Journal21: Andreas Ladner, wir haben im Journal21 fünf Interviews mit kritischen Beobachtern der schweizerischen Politik gebracht, und eigentlich alle haben sich auf die eine oder andere Weise sehr skeptisch über die Arbeit des Parlamentes geäussert. Wie beurteilt denn die Politologie dieses Parlament? Haben wir ein gutes, ein leistungsfähiges Parlament?
Andreas Ladner: Es ist sicher wichtig, dass man über die Leistungsfähigkeit des Parlamentes nachdenkt, denn Parlamente haben in der Demokratie eine sehr grosse Bedeutung. Und aus sachpolitischer Optik gibt es sicher einiges zu kritisieren, vor allem auch wenn man die eigenen Anliegen nicht verwirklichen kann.
Die Aufgabe eines Parlamentes besteht darin, die Grundlagen für das Funktionieren der Gesellschaft und die Entwicklung eines Landes zu legen. Darum muss man die Leistung eines Parlamentes immer auch am Zustand eines Landes messen. Und da kommt man in der Schweiz immer wieder zur gleichen Antwort: So schlecht steht es um die Schweiz nicht. Und so schlecht kann offenbar auch die Leistung des Parlamentes nicht sein, wenn dessen Politik doch einigermassen befriedigende Ergebnisse hervorbringt.
Natürlich hat das schweizerische Parlament gewisse Defizite und Nachteile. Es arbeitet nicht sehr schnell. Es ist mit den beiden Kammern auch relativ kompliziert. Das führt zu langen Gesetzgebungsprozessen. Sodann ist es ein Milizparlament. Die Mitglieder des Parlamentes haben beschränkte Ressourcen, zum Teil auch beschränkte Kompetenzen, weil sie die Gesellschaft repräsentieren und nicht Berufspolitiker sind, die gewissermassen „ihr Handwerk“ gelernt haben.
Und dann ist das Parlament mit einer grösseren Zahl unterschiedlicher Parteien bestückt. Es gibt also keine klare Regierungsmehrheit. Das sind alles Gegebenheiten, mit denen das Parlament in der Schweiz zurande kommen muss.
Journal21: Sehen Sie Elemente in der Arbeit des Parlamentes, in denen es besonders gute Noten verdient?
Im Vordergrund steht sicher das integrative Element des Parlaments. Die Sprachregionen und auch die kleinen Parteien sind repräsentiert und haben auch die Möglichkeit, ihre Interessen einzubringen. Das Finden von tragfähigen Kompromissen finde ich eine grosse Herausforderung, die in vielen Fällen auch erfolgreich bewältigt wird. Natürlich gibt es auch eine Reihe von Baustellen, wo man die Arbeit des Parlaments zur Recht kritisieren kann. Die Sozialversicherungen sind so eine. Die Probleme sind dort, vor allem mit Blick auf die Zukunft, nicht befriedigend gelöst. Dann die Europapolitik. Da hat man den Eindruck, dass die Schweiz ihre Position noch nicht gefunden hat. Es gibt ausserdem institutionelle Schwierigkeiten, zum Beispiel die Reform des Bundesrates, die eigentlich schon lange ein Anliegen des Parlamentes ist, wo man aber nicht vorankommt. Aber trotzdem scheint das Parlament irgendwie zu funktionieren, und das ist das Erstaunliche.
Journal21: Gibt es Bereiche, wo Sie dem Parlament ganz eindeutig Defizite attestieren müssen?
Ja, aber die finden sich meines Erachtens weniger auf der sachpolitischen, sondern vor allem auf der institutionellen Ebene. Die Bedeutung des Parlaments hat sich gewandelt. Historisch gesehen war das Parlament in der Schweiz einmal sehr stark. Es hat aber an Einfluss verloren. Dafür gibt es verschiedene Gründe.
Einmal wird heute viel weniger auf nationaler Ebene entschieden. Das ist eine Folge der Globalisierung. Vielen Entscheiden gehen internationale Entwicklungen voraus, und da hat ein nationales Parlament nicht mehr allzu viel dazu zu sagen.
Auf der anderen Seite sind die Verwaltung und die Exekutive stärker geworden. Da haben die Parlamentarier Mühe mitzuhalten. Die Politik wird stärker auch von Fachleuten geprägt. Aber diese Phänomene gibt es auch in anderen Ländern. Das ist nicht etwas, wovon nur das schweizerische Parlament betroffen ist.
Wenn man den Einfluss, die Möglichkeiten der einzelnen Parlamentarier in der Schweiz mit den Möglichkeiten vergleicht, die Mitglieder anderer Parlamente haben, dann sind diese Möglichkeiten in der Schweiz eigentlich recht gut. In anderen Staaten sind die Parlamente und deren Mitglieder in Regierungsmehrheiten oder aber in die Opposition eingebunden. Da haben die einzelnen Parlamentsmitglieder kaum Gelegenheit, eigenständige Positionen zu formulieren, weil sie sich einer Fraktion, einem politischen Lager unterordnen müssen. Die Schweizer Parlamentarier haben fast paradiesische Möglichkeiten, auch eigene Positionen zu verfolgen oder über Parteigrenzen hinweg politische Projekte anzureissen und Kompromisse zu suchen und so auf die Gestaltung der Politik Einfluss zu nehmen.
Journal21: Der Preis für diese Freiheit des Politisierens ist aber ein gewisser Mangel an Effizienz.
Natürlich stellt sich die Frage der Effizienz. Nur: Wie will man das genau messen? Das System in der Schweiz ist nicht so schnell, weil immer mehrere Runden durchlaufen werden müssen und zum Schluss manchmal auch noch die direkte Demokratie dazu kommt. Und es gibt auch Politikbereiche, in denen sehr lange keine Entscheide zustande kommen. Wir haben dreissig oder vierzig Jahre auf eine Mutterschaftsversicherung gewartet, obwohl die Verfassungsgrundlage dafür vorhanden gewesen wäre.
Aber auf der anderen Seite stellt sich auch die Frage der Nachhaltigkeit. Wenn in der Schweiz ein politisches Vorhaben alle diese Hürden genommen hat, dann geht das im Allgemeinen in die richtige Richtung oder wird zumindest kaum mehr in Frage gestellt, und das ist natürlich auch ein Vorteil.
Journal21: Die Leistung des Parlamentes mit seinen beiden Kammern ist also zusammengefasst für Sie gar nicht so schlecht.
Es gibt natürlich Probleme mit diesen beiden Kammern. Heute ist die Politik deutlich komplizierter geworden, weil sich beiden Kammern in ihren politischen Gewichten sehr stark unterscheiden. SVP und SP dominieren den Nationalrat, FDP und CVP den Ständerat. Der Ständerat ist heute weniger das, was er ursprünglich einmal war, nämlich die Kammer der Kantone. Heute ist er mehr zu einer zweiten politischen Kammer geworden, die aber eben parteipolitisch anders zusammengesetzt ist als der Nationalrat. Das schafft gewisse Probleme, aber dass man in einem föderalistischen Staat zwei Kammern hat, ist sinnvoll.
Journal21: Die Schweiz hat nach wie vor ein Milizparlament. Müsste man das in Frage stellen, weil die Parlamentarier einfach nicht mehr in der Lage sind, jene Leistungen zu erbringen, die man von ihnen erwarten kann?
Der Gedanke des Milizparlamentes hat ja durchaus auch etwas Sympathisches an sich, weil man Leute hat, die mit einem oder wenigstens mit einem halben Fuss auch noch in einer anderen Welt leben und dort Erfahrungen machen.
Und das heisst auch, dass es keine Berufspolitiker sind, denen es darum geht, ein Leben lang an der Macht zu bleiben, auch wenn natürlich heute eine Mehrheit der Parlamentarier in einem politiknahen Gebiet tätig ist. Das sind sicher Vorteile, aber Politik ist heute sehr anspruchsvoll. Und darum muss man, wenn man am Wunschbild des Milizparlamentes festhalten will, auch dafür sorgen, dass diese Leute die nötige Unterstützung erhalten und dass sie mit einer gewissen Unabhängigkeit politisieren könne, und das ist nicht immer der Fall.
Journal21: Das System des Parlamentes ist ja nach der Einführung des Proporzes nach dem Generalstreik nicht mehr wirklich geändert worden. Genügt es den heutigen Anforderungen noch? Müsste man nicht über gewisse organisatorische Neuerungen nachdenken?
Man hat sehr wohl Reformen an die Hand genommen. Ziel war es immer, das Parlament zu stärken. Zum Beispiel mit den ständigen Kommissionen, mit der verstärkten Aufsicht über Bundesrat und Verwaltung oder mit dem Versuch, dem Parlament im Bereich der Aussenpolitik mehr Mitsprache zu geben. Aber gerade da ist man noch nicht so weit. Allerdings streitet man sich darüber, ob die Parlamentarier zu wenig Möglichkeiten haben oder ob sie vorhandene Möglichkeiten zu wenig wahrnehmen und ganz grundsätzlich, wie weit ein Parlament überhaupt in die Aussenpolitik einbezogen werden kann.
Schwierigkeiten sehe ich vor allem bei der Forderung nach einer längerfristigen Planung in der Politik. Das ist eine Forderung, die in den letzten Jahren verstärkt an das Parlament herangetragen worden ist, gerade auch aus der Verwaltung, die verlässlichere Hinweise für ihre Arbeit haben möchte. Es gibt offensichtlich beachtliche Schwierigkeiten, das Parlament dazu zu bringen, dass es sich auf so etwas einlässt und über ein Legislaturprogramm diskutiert.
Allerdings ist das auch bis zu einem gewissen Punkt eine systemimmanente Schwierigkeit. Ein Parlamentarier will sich nicht längerfristig binden lassen. Seine Handlungsoptionen bestehen auch darin, die Meinung zu ändern. Und auch die verschiedenen Parteien können sich wohl kaum auf gemeinsame längerfristige Ziele einigen.
Journal21: Der Preis für eine solche Einbindung in eine längerfristige Planung wäre der Verzicht auf die heute noch sehr grosse Freiheit der Parlamentarier, ihr Politisieren selber zu gestalten.
Ja, diese Freiheit würde verloren gehen, und die Parlamentarier hätten dann eine neue Rolle. Sie wären gebunden durch ein Versprechen, durch eine Art Koalitions- oder Regierungsvertrag und müssten sich den Anforderungen solcher Abmachungen unterziehen und mitstimmen.
Bei aller Kritik am Funktionieren unseres Parlamentes verkennt man häufig eine entscheidende Tatsache. In unserem Parlament müssen die unterschiedlichsten Parteien zusammensitzen und Lösungen suchen, und ganz wichtig ist es, dass es zu wechselnden Mehrheiten kommt. Es ist ein gewünschtes Element des schweizerischen Parlamentes, dass nicht immer die gleichen Parteien zusammenspannen, sondern dass sie sich zu unterschiedlichen Mehrheiten zusammenschliessen müssen, damit die Politik vorwärts kommt.
Ich messe das Funktionieren des Parlamentes daran, wie oft unterschiedliche Mehrheiten zustande kommen. Das zeigt, dass gearbeitet wird. Wenn sich immer die gleiche Parteienkonstellation durchsetzt, dann geht dieser Mehrwert, den das schweizerische Parlamentssystem bietet, verloren. Eine Bürgerblockpolitik ist ein Zeichen der Schwäche des Parlamentes, weil es seiner Aufgabe des Suchens und Findens von Lösungen über die Parteiengrenzen hinweg nicht mehr nachkommt.
Journal21: Wir haben die direkte Demokratie, wo grosse Teile der Beschlüsse des Parlamentes nachträglich noch in Frage gestellt werden können. Ist das eine Behinderung für die Leistungsfähigkeit des Parlamentes?
Die direkte Demokratie ist ja bei uns ziemlich unbestritten, auch wenn diese direkte Demokratie gewissen Entscheide zustanden bringt, die nicht immer allen Leuten grosse Freude bereiten. Aber man kann und muss diese direkte Demokratie als Bereicherung der Politik verstehen. Das Parlament ist dadurch gezwungen, mehrheitsfähige Lösungen zu finden, und das ist gut so.
Journal21: Häufig heisst es, die Medien würden mit ihrer neuen Art des Auftritts die Arbeit der Politiker erschweren. Ist das ein Problem?
Es gibt unterschiedliche Arenen. Es gibt die Arena der Öffentlichkeit, wo gestritten wird, aber es gibt auch die Arena der parlamentarischen Arbeit, gerade auch in den Kommissionen, wo viele Politiker, die öffentlich miteinander streiten, über die Parteigrenzen hinweg erfolgreich miteinander zusammenarbeiten. Ich denke nicht, dass man diese zusätzliche mediale Politisierung als Hindernis für die parlamentarische Arbeit einstufen muss. Die Politikerinnen und Politiker sind sich ihrer unterschiedlichen Rolle in den beiden Arenen durchaus bewusst.
Journal21: Sie haben gesagt, dass die Globalisierung der Politik die Entscheidungsfreiheit der Parlamente einschränkt. Diese Globalisierung hat ja auch den anderen Aspekt, dass sich die Wirtschaft, dass sich vor allem Unternehmer aus der Politik verabschiedet haben und kaum mehr in Parlamenten vertreten sind. Schwächt das das Parlament?
Eine wirtschaftsnahe Partei wie die FDP hat sich ja seit Jahren bemüht, Leute aus der Wirtschaft wieder in die Politik einzubinden. Der Erfolg dieser Bemühungen ist ziemlich bescheiden. Ich glaube allerdings nicht, dass möglichst viele Leute aus der Wirtschaft im Parlament sitzen müssen, damit die Wirtschaft dann besser eingebunden ist. Die Wirtschaft braucht die Politik, und die Politik braucht die Wirtschaft. Die beiden Seiten müssen miteinander in einem Dialog stehen. Und immer dann, wenn Probleme gelöst werden müssen, geschieht das auch.
Unser System ist darauf angelegt, dass die Leute, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, auch angehört werden. Vielleicht hat die Wirtschaft einige Zeit geglaubt, es gehe auch ohne Politik, aber was in letzter Zeit passiert ist, hat doch gezeigt, dass die Wirtschaft die Politik sehr wohl braucht – teilweise sogar, um die Schulden zu begleichen, die die Wirtschaft verursacht hat.
Journal21: Wenn ich mir überlege, was in den vorangehenden Gesprächen dieser Serie gesagt worden ist, dann hat sich mir die Frage aufgedrängt: Soll ich überhaupt wählen gehen? Lohnt sich ja sowieso nicht! Wenn ich Ihnen zuhöre, tönt das etwas anders. An den Wahlen für das Parlament, so wie es heute funktioniert, teilzunehmen, macht das einen Sinn? Immerhin bleibt doch ungefähr die Hälfte der Stimmberechtigten jeweilen zuhause.
Man deutet die Realität falsch, wenn man nur auf die Wahlbeteiligung schaut. Wenn man schaut, wieviel Leute sich irgendwie an der Politik beteiligen, dann ist dieser Wert so gut wie in anderen Ländern auch, teilweise sogar noch besser. Die Leute sind auch informiert und sind, wenn es sie betrifft, auch bereit, aktiv zu werden. Anders gesagt: Die völlig Inaktiven sind nicht 60 Prozent, sondern vielleicht 20 oder 30 Prozent. Es ist wichtig, dass sich die Leute, die sich an den politischen Entscheidungen beteiligen, auch wissen, was diese Entscheidungen bedeuten.
Wählen ist bei uns vielleicht etwas weniger wichtig, weil man ja nicht einer Partei eine Art Vollmacht für vier Jahre ausstellen kann, sondern man wählt Leute, und am Ende gibt es politische Projekte, die einem nochmals vorgelegt werden. Wählen macht aber darum einen Sinn, weil man doch eine bestimmte Richtung stärken kann.
Eine gewisse Desillusionierung rührt manchmal daher, weil es mit den Wahlen nicht sehr schnell zu Veränderungen kommt. Man kann eine Partei stärken, ohne dass das sehr rasch zu spürbaren Veränderungen führt. Bis sich veränderte Kräfteverhältnisse beispielsweise in der Zusammensetzung der Regierung niederschlagen, brauchte es seine Zeit. Seit dem Ende der Zauberformel ist das System aber flexibler geworden, auch wenn eine allseits akzeptierte Zusammensetzung des Bundesrates noch nicht erreicht werden konnte. Ich gehe davon aus, dass der Wahlentscheid Auswirkungen auf die Politik haben muss, sonst macht das Wählen keinen Sinn.
Wenn da wieder eine stärkere Beziehung hergestellt wird, dann haben Parlamentswahlen auch wieder eine grössere Bedeutung.
Journal21: Sie haben am Anfang dieses Gesprächs eine Reihe von Aufgaben der Politik genannt, bei denen keine Lösungen in Sicht sind: Sicherung der Sozialwerke, Europapolitik. Trauen Sie dem System, wie es heute funktioniert, die Lösung dieser wirklich grossen und existenziellen Probleme zu, oder gibt es für Sie doch gewisse Fragezeichen, ob das heutige politische System diese Aufgaben innert nützlicher Frist lösen kann?
Ich bin da ziemlich optimistisch. Wenn die Probleme wirklich angegangen werden müssen, dann wird man sie auch lösen. Die Politik nimmt sich ihre Zeit – und kann das auch, weil natürlich in der Schweiz auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen gut sind. Das Wasser steht uns nicht bis zum Hals. Für diese grossen Probleme sind Handlungsoptionen offen. Die Frage ist eigentlich nur, wie lange es braucht, bis man bereit ist, Kompromisse einzugehen. Aber diese Bereitschaft steigt mit dem Problemdruck. Und wenn die Politik wirklich reagieren muss, dann kann sie auch reagieren – eben weil sie noch Handlungsmöglichkeiten hat. Diese Voraussetzung ist nicht in allen Ländern gegeben.