Friedrich Wilhelm Graf legt die Biographie des Theologen, Philosophen und Politikers Ernst Troeltsch (1865–1923) vor, der sich vom Monarchisten zum Vorkämpfer der Weimarer Republik entwickelte und einer der faszinierendsten Intellektuellen seiner Zeit war.
«Meine Herren, es wackelt alles!» Mit diesem Satz eröffnete der 31jährige Ernst Troeltsch 1896 in Eisenach sein Referat vor einer Versammlung liberaler Theologen. Der Vortrag war eine Kampfansage an die etablierte akademische Theologie. Sie mündete in die Forderung nach einem radikalen Neuansatz und löste einen handfesten Krach aus. Wie sehr es aber wackeln würde in den nächsten Jahrzehnten in Theologie, Kultur und Gesellschaft, das konnte der stürmische Referent damals noch gar nicht abschätzen.
Die Theologie und die Moderne
Schon mit 29 Jahren war Troeltsch ordentlicher Professor für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg geworden. In seiner Dissertation und Habilitation hatte er ein weitreichendes Programm entworfen: Theologische Systematik müsse «das Zusammenbestehen einer weltlichen Bildung mit der religiösen Wahrheit» ermöglichen. Anders gesagt, zeitgemässer Glaube müsse modernitätskompatibel sein.
Das war für eine altprotestantische Dogmatik, wie sie an den Fakultäten noch vorherrschte, eine Provokation. Für deren Vertreter waren Bekenntnis und Dogma die unverrückbaren Wahrheitsgaranten, denen entlang die Theologie zu denken hatte. Ein «Zusammenbestehen» mit moderner Weltsicht und Wissenschaft erschien den Traditionalisten als Preisgabe der geoffenbarten Wahrheit. Angegriffen sahen sie sich auch von der in jener Zeit entstandenen «religionsgeschichtlichen Schule», in der die Texte der Heiligen Schrift mit historisch-religionswissenschaftlichen Methoden untersucht wurden und bei der die traditionell angenommene Einzigartigkeit der christlichen Bibel nicht mehr vorausgesetzt war.
Ernst Troeltsch stand mit den jungen Begründern der religionsgeschichtlichen Schule in enger Verbindung. Als Systematiker arbeitete er die grundsätzlichen Konsequenzen ihrer Sichtweise für das Verständnis des christlichen Glaubens heraus. Die Vorstellung, das Christentum besitze im Unterschied zu allen anderen Religionen eine absolute, weil direkt von Gott stammende Wahrheit, fiel dahin. Zwar hielt Troeltsch daran fest, das Christentum sei diejenige Religion, in der das Individuelle des Glaubens am besten aufgehoben sei. Aber das war für ihn ein gradueller und diskutierbarer Vorzug; einen absoluten Wahrheits- und Geltungsanspruch leitete er daraus nicht ab.
Für die Autoritäten in Kirchen und theologischen Fakultäten war dies schlicht Ketzerei. Entsprechend bemühten sie sich, die Herolde einer «schofelen Theologie», wie einer der Alten sich in Eisenach ausdrückte, von Lehrstühlen und anderen einflussreichen Positionen fernzuhalten. Ihre Abwehrmassnahmen gegen die Modernen waren übrigens weithin erfolgreich. Die besten Köpfe des theologischen Aufbruchs kamen an den Universitäten vielfach nicht über brotlose Privatdozentenstellen hinaus.
Reger Austausch im «Weltdorf des Geistes»
In Heidelberg, wo Troeltsch lehrte, herrschte um die Jahrhundertwende bei allen Spannungen zwischen unterschiedlichen Positionen ein insgesamt liberales Klima. Dieses «Weltdorf des Geistes» zog eine Vielzahl hervorragender Gelehrter an. Der für Troeltsch wichtigste unter ihnen war Max Weber. Die beiden wurden Wohnungsnachbarn und «Fachmenschenfreunde». Über lange Zeit standen sie in fruchtbarem, wenn auch oft spannungsreichem Austausch. Weber beschäftigte sich als Ökonom und Soziologe mit Strukturen und Wirkkräften der Moderne, Troeltsch als Theologe und Philosoph mit Religion und moderner Gesellschaft, und so bewegten sie sich in einem grossen gemeinsamen Feld.
Ihre persönlichen und wissenschaftlichen Temperamente machten den beiden akademischen Stars ein Zusammenspannen nicht leicht. Troeltsch, von Gesinnung national-liberal, hielt die konstitutive Monarchie für die erstrebenswerte Staatsform und den Kompromiss für das unumgängliche Instrument praktischer Politik. Das Vermitteln und «Zusammenbestehen» gegensätzlicher Pole galt ihm auch als Wissenschaftler als Notwendigkeit.
Anders Max Weber. Er pflegte Gegensätze nicht auszugleichen, sondern zu verschärfen. Viel früher als sein Freund erkannte Weber die Härte des Kapitalismus. Auch beim Einblick in die grundlegenden kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Unterschiede zwischen dem deutschen Obrigkeitsstaat und der westlichen, europäisch-amerikanisch ausgeprägten Idee der Republik war Weber für Troeltsch ein wichtiger Impulsgeber. Es war namentlich Webers Einfluss, der Troeltsch dazu bewegte, in den Jahren vor 1914 von der monarchischen Option Abstand zu nehmen und sich nach dem theologischen nun auch dem politischen Liberalismus zu nähern.
Permanente Aufklärung als Motor der Moderne
Die Heidelberger Jahre waren für Troeltsch wissenschaftlich höchst fruchtbar. Er bewegte sich in einer Community exzellenter Köpfe, die sich in Salons und Clubs regelmässig austauschten. Bei Weber und Troeltsch trafen sich Georg Lukács, Ernst Bloch, Helmut Plessner, Theodor Heuss, Karl Jaspers, Georg Simmel und viele andere, die schon berühmt waren oder es später wurden.
Troeltsch nahm bei solchen Begegnungen ungezählte Anregungen auf. Und er hatte auch welche zu geben. Seiner Gewohnheit gemäss las Troeltsch wie ein Berserker Unmengen von Fachliteratur aus Theologie, Religionswissenschaft, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Kunst- und Kulturgeschichte, Soziologie – und zwar in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Niederländisch. In seiner Laufbahn publizierte er neben hunderten von eigenen Arbeiten auch über 250 teils sehr umfangreiche Literaturbesprechungen, darunter zahlreiche sehr aufwändige Sammelrezensionen.
Dass über die Geltung des Christlichen ganz neu nachzudenken sei, wurde Troeltsch zunehmend klar. Hegel hatte als Philosoph das Christentum noch als «absolute Religion» verstanden. Troeltsch nahm davon Abstand: «Als absolute Wahrheit ist keine einzige Religion wissenschaftlich zu erweisen.» Der Theologie- und Philosophie-Verleger Gustav Ruprecht meinte 1914: «Was jetzt seit etwa 50 Jahren durch die historische Auffassung geleistet ist, hat zu einer Revolution geführt, die viel grösser ist als die Reformation Luthers!»
Diese «Absolutheitsfrage» war auch mit Blick auf die Kolonialpolitik bedeutsam. Troeltsch plädierte für eine unvoreingenommene Erforschung und Respektierung nichtchristlicher Religionen. In einer Reihe von ideengeschichtlichen Arbeiten zwischen 1894 und 1904 entwickelte er seinen Begriff der Moderne als permanente Aufklärung. Diese vollzieht sich in Form der fortgesetzten Historisierung bislang absolut gesetzter Gehalte der Kultur.
Kritik an der Herrenreligion
Als Kennzeichen der Moderne erkannte Troeltsch die Postulate des Pluralismus und der Freiheit, die sich gegenseitig bedingen. In einem Prozess, der ums Jahr 1800 begonnen hatte, gewannen diese beiden Elemente in Kultur, Gesellschaft und Staat allmählich an Gestaltungskraft. Dabei hinkte Deutschland unter dem Einfluss des Luthertums hinterher, während die vom Calvinismus geprägten Länder im Modernisierungsprozess voraus waren.
Ausgerechnet zum Reformationsjubiläum 1917 schrieb Troeltsch: «Das preussische Luthertum ist zur Religion einer Herrenschicht geworden und trägt die Züge einer Herrenreligion.» Die lutherische Richtung stärke im Unterschied zu den westeuropäischen reformierten Protestantismen nicht die Demokratie, sondern «den Ordnungssinn und die Ergebung». Entsprechend sei das deutsche Kaiserreich geprägt von mangelnder Toleranz, Klerikalisierung der Politik, geistiger Unfreiheit, Militarisierung des Bildungswesens, Kastengeist und Klassentrennung.
Religionssoziologische Typenlehre
1912 veröffentlichte Ernst Troeltsch sein erstes Hauptwerk, «Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen». Die fast tausend Seiten bieten mehr, als der Titel sagt, nämlich eine systematische Theorie der Typen, nach denen sich Religion in der Gesellschaft formiert: Kirche, Sekte, Mystik. Diese drei Idealtypen sind zu einem klassischen religionssoziologischen Schlüssel für das Verständnis christlicher Kulturen und Sozialformen geworden.
Die «Soziallehren» basieren auf einer «literarischen Materialschlacht» (F. W. Graf). Fast 1’300 Bücher und Aufsätze aus einem breiten wissenschaftlichen Spektrum sind darin verarbeitet. Troeltsch liess sich auch von marxistischen Positionen inspirieren und setzte sich fair und konstruktiv mit diesen auseinander – zu jener Zeit alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die «Soziallehren» verschärften nochmals die Kritik am Luthertum und dessen negativem Einfluss auf die politische Kultur in Deutschland. Das Buch wurde enorm einflussreich und begründete nicht zuletzt das grosse Renommee Troeltschs in der angelsächsischen Welt.
Kriegsrhetorik und Besonnenheit
Den Beginn des Ersten Weltkriegs erlebte Troeltsch noch in Heidelberg. Am Tag der vom Kaiser verordneten Mobilmachung hielt er die Hauptrede bei der «Vaterländischen Versammlung» in der Heidelberger Stadthalle. Als glänzender Redner machte er auch hier mächtig Eindruck. Aus heutiger Sicht ist erkennbar, dass Troeltsch eine Gratwanderung zwischen Kriegsrhetorik und Mahnung zur Besonnenheit suchte. Auch wagte er es, als Preis für den Kriegseinsatz der Bevölkerung beim Kaiser soziale Reformen und die Abschaffung des preussischen Dreiklassenwahlrechts einzufordern.
1915 wechselte Troeltsch von Heidelberg nach Berlin, wo er nicht mehr an der theologischen, sondern der philosophischen Fakultät Philosophie, Religionsphilosophie und Religionsgeschichte lehrte. Nun erst recht war er von führenden Wissenschaftlern und bedeutenden Zeitgenossen umgeben, und er stürzte sich nicht nur in die Arbeit, sondern auch in die akademische und kulturelle Geselligkeit der Metropole. Viel stärker als zuvor in Heidelberg drängte sich nun auch die Politik in Troeltschs Leben.
Als 1916 eine gemässigt pazifistische Gruppe von Intellektuellen gegen die fortgesetzte Kriegstreiberei des Kaiserreichs Stellung nahm, schloss Troeltsch sich an. An Albert Einstein, der ebenfalls Mitglied war, schrieb er: «Die deutsche Wissenschaft ist also doch nicht so ganz von aller Vernunft verlassen, wie es zunächst aussieht.»
«Public Intellectual» in Berlin
Troeltsch wurde in Berlin definitiv zur Berühmtheit. Er war Berater des Kanzlers Bethmann-Hollweg, hielt unzählige Reden, veröffentlichte Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Der Mann war zum «public Intellectual» geworden. Seine Vorlesungen an der Universität hielt er regelmässig vor über tausend Hörerinnen und Hörern. Es ging ihm um eine «Massstabbildung» für die Nachkriegszeit. Hierzu beschäftigte er sich und seine Studierenden intensiv mit französischer und englischer Aufklärungsphilosophie. Die gründliche und offene Auseinandersetzung mit dem Marxismus setzte er fort.
Im Krieg wurde Troeltsch zum Zeitanalytiker. Dabei blieb allerdings manches widersprüchlich. Neben den auf Ausgleich zwischen den Kriegsparteien und Vorbereitung eines Friedensschlusses gerichteten Äusserungen standen immer wieder Kriegspolemiken und Durchhalteparolen.
Klar und konsequent jedoch blieb Troeltsch in seiner Ablehnung eines nationalistischen Christentums, wie es damals von praktisch allen Kanzeln schallte. Exemplarisch war die scharfe Kritik in seinem Pfingstartikel 1915 in der «Frankfurter Zeitung»: Die Kirchen hätten ihre Hassrhetorik zu dämpfen, und auch in den Schulen dürfe nicht gegen den Kriegsgegner gehetzt werden. Denn «jede planmässige Erziehung zum Hass (…) ist für uns selber schädlich.»
In einem später als Aufsatz publizierten Vortrag analysierte Troeltsch 1916 das Freiheitsdefizit in der deutschen politischen Entwicklung gegenüber jener des Westens. Nach dem Krieg werde es darum gehen, diesen Rückstand wettzumachen. Troeltschs Schüler Helmut Plessner fasste diesen Befund später in den Begriff der «verspäteten Nation». Doch in Troeltschs Versuch, ein Konzept «deutscher Freiheit» zu skizzieren, schimmerte noch eine starke etatistische Grundorientierung durch. In dieser Rede war Troeltsch noch nicht an dem Punkt, vorbehaltlos eine Demokratisierung zu fordern.
Der politische Troeltsch
Demokrat wurde Ernst Troeltsch bei Kriegsende und in den Jahren danach im Kampf um die Existenz der Weimarer Republik. Als 1917 die Gegner eines Verständigungsfriedens die Deutsche Vaterlandspartei gründeten, ergriff Troeltsch die Initiative zur Bildung einer Gegenkraft in Gestalt des «Volksbunds für Freiheit und Vaterland». Der Volksbund war einer der Vorläufer der bald danach gegründeten linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP).
Mit den von 1919 bis 1922 erschienenen Spectator-Briefen, die in einer halbmonatlichen Kulturzeitschrift zuerst anonym publiziert wurden, nahm Troeltsch zu den Wirren und Kämpfen der Weimarer Republik kontinuierlich Stellung. Als scharfsichtiger Zeitdiagnostiker wurde er zum politischen Publizisten, der sich vehement für die junge Demokratie engagierte. Troeltsch analysierte die Gefährdungen durch Extremismus von links und rechts ebenso wie diejenigen durch Gleichgültigkeit und antirepublikanische Ressentiments des Bürgertums. Ebenso hielt er dem Land den Spiegel vor, indem er über das Entsetzen ausländischer Beobachter angesichts der politischen Morde und des erstarkenden Antisemitismus berichtete.
Doch der Horizont des Beobachters war weiter gespannt. Er konstatierte die geopolitische Selbstentmachtung Europas, den Aufstieg der USA und die Verlagerung des Fokus auf den pazifischen Raum. Die europäischen Länder würden zweisprachig werden, sagte er voraus: mit Englisch als Erstsprache und ihren alten Sprachen als Dialekten.
Warner vor dem Nationalsozialismus
Der dezidiert liberale Spectator kämpfte für die Institutionen der parlamentarischen Demokratie, gegen ausufernden Klassenkampf und drohenden Bürgerkrieg. Er wusste, dass das demokratische Experiment gefährdet war: «Überall Träumer, wohin man blickt.» Bis 1919 hatte er den Bolschewismus für die grösste Gefahr gehalten. Das änderte sich mit dem revisionistischen Kapp-Putsch 1920 und erst recht mit dem Mord an seinem engen Freund, Aussenminister Walther Rathenau, im Jahr 1922.
Ernst Troeltsch warnte als erster deutscher Intellektueller vor den Nationalsozialisten. Er wurde zum wichtigsten linksbürgerlichen Fürsprecher der Republik. Auch nach aussen war er aktiv. Er suchte die Versöhnung mit den vormaligen Kriegsgegnern, unternahm Vortragsreisen in die Niederlande und die Schweiz, knüpfte Kontakte nach Frankreich, reiste nach Grossbritannien (wo es Kritik gegen seinen Besuch gab; man hatte seine früheren uneindeutigen Äusserungen zum Krieg sehr wohl registriert).
Ernst Troeltsch wird beschrieben als ein Bürger durch und durch, der gutes Essen, erlesenen Wein und teure Zigarren liebte, der Gesellschaften gab und sich in solchen bewegte. Er war beredt, schlagfertig, ein Feuerkopf, aber auch ein guter Zuhörer. Zudem ein vitaler, viriler Mann, begeisterter Wanderer und Schwimmer und von einer schier unglaublichen Arbeitskapazität. Er las ganze Bibliotheken von Fachliteratur, aber immer auch Homer (auf Griechisch), Hölderlin, Novalis, Rilke; und er war ein Kunstliebhaber, der sich kaum eine Ausstellung entgehen liess. Gegenüber der eigenen sozialen Klasse war er kritisch. An Albert Einstein schrieb er 1918: «Was in Deutschland vor allem fehlt, ist der moralische Mut seiner Gebildeten.»
«Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits»
In einem Nachruf heisst es, Troeltsch sei ein «überhaupt zu einer skeptischen Besonnenheit neigender und jede Art von Illusionismus streng meidender Geist» gewesen. Bei aller Relativierung, die aus seiner Modernitätstheorie hervorging, blieb er ein frommer Mensch. Religion war für ihn radikales Differenzbewusstsein: der Bezug zur Transzendenz verweist nach seiner Auffassung auf die Spannung zwischen Sollen und Sein und weckt so die «Kraft zum Widerstand gegen den blossen Weltlauf».
Troeltsch kondensierte diese religiöse Haltung zur Formel: «Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits.» Ausgedeutscht: Auch wenn die nachmetaphysische moderne Welt ein Jenseits nicht vorsieht, so ist dieses doch als «Differenz zum blossen Weltlauf» eine Kraft, die auf die Menschen einwirkt.
Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont. Eine Biographie, C. H. Beck, München 2022, 638 S.