Dilma Rousseff hat es nicht auf Anhieb geschafft. Die Wunschnachfolgerin des scheidenden Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva entschied zwar die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Brasilien mit 47 Prozent der Stimmen für sich, verfehlte aber die absolute Mehrheit. Sie muss deshalb am 31. Oktober zu einer Stichwahl gegen den konservativen Sozialdemokraten José Serra antreten, der es auf 33 Prozent brachte. Die 62-jährige Ex-Kabinettschefin und Kandidatin der Arbeiterpartei schnitt an der Urne schlechter ab als in den Umfragen, in denen sie noch einen Vorsprung von 20 Prozentpunkten hatte. Rousseff besitzt aber nach wie vor beste Chancen, als erste Frau das grösste Land in Lateinamerika zu regieren. Um die Stichwahl zu gewinnen, muss sie allerdings auch einen Teil der Wähler, die am Sonntag die Grüne Marina Silva unterstützten, auf ihre Seite bringen. Die ehemalige Umweltministerin, die vor zwei Jahren aus Enttäuschung über Lulas geringes Interesse an ökologischen Fragen zurückgetreten war, erhielt überraschend 19 Prozent der Stimmen und ist damit die heimliche Siegerin des ersten Wahlgangs.
Szenenwechsel: In Ecuador war in der vergangenen Woche Staatschef Rafael Correa mehrere Stunden in der Gewalt meuternder Sicherheitskräfte, die sich gegen den Abbau finanzieller Vergünstigungen für Polizisten und Soldaten auflehnten. Einen halben Tag sah es so aus, als drohte dem politischen Quereinsteiger dasselbe Schicksal wie sechs seiner Vorgänger, die alle ihre Amtszeit nicht zu Ende bringen konnten. Doch dann befreite eine Sondereinheit des Militärs den Präsidenten in einer dramatischen Aktion und wendete damit die Gefahr neuer politischer Instabilität in Ecuador ab.
So unterschiedlich diese Ereignisse sind: Beide machen auf ihre Weise deutlich, dass die demokratischen Institutionen in Lateinamerika gefestigt sind und – wie jetzt im Fall von Ecuador - auch in politischen Krisen erstaunlichen Belastungen standhalten. Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der Militärdiktaturen hat sich die Demokratie in der Region weitgehend konsolidiert. Als demokratisch hoch entwickelt gelten bisher allerdings bloss Chile, Costa Rica und Uruguay.
Autokratische Schatten
In den übrigen Ländern lassen sich in unterschiedlichem Ausmass Tendenzen zu einer Abwertung der Institutionen erkennen: das rechtsstaatliche Fundament ist schwach, Gewaltentrennung und -kontrolle sind beeinträchtigt, Präsidenten spielen sich als Caudillos auf, die Unabhängigkeit der Justiz ist eingeschränkt. So hat beispielsweise das venezolanische Parlament dem Drängen von Staatschef Hugo Chávez nachgegeben und ihm die Möglichkeit eingeräumt, per Dekret zu regieren. Aber auch in anderen Ländern machen Staatschefs oft und gern von der Möglichkeit Gebrauch, auf Kosten Gewalt teilender Prinzipien die politische Macht zu personalisieren und zu konzentrieren. Kolumbiens konservativer Ex-Präsident Álvaro Uribe etwa beanspruchte Sondervollmachten, um die illegalen Kampfverbände, die das Land seit Jahrzehnten terrorisieren, wirksamer bekämpfen zu können. Und Correa, der seit vier Jahren Ecuadors Geschicke lenkt, glaubt nach zwei Wahlsiegen und einem Triumph in der Abstimmung über die neue Verfassung sich mehr und mehr selbstherrlich über die Anliegen weiter Bevölkerungskreise hinwegsetzen zu dürfen.
Demokratie muss man sich leisten können
Viele Lateinamerikaner haben ein zwiespältiges Verhältnis zur Demokratie, bewerten ihre Funktionsweise insgesamt kritisch. Sie trauen demokratisch gewählten Regierungen nicht zu, Armut, soziale Ungerechtigkeit und Kriminalität tatkräftig zu bekämpfen. Sie nähmen deshalb – zumindest theoretisch - einen Abbau der Demokratie in Kauf, wenn ihnen als Gegenleistung bessere materielle Lebensbedingungen garantiert würden. Ihre Unzufriedenheit mit den politischen Institutionen entlädt sich immer häufiger in Massenprotesten. Seit 1993 musste mehr als ein Dutzend Präsidenten unter dem Druck der Strasse vorzeitig zurücktreten. Das etablierte Parteiensystem geriet mehr und mehr in Misskredit, weil viele ihrer Repräsentanten die Institutionen verachteten und missbrauchten. In ihrer Enttäuschung über die Arroganz der Mächtigen wandten sich immer mehr Wähler Sammelbewegungen zu, die durch ethnische Identitäten, eine charismatische Führungspersönlichkeit oder neopopulistische Vorstellungen zusammengehalten werden.
Die Zeit der Generäle ist vorbei
So Besorgnis erregend das geringe Vertrauen eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen ist: Von einer akuten Bedrohung der Demokratie auf dem Subkontinent kann nicht die Rede sein. Es gibt zurzeit keine mehrheitsfähige Systemalternative zur Demokratie, ein Regimewechsel zu autoritären Herrschaftsformen ist wenig wahrscheinlich. Die Streitkräfte sind zwar in den meisten Ländern ein Machtfaktor geblieben, aber sie mussten überall einen Bedeutungsverlust hinnehmen. Das Risiko, dass sie in einem Konflikt intervenieren, ist deutlich zurückgegangen. Die Gründe für den Ende der siebziger Jahre einsetzenden Niedergang der Diktaturen und die (Re-)Demokratisierung der Region waren keineswegs einheitlich. In allen Fällen galt jedoch, dass die autoritären Regime schliesslich nur noch auf eine schwache gesellschaftliche Unterstützung zählen konnten. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert: Auch wenn die Leistungen der demokratisch gewählten Regierungen zu wünschen übrig lassen, dürften die wenigsten Lateinamerikaner an einer Rückkehr der Generäle interessiert sein.
Grösser ist das Risiko, dass populistische Politiker mit einem ambivalenten Demokratieverständnis an die Macht gewählt werden. Politiker, die komplexe Themen auf unzulässige Weise vereinfachen, an negative Gefühle appellieren anstatt an demokratische Werte und einen selbstherrlichen Umgang mit den Institutionen der repräsentativen Demokratie pflegen. Die Populisten, ganz egal ob linker oder rechter Prägung, vermögen im Volk kurzfristig Hoffnungen zu wecken, nachhaltige Entwicklungen sind von ihnen jedoch kaum zu erwarten. Als Baumeister einer gefestigten Demokratie in Lateinamerika empfehlen sich Akteure, die einerseits bürgerlich-politische Rechte stärken und anderseits zielstrebig soziale Reformen vorantreiben. Im Augenblick entspricht Brasiliens scheidender Staatschef Lula diesem Profil wohl am besten. Auch er hat zwar bei weitem nicht alle Erwartungen seiner Wähler erfüllt, auch seine Regierung war nicht gefeit vor Korruption und Vetternwirtschaft. Aber er hat sich redlich bemüht, in Brasilien eine nicht nur ökonomisch leistungsfähige, sondern auch sozialverträgliche Wirtschaftsordnung zu fördern. Und damit auch die Demokratie zu stärken.