In Europa scheinen illiberale Kräfte an Einfluss zu gewinnen. Auf globaler Ebene formieren sich Allianzen gegen den Westen. Geht das Zeitalter der liberalen Moderne seinem Ende entgegen? Oder können Menschenrechte und Demokratie neuen Zuspruch finden?
In einem Interview des «Spiegel» vom vergangenen Sonntag mit dem Radikalisierungsforscher Peter R. Neumann gibt dieser auf die Frage, ob das Zeitalter der liberalen Moderne womöglich langsam vorbeigehe, eine unmissverständliche Antwort: «Diese Entwicklung ist in Europa klar zu erkennen, verbunden mit dem Entstehen von mehr und mehr illiberalen Demokratien.»
Was Neumann für Europa feststellt, zeigt sich auf globaler Ebene noch weit stärker. Weltweit gesehen ist die Demokratie unter wachsendem Druck. Das Forschungsprojekt «Varieties of Democracy» der Universität Göteborg weist nach dem Rückgang im letzten Viertel des 20. für das 21. Jahrhundert wieder einen Vormarsch der Autokratien nach. 2022 verzeichneten 42 Länder Tendenzen in Richtung Autokratie, und nur 13 bewegten sich in Richtung Demokratie. 78 Prozent der Weltbevölkerung leben derzeit in autokratisch beherrschten Staaten – und die Entwicklung läuft in die falsche Richtung.
Auf dem jüngsten Gipfeltreffen der G20 in New Delhi verhinderte eine Allianz, die mit rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien auf Kriegsfuss steht, die Verurteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Dazu passt, dass es in zahlreichen Ländern zum guten Ton gehört, sich über den «arroganten Westen» zu beklagen und sich jegliche Kritik zu verbitten.
Die Gründe dieser Empfindlichkeit sind nicht überall die gleichen. Liegen sie im globalen Süden vor allem in der Geschichte des Kolonialismus, so sehen sich die beiden grossen geopolitischen Player China und Russland in einer antagonistischen System- und Kulturkonfrontation mit dem Westen. Das antiwestliche Element amalgamiert sich mit ganz verschiedenen Befindlichkeiten und Interessen, ist aber stark genug, um auch durchaus erstaunliche politische Allianzen zu kitten.
Europa und die USA sehen sich als Heimstätten der freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie, deren aufklärerische Wertebasis in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Uno-Charta Eingang gefunden hat. Doch dieser Glanz ist verblasst. Es ist einfach zu deutlich, dass der Westen sich immer wieder zu Unrecht als Lehrmeister der Welt in Sachen Demokratie und Menschenrechte geriert. Den Grund für seine ramponierte Glaubwürdigkeit in der Welt hat er bei sich selbst zu suchen. Wenig verwunderlich, wenn antiwestliche Strömungen leichtes Spiel haben.
Demokratie scheint ihre Leuchtkraft mehr und mehr zu verlieren. Vielen Staaten ist sie bloss ein Deckmantel, mit dem der tatsächlich praktizierte Autoritarismus notdürftig kaschiert wird – sei es, um auf diplomatischem Parkett respektabel auftreten oder in Brüssel die Förder-Milliarden der EU abkassieren zu können.
Streit um die Demokratie ist nötig. Es genügt nicht, periodisch pro forma Wahlen abzuhalten. Zu einer demokratischen Kultur gehören Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Freiheit der Meinungen und Lebensentwürfe, Verzicht auf Indoktrination, Integrität des Wahlrechts, Respektierung der Opposition. Wer solches anmahnt, braucht sich nicht der Arroganz zeihen zu lassen. Selbst gegenüber Staaten, die noch nicht mal demokratisch sein wollen – weil sie sich einer überlegenen Ideologie oder Religion verpflichten –, soll die aus Sicht der Menschenwürde und Menschenrechte unausweichliche Option der Demokratie standhaft vertreten werden.
Standhaftigkeit hat nichts zu tun mit Selbstgerechtigkeit und Arroganz. Es gehört zu einem glaubhaften Bekenntnis zur Demokratie, den eigenen politischen Zustand stets als vorläufig zu verstehen. Wer sich auf Menschenrechte und Demokratie verpflichtet, ist nie am Ziel, sondern in einem permanenten Prozess der Evaluation, Selbstkritik und Reform.
Würden die Herolde der Demokratie diese nicht so sehr als eigene Errungenschaft und dafür vermehrt als Work in Progress deklarieren und bei sich selbst entsprechend politisch handeln: Es wäre um ihre Glaubwürdigkeit vermutlich besser bestellt.