Da etabliert sich in den fünfziger Jahren eine eigentlich kurz vor dem Konkurs stehende Firma aus der tiefsten Schweizer Provinz, die „Holzverzuckerungs AG“, mit „Grilon“, einem Produkt modernster Polymerchemie, urplötzlich auf dem Weltmarkt.
Dass die Kontakte des damaligen Besitzers Werner Oswald während des 2. Weltkrieges nach Nazideutschland dabei eine Rolle spielten, ist bekannt. Den märchenhaften Aufstieg der „Holzverzuckerungs AG“ zur heutigen „Ems Chemie“ erklären sie jedoch nur teilweise.
Von Nylon Strümpfen und Perlon Hemden
Nylonstrümpfe „ohne Naht“ und Perlonhemden „bügelfrei und pflegeleicht“: Eine Kulturrevolution in der Mode. Und: Der Beginn der modernen Kunststoffchemie.
Entwickelt und zur Produktionsreife gebracht wurden die neuen Kunstfasern Nylon und Perlon von Du Pont in den USA und IG Farben in Deutschland. Das Ergebnis langjähriger aufwendiger und kostspieliger Forschungsarbeit. Und dann erscheint, Anfang 1953, ein Konkurrenzprodukt auf dem Weltmarkt: Grilon. Hergestellt von einer in der Branche völlig unbekannten „Holzverzuckerungs AG“ aus Domat Ems, Graubünden, Schweiz. Nun hat Holzverzuckerung mit Kunststoffchemie ungefähr so viel gemeinsam wie eine Dampfmaschine mit einem Laptop …
Ein Märchen made in Switzerland
Dort, in Graubünden, gibt es bis in die vierziger Jahre nichts als reine, unberührte Landschaft. Zwar hatte schon in den späten dreissiger Jahren der Industrielle Werner Oswald die Absicht, das in Graubünden reichlich vorhandene Holz mittels Verzuckerung zu Alkohol und dann zu Treibstoff zu verarbeiten. Technisch nichts Neues, ein einfaches chemisches Verfahren, jedoch kostenaufwendig und wirtschaftlich unrentabel. Das ändert sich schlagartig mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges.
Die Schweiz, ein Land ohne eigene Öl- und Kohlevorkommen, ist zu 100% auf den Import von Treibstoffen angewiesen. Und der ist jetzt nicht mehr garantiert. Für seine Armee braucht das Land aber unbedingt eine gesicherte Treibstoffversorgung. Und so bekommt Oswald seine Fabrik. Geld spielt keine Rolle, der Staat zahlt. In wenigen Monaten werden 1941 in Domat Ems nicht nur die Fabrikanlagen für die Holzverzuckerung, sondern auch Wohnhäuser und Strassen aus dem Boden gestampft. Für Werner Oswald ein profitables Geschäft, dessen Ende 1945 allerdings absehbar ist: Ein Auslaufmodell, ohne wirtschaftliche Perspektive, auf massive staatliche Unterstützung angewiesen. Und nun kommt plötzlich diese „Holzverzuckerungs AG“ mit einem Spitzenprodukt modernster Polymerchemie auf den Markt: Grilon. Die Gründe für diesen märchenhaften Aufstieg liegen einige Jahre zurück.
Vom Nutzen der Geheimdienste
Bekanntlich hatte der Besitzer der „Hovag AG“, Werner Oswald, im 2. Weltkrieg eine wichtige Position im Schweizer Nachrichtendienst inne. Eine ihrer Aufgaben war die Beschaffung von militärischen, aber auch wirtschaftlichen Informationen aus Nazideutschland. Von besonderem Interesse für Oswald war dabei die Treibstoffherstellung auf synthetischer Basis, ein Gebiet, auf dem die deutsche Chemie weltweit führend ist.
Da konnte es nicht ausbleiben, dass der Geheimdienstler Werner Oswald auf den Namen Johann Giesen stösst – Generaldirektor der IG Farben Werke Leuna, dem Zentrum der deutschen Synthesetreibstoffproduktion.
Der Herr von Schloss Haldenstein
Während des 2. Weltkrieges ist Generaldirektor Giesen oft auf Reisen. Meistens in Richtung Osten, ins sogenannte Generalgouvernement, nach Monovitz. Seine Aufgabe: Der Bau neuer Anlagen zur Methanolherstellung. Methanol ist kriegswichtig, unverzichtbarer Grundstoff für die Herstellung von Flugzeug- und Raketentreibstoffen. Ohne Methanol keine „Messerschmidt 162“ und keine „V2 Rakete“.
1944 produziert das von Giesen geplante und in Sklavenarbeit von Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz-Monowitz errichtete IG Farben Werk 15% der gesamten deutschen Produktion. Für Generaldirektor Giesen ein Erfolg.
Zweite Karriere
Nach dem 2. Weltkrieg wird Giesen im „IG Farben Prozess“ angeklagt. Und freigesprochen: „Von Menschenvernichtungen oder ähnlichen Untaten an den Konzentrationslager-Häftlingen habe ich in Auschwitz nie etwas erfahren …“
Giesen wird die Leitung des ehemaligen IG Farben Werkes im westdeutschen Uerdingen übertragen. Eine ganz normale Nachkriegskarriere eines deutschen Wissenschaftlers. Bis Ende 1949. Dann gibt es einen Knick: Giesen wird fristlos entlassen. Wegen „Verrats von Fabrikationsgeheimnissen“. Giesen hatte Techniker zu Oswald nach Ems geschickt, die dort die erste Produktionsanlage der Polymerchemie in Betrieb setzen. Für Giesen bedeutet seine Entlassung nur den Beginn einer zweiten Karriere. Denn kurze Zeit später siedelt er in die Schweiz um und wird von Oswald auf Schloss Haldenstein einquartiert. Der neue Forschungsleiter der Hovag AG hat nur eine Aufgabe: Der Wechsel von der primitiven Technologie der Holzvergasung direkt zur hochmodernen Kunststoffchemie – ein Quantensprung und zwar schnell.
„Rucksackunterlagen“
Doch dafür braucht man Fachleute, Spezialisten auf allen Gebieten der Polymerchemie. Davon gibt es nicht viele. Schon gar nicht in der Schweiz. Aber Giesen weiss, wen er braucht und wo sie zu finden sind.
Als erstes holt Giesen Anfang der 50er Jahre Spezialisten aus Halle-Leuna ins schweizerische Ems: Dr. Kahr, Leiter der dortigen Caprolactamfabrik, und sein Oberingenieur Mayer bringen nicht nur ihr Wissen, sondern auch eine komplette Sammlung von Plänen, quasi die Blaupausen für eine komplette Fabrik von Leuna mit.
Diese Dokumente sind in Ems bis heute unter dem Namen „Rucksackunterlagen“ bekannt. Unter der Leitung dieser beiden Fachleute aus der DDR werden in Ems zügig die technischen Anlagen zur Herstellung von Caprolactam, dem Grundstoff für Perlon, gebaut, das in Ems/Graubünden dann den Markennamen Grilon erhält. Womit das „Wunder von Ems“ seine Erklärung findet.
Gezielte Abwerbung aus der Schweiz
Damit aber nicht genug. Denn Oswald und Giesen denken voraus. Wenn man schon durch den Import der ostdeutschen Experten in den Besitz der wissenschaftlichen Grundlagen zur Herstellung der neuen Wunderfaser gelangt war, warum dann nicht auch die Spezialisten für deren Verarbeitung holen. Und die sitzen auch in der DDR, in Schwarza, Thüringen.
Experte auf diesem Gebiet ist ein Dr. Köching. Mit ihm sollte sich auch der Ingenieur Johann Lesche auf den Weg nach Ems begeben. Doch diesmal klappt es nicht. Die einschlägigen DDR-Behörden haben durchaus registriert, dass da eine gezielte Abwerbung aus der Schweiz stattfindet und auch der Name Giesen ist ihnen natürlich nicht unbekannt. So kommt es, dass Lesche, trotz offener Grenze, beim Versuch, die DDR unter Mitnahme einschlägiger technischer Dokumente zu verlassen, verhaftet wird. Er muss eine längere Zuchthaustrafe in Bautzen absitzen und kann so erst mit Verspätung das ostdeutsche Wissenschaftler-Kontingent in Ems verstärken.
Auf den Weg nach Ems
Die nächste Welle im Know-how Transfer aus der DDR beginnt im Jahre 1957. Diesmal sind eher Grundlagenforscher gefragt. Und zwar aus dem Institut der Akademie der Wissenschaften der DDR in Teltow bei Berlin. Fast ein halbes Dutzend Spezialisten machen sich auf den Weg nach Ems.
Ihnen folgt, Ende der fünfziger Jahre, die dritte Welle: Junge Chemiker, bereits in der DDR ausgebildet. Es beginnt mit dem Patensohn von Johann Giesen, Dr. Baumann. Der wirbt seinen Studienfreund Hoppe an, dieser den frisch promovierten Chemiker Schultze.
„Leuna-Fraktion“
Als Dr. Schultze. seinen neuen Arbeitsplatz in der Forschungsabteilung der Ems Chemie, wie die Hovag AG jetzt heisst, betritt, hat er ein regelrechtes Déjà-vu: Nicht die sächsisch oder thüringisch gefärbte Sprache seiner Kollegen in der Forschung überrascht ihn. Nein, es ist etwas anderes: Das was er da sieht, das kennt er doch. Plötzlich hat er das Gefühl, wieder in seinem alten Betrieb, dem VEB Leuna Werke „Walter Ulbricht“, zu sein. Die Lactamfabrik, die Büro- und Laborgebäude – alles praktisch Kopien von Leuna.
Die Übereinstimmung reicht bis in Details des Treppenaufganges, sogar der Toiletten. Und er trifft in Ems auf viele Fachkollegen aus Leuna. Stolz nennen sie sich die „Leuna-Fraktion“. Sie alle sind mit ihren Spezialkenntnissen dafür vorgesehen, die neuen Verfahren der Kunststoffchemie in Ems weiterzuentwickeln. Im Ergebnis mit durchschlagendem Erfolg.
In den folgenden Jahren entsteht so, nicht zuletzt dank des steten Know-how-Transfers aus Ostdeutschland – Juristen könnten das auch anders nennen – aus einer unbedeutenden kleinen Chemiebude in der Schweizer Provinz ein milliardenschwerer Weltkonzern.
*) Dunkle Helfer nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ein Dokumentarfilm von Hansjörg Zumstein.
Donnerstag, 5. Oktober 2020 im Schweizer Fernsehen SRF
20.05 Uhr bis 21.05 Uhr
SRF/dok