So wie es den Anschein macht, geht es nicht um die Explosion einer dritten Atombombe, obwohl noch vor kurzem die offizielle Nachrichtenagentur in der gewohnt blumig-scharfen Propagandasprache verlauten liess: „Unsere nukleare Abschreckung wird über die Vorstellungskraft der USA hinaus modernisiert und erweitert.“ Doch dieses Mal geht es, Abschreckung hin Vorstellungskraft her, wohl um etwas anderes. Um Wirtschaft nämlich, im besten Fall um Reform. Die Oberste Volksversammlung ist einberufen worden. Ausser Termin.
Gesicherte Antworten für den Einsiedlerstaat in Ostasien, wir wissen es seit Langem, gibt es nicht. Dennoch, Hinweise darauf, was hinter dem letzten Eisernen Vorhang des längst entschwundenen Kalten Krieges vor sich geht, gibt es. Zur Freude der Fernseh-News-Produzenten profiliert sich seit neun Monaten, seit dem Tod seines Vaters, dem „Geliebten Führer“ Kim Jong-il, der „Junge General“ offen, locker, freundlich. Wieviel Macht der 29- oder 30-Jährige tatsächlich hat, ist ungewiss. Nach einer Säuberung scheint Kim Kyong-hui, Schwester von Kim Jong-il, und deren Mann, Vize-Marschall Chang Song-taek, sowie Vize-Marschall Choe Ryong-hae die „Macht hinter dem Vorhang“ zu sein.
So mächtig wie sein Vater - auf dem Papier
Was wenigen der Nordkorea-Deuter aufgefallen ist, ist der diskrete aber unaufhaltsame Aufstieg des 60 Jahre alten Vizemarschall Choe. Bereits am 15. April – dem 100. Geburtstag von Staatengründer, Halbgott und Grossvater des jüngsten Kim, Kim Il-sung – sass bei den Feierlichkeiten nicht der Abgehalfterte Ri neben Kim Jong-un, sondern eben Choe.
Er ist Mitglied im Präsidium des Politbüros und einer von zwei Vize-Vorsitzenden der Militärkommission. Zudem versteht er sich, so ist in Pjöngjian zu hören, sehr gut mit Vize-Marschall Zhang aus dem innersten Kreis um den jungen Machthaber Kim. Der ist jetzt so mächtig wie sein Vater zuvor. Auf dem Papier wenigstens. Er ist der „Grosse Führer“, Vorsitzender der Koreanischen Arbeiterpartei, Oberkommandierender der Armee, Vorsitzender der Militärkommission der Partei, Vorsitzender der staatlichen Militärkommission. Und jetzt ist der „Junge General“ und „Grosse Nachfolger“ auch noch Marschall.
Neuer Stil im drögen Propaganda-Umfeld
Weiter nach oben geht es nicht mehr. Zu Lebzeiten jedenfalls. Erst nach dem Tod sind weitere Hierarchie-Stufen möglich. Kim Jong-uns 1994 verstorbener Grossvater Kim Il-sung wurde zum „Präsidenten in alle Ewigkeit“ sowie zum „Gross-Marschall“ ernannt und der im Dezember verstorbene Vater Kim Jong-il erlangte den Titel eines „Generalissimo“.
Der junge Kim Jong-un, jahrelang incognito auch in der Schweiz im bernischen Liebefeld eingeschult, bringt im Vergleich zu seinem stets ernsten und schweigsamen Vater Kim Jong-il einen neuen Stil ins dröge Propaganda-Umfeld Nordkoreas. Durchaus möglich, dass der junge Mann dabei ganz persönlich seine Hand im Spiel hat.
Mickey Mouse und Frank Sinatra
Bereits zwei Mal wandte er sich in Reden ans Volk, etwas, was sein Vater nie getan hätte. Auch er besucht natürlich Fabriken, Kolchosen, Schulen, Spitäler, Kindergärten und Kasernen. Doch ungleich seinem Vater gibt er sich locker, lacht zuweilen, herzt da ein Baby und umarmt dort einen Arbeiter oder eine Arbeiterin. Auch er erteilt Lektionen, greift aber hin und wieder selbst zu und scheut sich auch nicht, Arbeiter zu massregeln, weil sie nicht genügend dem „Volke dienen“.
Am Fernsehen war Kim junior neulich an einem Fest mit 20'000 Kindern zu sehen. Mickey Mouse, Minnie Mouse, Schneewittchen, Dumbo und andere Disney-Figuren traten auf, aus den überdimensionalen Lautsprechern blärrte Rock-Music und Frank Sinatra, Töne des Klassenfeindes also. Die Moranbong Band spielte nordkoreanischen Rock, eine Fromation, die vom jungen Kim persönlich mitbegründet worden sein soll. Eine junge, hübsche in Schwarz gekleidete Frau stand lächelnd neben ihm. Bald stellte sich heraus, dass es seine Frau war.
Form, nicht Inhalt
Assortierte Pundits, Kommentatoren und Diplomenten in Nordkorea begannen vorsichtig von Reformen zu raunen. Ausser Absichtserklärungen, Verträge, Gespräche zwischen hochrangigen Vertretern aus China und Nordkorea über zwei Sonderwirtschaftszonen ist noch nichts Handfestes beizubringen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Das Auftreten des „Jungen Generals“ ist gewiss Anlass für eine gewisse Zuversicht, nicht zuletzt deshalb, weil die nordkoreanische Wirtschaft sich in einem desolaten Zustand befindet und doch so viele Vorteile hätte: reichliche und zum Teil seltene Bodenschätze und gut ausgebildete Arbeiterinnen und Arbeiter. Doch Kims Auftritte sind – vorerst – Form und nicht Inhalt.
Es ist wie ein Déja-vu. Als Gründervater Kim Il-sung 1994 starb, wurden grosse Hoffnungen auf Sohn Kim Jong-il gesetzt. Ausländische Experten, Kommentatoren und Diplomaten prognostizierten Öffnung und Wirtschaftswachstum. Was kam, war die grosse Hungersnot in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, verursacht durch eine seit Jahrzehnten verfehlte Agrarpolitik. Nordkoreanische Schulkinder lernen noch heute, dass die damalige Katastrophe ausschliesslich der Unbill der Natur zuzuschreiben sei.
Weniger abgeschottet als früher
Immerhin besuchte Kim die Volksrepublik China, den letzten Verbündeten Nordkoreas insgesamt acht Mal. In der offiziellen Nachrichtenagentur wurde er mit den Worten zitiert: “Eine Gelegenheit, Chinas Entwicklung zu verstehen und dieses Wissen in Nordkorea anzuwenden.“ Es wurden Mini-Reformen durchgeführt und wieder zurückgenommen. Die geplanten Sonderwirtschaftszonen waren kommerziell ein Desaster. Einzig mit Südkorea kam es zu einem vorübergehenden Honigmond. Südkoreas Präsident Kim Dae-jung versuchte mit seiner „Sonnenscheinpolitik“ den Frieden zu sichern. Mit 500 Millionen Dollar erkaufte er sich ein Gipfeltreffen in Pjöngjang mit dem nördlichen Kim. Effektive Wirtschaftsreformen blieben aus, und das nordkoreanische Atomprogramm wurde trotz der durch China in Peking veranstalteten Sechser-Gespräche (China, USA, Russland, Japan, Nord- und Südkorea) zügig weitergetrieben mit Zündung von A-Bomben in den Jahren 2006 und 2009.
Nordkorea ist zwar nach wie vor ziemlich isoliert und hängt am Tropf internationaler Nahrungshilfe. Doch der Einsiedlerstaat ist nicht mehr so abgeschottet wie früher. Es gibt unterdessen – dank ägyptischer Initiative – ein Mobil-Telephon-Netz mit über einer Million Nutzern (Bevölkerung: 24 Millionen) sowie ein Intranet für die privilegierten oberen Hunderttausend. Zehntausende von Nordkoreaner und Nordkoreanrinnen arbeiten zudem im Ausland, in Russland und China zumal, aber auch in Fabriken in der Mongolei, in Kambodscha oder Vietnam. Mit andern Worten, Informationen träufeln ins Land, und die nordkoreanische Propaganda kann den Genossinnen und Genossen nicht mehr wie noch vor einigen Jahren weismachen, dass Südkorea ein bitterarmes Land sei.
Wirtschaftsreformen à la China?
Mit einer gewissen Spannung können die Resultate der Obersten Volksversammlung in Pjöngjang erwartet werden. Ob die Militärs, die mit einer der grössten Armeen der Welt den Löwenanteil an Budget und Nahrung beanspruchen, den dringend notwendigen Wirtschaftsreformen zustimmen werden, ist ungewiss. Die Atombewaffnung steht freilich nicht zur Disposition. Sie nämlich ist Versicherung und Trumpfkarte für Nordkorea zugleich. Die grosse Frage für Kim Jong-un und die nordkoreanische Führung jedoch bleibt: Wie weit kann man wirtschaftliche Reformen treiben, ohne die politische Macht zu verlieren?
Die Abgeordneten der Obersten Volksversammlung gehören zu den Privilegierten. Sie sind meist gebildet und wissen sehr wohl, was ausserhalb, vor allem aber innerhalb von Nordkorea vor sich geht. Auf das Resultat darf man gespannt sein, so gespannt wie auf den Parteikongress im Nachbarland China. Denn dort haben es die Mächtigen bislang über dreissig Jahre lang geschafft, die Wirtschaft zum Wohl des Volkes zu entwickeln und gleichzeitig die Privilegien der oberen Hunderttausend sowie den Alleinvertretungsanspruch der Kommunistischen Partei zu bewahren. Dem jungen Marschall Kim Jong-un müsste das doch eigentlich einleuchten.....