Wie oft stossen die bestgemeinten Ratschläge auf taube Ohren, und es bleibt das bittere Gefühl zurück, man habe „Perlen vor die Säue geworfen“, obwohl man bis dahin „ein Herz und eine Seele“ war. Vielleicht sollte man dann „die Zähne zusammenbeissen“, statt seinen Ärger darüber „hinauszuposaunen“, dass die freundlichen Empfehlungen dem Gesprächspartner „ein Buch mit sieben Siegeln“ waren.
Man kennt alle diese Ausdrücke, und „Krethi und Plethi“ gebrauchen sie gewiss dutzendfach jeden Tag. Man führt sie im Munde, weil vor allem Redewendungen und Sprachbilder wunderbar passen, um bestimmte Tatbestände zu untermauern oder Charakteristika zu beschreiben. Zum Beispiel: Diese oder jene Behauptung sei doch absolut fragwürdig und deshalb erkennbar „auf Sand gebaut“. Oder: Der da so fromm tut, das ist in Wirklichkeit „ein Wolf im Schafspelz“.
Würzige Sprachkraft
Was wäre das für eine trockene, seelenlose Sprache, gäbe es nicht diese farbenfrohen Bilder! Man müsste ja „mit Blindheit geschlagen sein“, würde geradezu sein „Licht unter den Scheffel stellen“, um nicht zu sagen „aus seinem Herzen eine Mördergrube machen“, griffe man nicht „mit Feuereifer“ in das Füllhorn solch würziger Sprachkraft.
In diesem Jahr gedenken (nicht nur, aber vor allem) die Protestanten des Beginns der Reformation, die allgemein auf das Jahr 1517 datiert wird. Genauer: Auf den 31. Oktober vor 500 Jahren, den Tag, an dem der Augustinermönch Martin Luther seine berühmten 95 Thesen angeblich an der Tür der Schlosskirche von Wittenberg befestigt haben soll – „mit Hammerschlägen, die durch ganz Europa hallten“.
Die moderne Forschung verweist diese über Jahrhunderte gepflegte Version freilich mittlerweile in den Bereich der Legende und ist überzeugt, dass Luther das in Thesen geflossene Ergebnis seines zornigen Nachdenkens über das Papsttum und den Zustand der damaligen Kirche in Wirklichkeit seinen theologischen Vorgesetzten und seinem Landesherrn zukommen liess, dem sächsischen Kurfürsten Friedrich. Das soll allerdings nicht Gegenstand dieser Betrachtung sein; ebenso wenig die dramatischen Nachwirkungen der Reformation für die politischen Ereignisse der folgenden Zeiten. Vielmehr geht es hier um den prägenden Einfluss Luthers auf die deutsche Sprache.
Grobian und scharfzüngiger Disputant
Die oben zitierten, heute zu jedermanns Sprachschatz gehörenden Begriffe, Redewendungen und Ausdrucksarten haben sich ja keineswegs im Verlauf der Jahrhunderte in die Alltagsdiskurse geschmuggelt – sind also nicht quasi aus dem Nichts heraus gekommen. Vielmehr gehen sie „samt und sonders“ auf Martin Luther zurück.
Der Mann aus Wittenberg hat offensichtlich viele Eigenschaften in sich vereinigt. Zeitgenossen schildern ihn als Choleriker und Grobian, aber auch als spitzfindigen Disputanten. Vor allem aber muss er ein wahrer Sprachtitan gewesen sein. Was für ein armseliges Idiom wäre das Deutsche wohl ohne solch inhaltsschwere Ausdrücke wie Lückenbüsser, wetterwendisch, Machtwort, Feuereifer, Langmut, Lästermaul und Morgenland?
Gewiss, nicht alles, was Luther zugeschrieben wird, ist durch Weggenossen oder Aufzeichnungen zweifelsfrei belegt. Aber zu ihm als Autor passen würde es schon. Wie zum Beispiel: „Warum furzet und rülpset Ihr nicht? Hat es Euch nicht geschmacket?“ Oder auch „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz.“ – Könnte Duckmäusertum, Kleinmut oder Ängstlichkeit kürzer und trefflicher beschrieben werden?
Martin Luthers bahnbrechende Leistung war nicht die Übersetzung der Bibel als solche. Übertragungen des Alten wie des Neuen Testaments hat es schon vor ihm gegeben. Doch sie alle hatten die bereits tausend Jahre alte, aus der griechischen Urfassung oft ungenau ins Lateinische (die so genannte Vulgata) übertragene Form zur Grundlage. Zudem mochten mit der gestelzten Sprachform zwar der Klerus und die Gelehrten klarkommen, das gemeine Volk jedoch verstand den Inhalt nicht – was vermutlich durchaus auch so gewollt war.
In nur elf Wochen übersetzt
Ganz anders Luther. Der aufsässige Augustinermönch war nach dem couragierten Auftritt („Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir.“) zur Verteidigung seiner Thesen vor dem in Worms tagenden Reichstag am 4.Mai 1521 zum eigenen Schutz von den Truppen des sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise „entführt“ und als „Junker Jörg“ auf die Wartburg bei Eisenach verbracht worden.
Hier machte sich der 38-jährige Theologieprofessor aus Wittenberg an die Übersetzung der Bibel ins Deutsche, zunächst des Neuen Testaments. Natürlich nicht allein, sondern mit Hilfe von Freunden. Darunter der des Philosophen Philipp Melanchthon. Dennoch ist aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehen, wie Luther das mehr als zweihundert Seiten umfassende Werk in nur elf Wochen bewältigen konnte.
Das schriftliche Deutsch geformt
Um die volle Bedeutung dieser Leistung würdigen zu können, muss man sich in die sprachkulturelle Realität Deutschlands im ausgehenden Mittelalter versetzen. Der fragliche geografische Raum war heillos in kleine und kleinste Sprachparzellen zersplittert. Eine auch nur halbwegs einheitliche Verständigung gab es nicht, dafür existierten ungefähr zwanzig verschiedene Sprachen und Dialekte.
Noch krasser waren die Unterschiede im Schriftdeutsch. Luthers Meisterstück bestand deshalb darin, eine Form gefunden zu haben, die stil- und sprachbildend für Jahrhunderte und daher die Grundlage für eine einheitliche deutsche Sprache war. Anders gesagt: Luther hat das Deutsch zwar nicht erfunden. Er hat es aber wohl entscheidend geformt und mitgeprägt, indem er allen Menschen zwischen der Nordseeküste und (auch die Grenzen überschreitend) den Alpen verständlich das Wort Gottes vermittelte.
Gehoben und trotzdem volkstümlich
Hierfür suchte und fand Luther Wörter, grammatikalische Formulierungen und Schreibweisen mit einer – möglichst schon vorhandenen – Verbreitung und Verständlichkeit. Wobei auffallend ist, dass der ansonsten, zum Beispiel in seinen Schmähschriften und überlieferten Tischreden dem Grobianismus und der Fäkalsprache durchaus zugewandte Wittenberger in seiner Bibelübersetzung fast vollständig darauf verzichtet. Der Kölner Sprachforscher Hartmut Günther nennt Luthers Bibeldeutsch vielmehr „gehoben“.
Aber der Reformator wollte seine Sprachgewalt trotzdem so volkstümlich, lebensnah und bildhaft wie möglich bei den Menschen ankommen lassen. Darum kleidete er seine Gedanken in eigenwillige Ausdrücke, schuf poetische Bilder und erfand – oft erst nach tagelangem Grübeln – neue Wortspiele. Er selbst formulierte sein Anliegen so: „Man muss die Mutter im Haus, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen; so verstehen die es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“
Tischreden und Lebensweisheiten
Dass der Doktor Martinus Luther ein Freund der deutlichen Sprache war, ist durch viele Beispiele belegt. Wobei freilich zu bedenken ist, dass die Ausdrucksweise des Mittelalters durchaus „körperlich“ war und nicht wenige Begriffe eine andere Bedeutung hatten als heute. So war etwa „Maul“ in allen sozialen Schichten nichts anderes als das heute gängige „Mund“.
Wahre Fundgruben der Lutherschen Sprachgewalt sind die überlieferten Tischreden. Es muss munter zugegangen sein, wenn sich im Haus des Reformators nicht nur die Familie um den in aller Regel üppig gedeckten Tisch versammelte, sondern sich auch Verwandte, Studenten oder Freunde dazu gesellten. Offensichtlich wurde kein Thema ausgelassen. Vom Sommer 1531 an hat der Zwickauer Pfarrer Konrad Cordatus während der Mahlzeiten mitgeschrieben. Andere Gäste folgten bald seinem Beispiel und wurden vom Tischherrn durchaus darin bestärkt, seine Ausführungen möglichst wörtlich der Nachwelt zu überliefern.
Dadurch sind wir heute im Besitz nicht nur des theologischen Gedankenguts Luthers, sondern auch zahlreicher nützlicher Lebensweisheiten. Zum Beispiel: „Wer kein Geld hat, dem hilft nicht, dass er fromm ist.“ Dieser Erkenntnis wird wohl kaum jemand widersprechen. Das gilt in gleicher Weise für den auf vielen Trinkbechern prangenden Spruch: „Wer nicht liebt Wein, Weiber und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang.“ Selbst stressgeplagte Stadtoberhäupter unserer Tage könnten bei Martin Luther Trost finden: „Wenn der Bürgermeister seine Pflicht tut, werden kaum vier da sein, die ihn mögen.“ Wohl gemerkt, diese Einsicht ist schon ein halbes Jahrtausend alt.
Sprachwandel heute
Wir erleben in dieser Zeit der Smartphones und Tablets wieder eine Revolutionierung unserer Ausdrucksweisen. Während Martin Luther die Sprache als wichtigste Kulturträgerin des Volkes mit blumigen Wortschöpfungen, kraftvollen Bildern und ausdrucksvollen Metaphern bereicherte, müssen sich bei der momentanen Tendenz zur Minimalisierung und Banalisierung von Wortschatz, Grammatik und Verständigungsklarheit der linguistische Fortschritt und die verbale Nachhaltigkeit erst noch erweisen.
Aus Erfahrung und Überzeugung jedenfalls erscheint Luthers Ratschlag „Tritt frisch auf! Tu´s Maul auf! Hör bald auf!“ bedenkenswert. Die Probe auf Beständigkeit der Smartphone-Ausdrücke hingegen muss erst noch bestanden werden. Fürs erste jedenfalls findet der vielleicht altmodische Autor Luthers „Auf fremdem Arsch ist gut durchs Feuer reiten“ (sagt man, wenn jemand auf anderer Leute Kosten Vorteile zu erlangen sucht) lustiger als ROFL – obwohl das Kürzel für „Rolling on the floor laughing“ steht; also für „kugelt sich vor Lachen“.