu den maoistischen Guerillas der Naxaliten. Der Kreis begann sich zu schliessen. Das (nun steuerfreie) Agrareinkommen wurde im Delta und in Hyderabad investiert statt im armen und unsicheren Hinterland von Telangana.
Schöne neue Hauptstadt am Meer
Die Folge war, dass – gemeinsame Sprache hin oder her – die Politiker im Innern sich immer mehr am Gängelband der Reddys sahen. Warum nicht einen eigenen Staat fordern, in dem wir das Sagen haben und sicherstellen, dass das Kapital im Land bleibt und zur Armutsbekämpfung eingesetzt wird? Eine eigene Regionalregierung würde dafür sorgen, dass die Hilfsgelder aus Delhi nicht in die Taschen an der Küste fliessen, sondern zu den Armen im Inneren.
Das Räderwerk der Demokratie setzte sich knirschend in Bewegung, zuerst mit Petitionen und Resolutionen, es kam zu Studentenstreiks und Demonstrationen, und dann folgten die rituellen Autodafes brennender Busse und verkohlter Regierungsgebäude. Der Zentralstaat erwachte, die Parteien nahmen die Rechenschieber zur Hand und wägten ab, wie sich Bevölkerungsverteilung und Kastenarithmetik auf die Wählerzahlen auswirken würden.
Diesen Sommer war es dann soweit: Die regierende Kongresspartei schlug sich auf die Seite der Telangana-Autonomisten, auch wenn sie ihre eigene Lokalpartei, von den Reddys beherrscht, an den Rand der Spaltung brachte. Im nächsten Jahr stehen Gesamtwahlen an, und Sonia Gandhi hofft, dass der eskomptierte Verlust der Seemandhra-Wähler ihr durch die zahlreicheren Telangana-Wähler vergolten wird. Hyderabad bleibt zehn Jahre Hauptstadt beider Staaten, dann geht es in den Besitz von Telangana über. Delhi wird Seemandhra grosszügig eine schöne neue Hauptstadt am Meer errichten.
Bundesstaaten mit 60 Millionen Einwohnern
Man mag sich wundern über die Schachzüge der Politiker, doch am Ende überwiegt die Bewunderung für die Flexibilität, mit der sich die indische Demokratie gesellschaftlichen Einstellungsänderungen stellt. Die Reibungsverluste sind hoch, aber es sind Kosten, die das Land offenbar zu tragen bereit ist – wann ist Demokratie schon einmal billig gewesen?
Und gibt es nicht auch gute Effizienzargumente zugunsten kleinerer Staaten und Verwaltungseinheiten? Bundesstaaten mit Bevölkerungsgrössen von sechzig und mehr Millionen sind nun einmal mit einer Verwaltungsarchitektur aus dem 19. Jahrhundert nur noch schlecht zu regieren. Distrikte haben mehrere Millionen Einwohner, Sub-Distrikte mehrere hunderttausend. Ich traf letztes Jahr den Verwaltungschef eines solchen ‚Block‘. An der Tafel hinter ihm war sein Pflichtenheft aufgelistet, von Schulen bis zu Impfkampagnen und dem Reinigen der Bewässerungskanäle. Es waren 129 Aufgabenbereiche.
Weitere Absonderungen
Dasselbe gilt für die Wahlkreise. Uttar Pradesh, der Bundesstaat im nördlichen Gangesbecken, zählt heute beinahe 200 Millionen Einwohner. Dies ergibt Wahlkreise von mehreren Millionen Bewohnern. Da das Provinzparlament in Lucknow nicht mehrere tausend Abgeordnete haben kann, lassen sich Wahlbezirke nicht beliebig aufteilen und vermehren. Das Resultat ist eine massive Korruption. Wie will ein Kandidat sein zahlreiches Stimmvolk noch erreichen und beeinflussen?
Uttar Pradesh ist der Bundesstaat, für den die Notwendigkeit weiterer ‚Kalberungen‘ weitherum anerkannt wird. Dessen Himalaya-Region ist bereits ein eigener Staat geworden (‚Uttaranchal‘). Nun sollen drei weitere Regionen abgesondert werden, der arme Osten bei Varanasi, das fruchtbare Einzugsgebiet der Hauptstadt Delhi im Westen, sowie die beiden ehemaligen kleinen Fürstentümer von Jhansi und Orchha.
Lieber ein Bundesstaat als ein Staatenbund
Solche einschneidenden Gebietsänderungen sind möglich, weil die demokratische Grundstimmung respektiert wird. Paradoxerweise ist dafür aber auch ein gerütteltes Mass von zentralstaatlicher Autorität nötig. Es ist der Weitsicht der ‚Verfassungsväter‘ zu verdanken, dass sie 1950 der jungen Republik nicht nur ein föderales Kleid verpassten; sie übernahmen auch das Knochengerüst der rabiaten kolonialen Verwaltungsmacht; sie sollte ein Auseinanderdriften des grossen Flächenstaats mit seiner Unzahl von Kasten, Ethnien und Religionen verhindern. Und sie tat es: Lieber viele Bundesstaaten als ein Staatenbund.
Wie lähmend demokratische Fussangeln sein können, zeigt sich dieser Tage wieder an der Grenze zu Bangladesch. 66 Jahre nach der Teilung Indiens ist diese zwischenstaatliche Trennlinie immer noch nicht bereinigt. 161 En- und Exklaven liegen in beider Territorium, manche nicht mehr als ‚Tin Bigha‘ gross – eine halbe Hektare. Nun soll das Parlament ein weiteres Mal einen ‚Land Boundary Act‘ verabschieden. Wird ihm Regierung und Landeskammer in Kalkutta zustimmen? Niemals!, ertönt von dort das Echo. Indien würde dann ja, statt zu wachsen, um 10‘000 ha schrumpfen! Und damit lassen sich keine Wahlen gewinnen.