Die libysche Einheitsregierung, die von der Uno gefördert wird, kämpft in der Stadt Sirte gegen den IS. Doch in der östlichen Hälfte des Landes herrscht und kämpft weiterhin die sogenannte „Nationale Libysche Armee“ unter General Haftar.
Rücktritte
Am ersten Juli gaben vier Minister der von der Uno unterstützten Einheitsregierung Libyens ihren Rücktritt bekannt. Es waren die Minister für Finanzen, Justiz, Nationale Versöhnung und Wirtschaft und Industrie. Ihre Namen sind: Fakhri Muftah Bouferma, Jumaa al-Dersi, Abdel Jawadd al-Abadi und Abdel Matloub Bouferma.
Die Gründe ihres Rücktrittes wurden nicht genannt. Doch handelt es sich bei allen vieren um Personen, die aus der Cyrenaika stammen und dort auch ihre Klientelen und lokalen Verbindungen aufweisen.
Einheitsregierung ohne Zustimmung aus der Cyrenaika
Die Einheitsregierung tagt in Tripolis. Es ist ihr aber noch immer nicht gelungen, die Zustimmung zu ihrer Bildung von seiten der beiden rivalisierenden Parlamente zu erlangen, die sie zur einzigen in Libyen anerkannten Regierung machen würde. Das Parlament in Tripolis und die dazu gehörige Regierung haben sich in mehrere Gruppen aufgelöst und können als überholt abgetan werden, zumal beide Instanzen nie international anerkannt worden sind.
Doch das Parlament in Tobruk und seine Regierung, die vor der Bildung der Einheitsregierung als die international anerkannte Regierung des Landes auftreten konnten, bestehen weiter. Ein vollgültiger Beschluss dieses Parlamentes, durch den die Einheitsregierung anerkannt würde, liegt immer noch nicht vor.
Der Krieg Haftars in der Cyrenaika
Die Armee von Tobruk unter General Khalifa Haftar führt Krieg gegen die radikalen Islamisten der Cyrenaika in der Stadt Derna und in Bengasi. Es scheint, dass die Tobruk-Regierung in diesem Krieg weiterhin Unterstützung von Geheimdienst-Spezialtruppen aus Frankreich, Italien, Jordanien und Grossbritannien erhält. Dies ist nicht offiziell bekannt gegeben worden. Die Zeitung Le Monde erhielt sogar eine Busse, als sie darüber schrieb. Doch es gibt so zahlreiche Indiskretionen und Hinweise auf diese Präsenz, dass man kaum an ihr zweifeln kann.
Diese Indiskretionen, die von den Regierungen nicht bestätigt werden, weil es sich um Aktivitäten ihrer geheimdienstlichen Sondertruppen handelt, besagen, es gebe einen Operationsraum beim Flughafen von Bennina (dem Flughafen, der Bengasi bedient). Dort arbeiteten britische, jordanische, französische und amerikanische Fluglotsen und Piloten zusammen, um Aufklärungsflüge und möglicherweise auch Kampfeinsätze zu beaufsichtigen und zu lenken. Nur wenige Offiziere der Haftar-Armee hätten Zugang zu diesem Operationsraum.
Diplomatie gegen Geheimdienste
Gleichzeitig haben die Franzosen und Engländer zusammen mit anderen Staaten der Uno die Einheitsregierung GNA („Government of National Accord“) als die einzige Libyens anerkannt – oder genauer: erklärt, sie würden sie anerkennen, sobald das Parlament von Tobruk seine Zustimmung zu ihr gegeben habe.
Das Haupthindernis dabei ist jedoch nicht das Parlament von Tobruk, sondern vielmehr die Person des Generals Khalifa Haftar. Haftar befehligt die Überbleibsel der „Nationalen Libysche Armee“. Diese ist zusammengesetzt aus den Resten der Truppen, die sich 2011 in Bengasi gegen Ghadhafi erhoben hatten und anderen Kampfgruppen, die sich seither mit ihr verbanden.
Haftar hat diese Armee gegen alle islamistischen Kräfte mobilisiert, sowohl gegen die eher gemässigten, die den Muslim-Brüdern nahestehen, wie auch gegen die Radikalen des IS und verwandter Gruppierungen, die gewillt sind, für einen Islamischen Staat, so wie sie ihn bestimmen, mit Waffengewalt zu kämpfen. Diese Haltung macht Haftar zum natürlichen Verbündeten von Präsident al-Sisi in Ägypten und der VAE. Beide haben ihm beigestanden, als vor der Gründung der Einheitsregierung Tripolis und Tobruk gegeneinander kämpften.
Die Macht der Waffenträger
Die Gesamtlage in Libyen ist dadurch gekennzeichnet, dass es in Wirklichkeit nicht die Parlamente und Regierungen sind, welche die Milizen kommandieren, sondern umgekehrt: Die Bewaffneten dominieren die zivilen Institutionen. Dies gilt auch für General Haftar. Wenn das Parlament von Tobruk sich weigert, die Einheitsregierung anzuerkennen, geht dies ohne Zweifel eher auf den Willen Haftars zurück als auf den Willen der gewählten Abgeordneten des Parlamentes von Tobruk.
Auch dem Uno-Vermittler für Libyen, Martin Kobler, ist klar, dass er nicht nur die Mitglieder der beiden Parlamente zur Zustimmung zu der Einheitsregierung bewegen muss, sondern auch und vor allem die bewaffneten Gruppen. Er hat am vergangenen Sonntag in Tunis eine Zusammenkunft der Spitzen der Einheitsregierung mit libyschen „Sicherheitskräften" organisiert. Unter dieser diplomatischen Bezeichnung sind die Banden von Bewaffneten zu verstehen, die sich gerne als „Sicherheitskräfte" der zivilen Regierungen ausgeben, jedoch in Wirklichkeit dafür sorgen, dass diese Regierungen das tun, was ihre „Sicherheitskräfte“ wollen.
Wer genau die nach Tunis eingeladenen Bandenchefs waren, sagte Kobler nicht. Doch am Ende des ersten Tages der Zusammenkunft machte er klar, dass Haftar sich nicht unter ihnen befand. Kobler erklärte, er würde gerne mit Haftar ins Gespräch kommen. Jede Woche versuche er, ihn zu besuchen, doch Haftar lehne es regelmässig ab.
Waffenembargo und Bewaffnung für wen?
Neben dem Thema der Unterstützung durch Spezialtruppen und der Frage, welcher Seite im libyschen Machtringen diese zukommen soll, gibt es auch das Problem des Waffenembargos. Ein Waffenembargo wurde vom Sicherheitsrat beschlossen, als 2011 der Nato-Angriff gegen Ghaddafi zu Gunsten der damaligen Rebellen begann. Dieses Embargo ist noch in Kraft. Doch die europäischen Staaten haben versprochen, sie würden sich um die Aufhebung des Embargos bemühen, sobald die Einheitsregierung eingesetzt sei.
Gleichzeitig gibt es jedoch die geheimdienstliche Unterstützung der Armee Haftars in der Cyrenaika durch die gleichen Staaten, und Haftar drängt darauf, dass das Waffenembargo zu seinen Gunsten aufgehoben wird.
Haftar kämpft gegen alle Islamisten
Haftars Armee kämpft in Bengasi gegen die verbliebenen islamistischen Kämpfer, die ihrerseits teilweise mit dem IS verbunden sind, aber teilweise auch als Rivalen des IS agieren. In der Hafenstadt Derna, zwischen Bengasi und Tobruk gelegen, herrscht eine islamistische Kampfgruppe, die sich „Schari'a Rat der Mujahidin von Derna“ nennt. Sie hat den IS, der dort einzudringen versuchte, im Juli 2015 aus Derna vertrieben.
Doch für Haftar ist auch diese Gruppe ein Feind, denn es handelt sich um islamistische Jihadisten. Seine Armee belagert Derna mehr oder weniger intensiv. Sie kämpft auch immer noch gegen Reste der islamistischen Kampfgruppen von Bengasi, die diese Stadt lange Zeit hindurch mit der Unterstützung, die aus Tripolitanien kam, gehalten hatten.
Es soll eine Abmachung zwischen den Offizieren Haftars und den Kampfgruppen geben, die gegenwärtig zu Gunsten der GNA gegen den IS in Sirte kämpfen. Sie besage, dass beide Seiten, die Armee Haftars und die Parteigänger der GNA, gemeinsam gegen den IS kämpfen wollen. Die Stadt Sirte jedoch liegt auf der westlichen Seite der Trennungslinie, die gegenwärtig zwischen dem Einflussgebiet Haftars (und der Tobruk- Regierung) und jenem der GNA verläuft. Diese Linie erstreckt sich zur Zeit von Ras Lanouf geradeaus nach Süden.
Verlustreiche Kämpfe um Sirte
Sirte wird gegenwärtig von Kampfgruppen umzingelt, die zur Einheitsregierung halten. Der Plan des Chefs dieser Regierung war, dass der Kampf gegen den IS in Sirte gewissermassen der Schmelztigel werden solle, in dem die unterschiedlichen Kampfgruppen oder bewaffneten Banden Libyens sich durch eine gemeinsame Aufgabe zu einer gemeinsamen Streitkraft zusammenfinden sollten. Doch der Krieg gegen Sirte kommt nur langsam voran. Die Umzingelung soll schon am 12 Juni vollständig gewesen sein.
Doch der IS wehrt sich mit Gegenangriffen durch fahrende Selbstmordbomben, und in der Stadt hat er überall Scharfschützen auf den Dächern und Dachterassen postiert. Es sind Kampfeinheiten aus Misrata, die zur Einheitsregierung halten und gegenwärtig in Sirte gegen den IS kämpfen.
Haftar führt seinen eigenen Krieg in der Cyrenaika. Nicht alle Kampfgruppen Tripolitaniens haben sich dem Feldzug gegen Sirte angeschlossen, der im Namen der Einheitsregierung vor sich geht. Manche stehen offenbar weiterhin zur Seite.
Zäher Widerstand durch den IS
Die Kämpfer gegen den IS haben versucht, den Hafen der Stadt zu besetzen, doch es ist unklar, wie weit ihnen dieses gelungen ist. Ihre Sprecher räumten ein, dass sie sich vorübergehend wegen der zahlreichen IS-Scharfschützen auf den hohen Gebäuden wieder aus dem Hafen zurückziehen mussten. Der IS konzentriert sich darauf, den Hafen und Teile der Innenstadt zu halten.
Der umkämpfte Innenstadtbereich ist ein ausgedehntes Gebiet, beinahe so gross, wie es der Sitz der Ghadhafi-Familie in Tripolis war. Es gibt dort zahlreiche Gebäude, die mit unterirdischen Gängen untereinander verbunden sind, das Ganze hinter hohen Umfassungsmauern. Der IS soll dort Munition und Nahrungsmittel eingelagert haben.
Bisher hielt dieser Teil den Angriffen der Misrata-Milizen stand. Heftige Kämpfe wurden gemeldet. Ärzte sprachen von zahlreichen Verwundeten und Toten unter den Angreifern. Diese beklagen sich, dass sie nur sehr spärlich bewaffnet seien. Die wenigsten von ihnen haben Helme, manchen fehlen die Stiefel, und sie kämpfen in Flipflop-Sandalen. Der Nachschub an Munition sei ungewiss, und schwere Geschütze fehlten. Panzer gebe es keine. Unter diesen Umständen ist natürlich die Frage des – immer noch bestehenden – Waffenembargos zentral.
Wer erhält neue Waffen?
Die Problematik der Waffenfrage ist die folgende: Unter Ghadhafi gab es gewaltige Vorräte an Waffen und Munition aller Art, die in Tripolitanien lagerten. Die Cyrenaika wurde von Ghadhafi stets mit Misstrauen behandelt, und dort wurden nur die nötigsten und die veralteten Waffen gelagert.
Als Ghadhafi stürzte, bemächtigten sich die Kämpfer und andere Gruppen, die erst am Ende der Auseinandersetzung als Kampfgruppen auftraten, der Wafffenvorräte in Tripolitanien. Sie blieben seither die am besten bewaffneten Gruppen. Doch ihre Vorräte dürften sich heute, fünf chaotische Jahre später, stark reduziert haben.
Die „Nationale Armee“ Haftars ihrerseits geht zurück auf Armeeeinheiten, die sich in Bengasi und den anderen Städten der Cyrenaika gegen Ghadhafi erhoben. Sie waren schlecht bewaffnet und sie blieben es. Natürlich sucht Haftar seine Beziehungen zu Ägypten und der VAE auszunützen, um dorther neue Waffen zu erhalten, Embargo hin oder her.
Die Grundidee der Uno-Vermittler ist, dass das Waffenembargo und seine Aufhebung so gehandhabt werden müssten, dass die GNA, die Einheitsregierung, gestärkt und die Banden, die sich ihr nicht anschliessen wollen, geschwächt werden. Die Bandenführer ihrerseits versuchen natürlich, das alte Spiel weiter zu spielen, das ihnen in den letzten fünf Jahren viel Macht gebracht hat.
Sie stellen sich der Regierung, welche immer das sein mag, als „Sicherheitskräfte“ zur Verfügung, jedoch ohne ihr Kommando über ihre eigenen Bewaffneten aufzugeben. Wenn ihnen dies gelingt, können sie der Regierung, als deren Sicherheitstruppen sie auftreten, vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hat, denn sie verfügen ja über die Waffengewalt.
Wohin fliessen die Staatsgelder?
Wie mit den Waffen geht es auch mit den Geldern. Libyen hat noch ein reduziertes Erdöleinkommen und besitzt Geldreserven aus der Ghadhafi-Zeit, die ebenfalls einem Uno-Embargo unterliegen. Die Uno-Vermittler versuchen, diese Gelder für die Einheitsregierung flüssig zu machen und die libysche Nationalbank in den Dienst dieser Regierung zu stellen.
Doch die Position der Einheitsregierung bleibt juristisch unklar, solange nicht ein Beschluss des Parlamentes von Tobruk zustande kommt, durch den die Regierungsmacht an sie übertragen wird. Diesen Beschluss sucht Haftar nach Kräften zu verhindern.
Man hat unter diesen Umständen zu vermuten, dass der Rücktritt der vier anfangs erwähnten Minister mit Wurzeln in der Cyrenaika aus der Einheitsregierung mit der Haltung Haftars zusammenhängt. Möglicherweise auch mit dem Umstand, dass Haftar geheimdienstliche Hilfe von Nato-Staaten erhält, die eigentlich versprochen haben, die Einheitsregierung zu unterstützen. Weil dieser Umstand natürlich die Minister dieser Regierung, besonders jene, die aus den Gebieten stammen, in denen Haftar das Sagen hat, verunsichern muss.
Doppelgesichtige Politik der Aussenmächte
Wer nach den Gründen fragt, wieso die Nato-Staaten diese kontradiktorische Politik verfolgen, wird keine offizielle Antwort erhalten, denn die betreffenden Regierungen weigern sich, über die Handlungen ihrer Geheimdienste öffentlich Auskunft zu geben. Man kann nur versuchen, sich mögliche Gründe zurechtzulegen.
Den Nato-Staaten liegt in erster Linie daran, die radikalen Islamisten in Libyen zu entmachten und zweitens in Libyen ein oder auch zwei Regime zu stärken, die in der Lage sind, die libysche Küste zu überwachen und den dortigen Schleppern, die Flüchtlinge und Migranten übers Mittelmeer bringen, das Handwerk zu legen.
Offenbar haben die Geheimdienste und ihre Chefs in Bezug auf die Cyrenaika auf die Karte Haftars gesetzt, mindestens vorläufig und bis es sich als gewisser abzeichnet, dass die Einheitsregierung in die Lage kommen könnte, ganz Libyen zu beherrschen. Die Diplomatie der gleichen Nato-Staaten betont jedoch, dass diese Länder hinter der Einheitsregierung stünden, und noch endgültiger stehen werden, wenn die Einheitsregierung einmal voll legal eingesetzt sein werde.
Die Pragmatiker der Geheimdienste scheinen zu urteilen: Priorität hat die Hilfe für jene anti-IS Kräfte, die es in Libyen real gibt, sowohl für jene, die in Tripolitanien verwurzelt sind wie auch jene, die in der Cyrenaika die Vormacht ausüben. Doch diese pragmatische Haltung geht natürlich auf Kosten der von der Uno geförderten Lösung mit einer Einheitsregierung für Libyen.
Bricht das Land auseinander?
Die Beobachter in Libyen sind sich einig darüber, dass die Errichtung der Einheitsregierung die Spaltung zwischen Tripolitanien und der Cyrenaika vertieft habe. Ob dies so weiter gehen wird, und ob zum Schluss ein Staatswesen Cyrenaika unter Haftar und eines in Tripolitanien unter dem Chef der Einheitsregierung, Fayez al- Sarraj, entstehen könnte, bleibt zur Zeit noch eine offene Frage.