Gleich dreimal soll der Souverän entscheiden: Akuter Pflegenotstand – Ausgewogene Bundesrichterwahl? – Drohende Spaltung der Schweiz?
Die Abstimmung über das Covid-19-Gesetz beherrscht die Schlagzeilen. Die befürwortenden Kreise verlassen sich auf die Wissenschaft, die sich eigentlich weltweit in einer Sache sicher ist: Nur durch Impfung ist die Covid-19-Pandemie zu überwinden.
Für eine starke Pflege
In den aktuellen Coronazeiten hat sich akzentuiert, was absehbar war: Der Pflegenotstand in der Schweiz ist eine Realität. Tatsächlich sind über 11’000 Pflegestellen unbesetzt, davon 6’200 Pflegefachpersonen. Viele Pflegende sind überlastet, erschöpft und einige quittieren frustriert den Dienst.
Die Initiative will das ändern. Ein breit abgestütztes Komitee, zusammengesetzt aus erfahrenen Fachpersonen und rund 50 Organisationen, erachtet den indirekten Gegenvorschlag des Parlaments als ungenügend und plädiert für ein Ja zur Initiative.
Eine Zweidrittelmehrheit des National- und Ständerats lehnt jedoch die Initiative ab. Vor allem die Regelung der Arbeitsbedingungen durch den Bund geht ihnen zu weit.
Bundesrichterwahl durch Losentscheid?
Im heutigen System bestimmen allein die politischen Parteien, wer ein Amt am höchsten Gericht bekommt. Doch nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung gehören einer Partei an. Somit haben auch bestqualifizierte parteilose Bewerberinnen und Bewerber keine Chance, fachliche Kompetenz wird zweitrangig.
Auch wenn schon vor 2500 Jahren im alten Athen das Losverfahren darüber entschied, welche Kandidaten in die Ämter gewählt werden durften, sind Bundesrat und Parlament der Ansicht, das heutige System habe sich bewährt – sie wollen nichts dem Zufall überlassen.
Mit überwältigendem Mehr lehnen National- und Ständerat die Initiative ab mit der Begründung, das heutige System habe sich bewährt.
Drohende Spaltung der Schweiz als Folge des geänderten Covid-19-Gesetzes?
Das Referendumskomitee, das gegen die Änderung vom 19. März 2021 des Bundesgesetzes über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie eintritt, sieht in dieser Gesetzesänderung die Gefahr einer Spaltung der Schweiz.
Damit sind wir beim Schwerpunkt dieses Beitrags angekommen: Wie weit ist die Spaltung der Schweiz ein ernstzunehmendes Phänomen oder doch eher ein typisches Medien- oder Politmarketing-Konstrukt? Um die Frage zu beantworten, sind folgende Faktoren zu beachten.
Reisserische Medienkonstrukte
Die SVP – zuletzt bei Wahlen und Abstimmungen nicht immer erfolgreich – sucht sich seit Monaten mit Sensationsmeldungen zu profilieren. Nach Meinung ihrer Strategen eignen sich dazu: Covid-19-Pandemie, EU-Rahmenabkommen und neuerdings der Stadt-Land-Graben. Die Totalopposition gegen bundesrätliche Vorhaben, Beschlüsse des National- und Ständerats und das Ausheben eines fiktiven Stadt-Land-Grabens sollen die Chancen für die Wahlen im 2022 erhöhen.
Die weitverbreitete Untugend des Abschreibens von Sensationsmeldungen in Medienredaktionen ist in Zeiten des Abonnentenschwundes bei Printmedien ein kläglicher Versuch, Aufmerksamkeit zu generieren. Heute eine Topstory im Blick, morgen «eigenrecherchierte» Beiträge zum gleichen Thema in weiteren fünf Tageszeitungen und übermorgen seitenfüllende Berichterstattung in allen Medien.
Ist die Spaltung der Schweiz tatsächlich eine gefährliche Entwicklung oder wird sie nicht eher systematisch als Drohkulisse aufgebaut, weil sich die Thematik vorzüglich dazu eignet, Wahl- und Abstimmungskampf zu betreiben? Aufgebaut von exakt jenen Kreisen, die explizit vor dieser Spaltung warnen?
Verlorene Freiheiten?
Wenn an der Delegiertenversammlung der SVP in Granges-Paccot im August 2021 die Anwesenden mit 181 zu 23 Stimmen für das Referendum gegen das vorliegende Covid-19-Gesetz stimmten, war wohl die Corona-Impfung Hauptgesprächsthema. Doch eigentlich müsste der Verein «Freunde der Verfassung» genannt werden, diese Gruppierung von Impfgegnern, die gegen den Impfzwang antreten, ihn als extrem und unnötig abtun.
Diese Rechtsaussen-Gruppe wiederum steht nicht allein da im Kampf für eine Rückgewinnung von Freiheiten, die sie als verloren betrachtet. Auch ohne Detailkenntnis scheint es offensichtlich, dass ihre Anstrengungen wohl unterstützt werden vom «Aktionsbündnis Urkantone», vom «Netzwerk Impfentscheid», von «Mass-Voll», von der jungen SVP und der SVP, vom «Bürgerforum Schweiz», von der «EDU» («Eidgenössisch-Demokratische Union») und «Stiller Protest». Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie gar nicht so still protestieren und dass sie die einschränkenden Massnahmen zur Corona-Bekämpfung mehrheitlich als einer Demokratie unwürdig und als persönliche Freiheitsberaubung betrachten.
Man kann natürlich Freiheit individuell interpretieren. Tatsache bleibt, dass dieser Begriff nur dann korrekt verstanden ist, wenn «die Freiheit des Einzelnen nicht jene des andern einschränkt». Sowohl diese Einschränkung als auch die Tatsache, dass ungeimpfte Menschen für den Fortbestand der Pandemie verantwortlich sind (98 Prozent der Coronabetten in den Spitälern sind durch Impfverweigernde belegt), sollten eigentlich die endlosen Diskussionen um die Impfpflicht begründen.
Heuchlerische Medien
Die Rolle der Medien ist tatsächlich oft sehr diskutabel und trägt zur verwirrenden Situation bei. So berichtet die Redaktion des «Tages-Anzeigers» in der Ausgabe vom 13. Oktober 2031 auf Seite 2 gross über das Versagen der Befürworter der Covid-19-Gesetzesänderung im laufenden Abstimmungskampf. Diese überliessen das Feld den Gegnern, weil sie sich offensichtlich der Sache zu sicher seien.
Einige Seiten weiter hinten folgt dann in der gleichen Ausgabe eine ganze Seite über Sibylle Berg als Anführerin einer neuen, linken Anti-Covid-19-Truppe. Auch Berg bemüht den Begriff Freiheit: «… ob die Freiheit, die alte, wieder zurückkehrt?» («NZZ»), fragt sie in ihrer Argumentation gegen das Zertifikat. Ob das eine ganze Seite rechtfertigt?
Verschiedene Weltanschauungen
Vielleicht sollten wir – bevor die Diskussionen um Covid-19 weiter eskalieren – einen Schritt zurücktreten und uns bewusstwerden, dass es hier offensichtlich auch um Emotionen contra Argumente geht. Eigentlich darf man von zwei unterschiedlichen Weltanschauungen sprechen: Bei den Vorlage-Gegnern ist wohl eine gewisse fundamentale Skepsis gegenüber dem Fortschritt festzustellen, natürlich auch ein grosses Misstrauen gegenüber dem «Establishment» (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft). Als Folge «glauben» diese Kreise den Skeptikern – glauben wird im Duden mit «zu wissen meinen» umschrieben.
Die befürwortenden Kreise verlassen sich auf die Wissenschaft, die sich eigentlich weltweit in einer Sache sicher ist: Nur durch Impfung ist die Covid-19-Pandemie zu überwinden.
Angesichts dieser gegensätzlichen Weltanschauungen ist ein erbitterter Kampf gegen den anderen völlig wirkungslos. Eher braucht es eine gewisse Grosszügigkeit und ein Grundvertrauen, dass sich unser Land nicht so rasch spalten lässt.
Ausgangslage
Mit 169 zu 13 (und 13 Enthaltungen) und 44 zu 0 stimmten National- und Ständerat dem vorliegenden Änderungsvorschlag zu. Ihre Argumentation: besserer Schutz von Menschen und Unternehmen, Vereinfachung von Auslandreisen durch das Covid-Zertifikat, Ausweitung wirtschaftlicher Hilfe.
Für die diversen Referendums-Komitees ist diese Gesetzesänderung unnötig und extrem und führt zu einer Spaltung der Schweiz und zu einer massiven Überwachung von allen. Ihres Erachtens genügen die bestehenden Gesetze.