Während siebzig Jahren hat eine einzige Singstimme – jene der Playback-Sängerin Lata Mangeshkar – den Emotionen und Affekten eines ganzen Landes Ausdruck gegeben. Am Sonntag ist sie 92-jährig verstorben.
Ein typischer Wintermorgen in Indien – ob in einem Himalayatal oder an einem palmenumsäumten Malabar-Strand – ist ein feiner Morgendunst, oft mit dem Geruch von Herdfeuer vernebelt. Winterzeit ist aber auch Hochzeitssaison, und so hört man oft auch Lautsprecher-Musik, die irgendwo den Beginn einer Hochzeitsfeier ankündigt: Hindi-Filmsongs, religiöse «Bhajans» oder das dumpfe Stampfen von «Panjabi-Rock».
Am Montagmorgen war es anders. Auf meinem Morgenspaziergang hörte ich aus unterschiedlichen Richtungen Hindi-Filmsongs, mit einer einzigen, unverkennbaren Stimme – jener von Lata Mangeshkar. Indiens «Nachtigal» war am Vortag verstorben, und ich stellte mir vor, dass in diesem Augenblick die Luft über dem ganzen Subkontinent von ihrer Stimme gesättigt war.
Staatstrauer
Denn ihr Verstummen stürzte das ganze Land in Trauer. Die Regierung hatte für Montag Staatstrauer angekündigt. Die Stille zwischen zwei Lautsprechereinlagen war also nicht nur dem frühen Morgen geschuldet. Es war auch die Ruhe eines offiziellen Feiertags. Die Balken-Überschriften der Morgenzeitungen galten für einmal nicht einer politischen Kalamität, sondern nur einer Person, und sie begnügten sich mit einem Wort: «Lataji».
Indische Musik ist für westliche Ohren wenig eingängig. Dies gilt für klassische und Populärmusik, mit instrumentaler oder stimmlicher Besetzung. Für mich war diese emotionale Distanz noch ausgeprägter bei Lata Mangeshkars Playback-Filmmusik. Ihre Stimme wirkte spitz und etwas dünn, und ihre leicht nasale Qualität weckte in mir Assoziationen kindlicher Fistelstimmen.
Über vier Oktaven
Deshalb konnte ich mich lange nur schwer «einstimmen» lassen von ihrer Musik, und ich rätselte über die Verehrung, die ihr, in ihrem Leben und Tod, entgegenschlug. Nur wenn man diese Vorbehalte ablegen konnte und unvoreingenommen zuhörte, erkannte man allmählich auch als musikalischer Amateur die stimmliche Reichweite – sie geht über vier Oktaven – und die vielen emotionalen Register, die sie beherrschte.
Lata Mangeshkar hatte, von ihrem fünften Lebensjahr an, von ihrem Vater, dem Besitzer eines Wandertheaters in Maharashtra, eine klassische Ausbildung erhalten. Ihr erster Schultag, so geht die Legende, soll auch ihr letzter gewesen sein. Sie war mit ihrer acht Monate alten Schwester Asha auf dem Arm erschienen und wurde prompt vom Lehrer nach Hause geschickt, weil er keine Säuglinge im Schulzimmer duldete.
Geburt eines Stars
Der frühe Tod des Vaters zwang das älteste von fünf Kindern, im Playback-Verfahren die Hindifilm-Lieder zu singen, mit denen Filme bis heute gespickt sind. Playback-Singer erhielten keine «Credits» im Filmvorspann. Aber da die Lieder immer an emotional zentralen Stellen gesungen werden, konnten die Singstimmen im Zuschauer eine Identifizierung bewirken, die auch der Sängerin zugute kam. Dies galt noch stärker für das früher dominante Medium des Radios, für das Filmsongs die beherrschenden musikalischen Inhalte lieferten.
Es bedurfte einer besonderen Stimme wie jener Latas, um den Liedern (und ihren Darbietern) die Bedeutung zukommen zu lassen, die sie dramaturgisch verdienten. Als die unbekannte 20-Jährige 1949 an einer zentralen Stelle eines Films ein Lied sang, passierte das, was heute mit «viral» bezeichnet würde: Tausende von Zuschauern und Radiohörern griffen zu Feder und Papier. Radio Ceylon, die damals auch in Indien populärste Radiostation, wurde von Hörerbriefen eingedeckt, die wissen wollten, wem diese unvergleichliche Stimme gehörte. Es war die Geburt eines Stars.
Taj Mahal und Lata Mangeshkar
Lata Mangeshkar wurde fast über Nacht die Königin der Playback-Songs und blieb es für die nächsten fünfzig Jahre. Auch wer weiss, wie zentral das Film-Medium für Indien als emotionale kulturelle Ausdrucksform ist, kann sich kaum vorstellen, was dies für die Stimme und die Sängerin bedeutet, die diesem breiten Fächer von Gefühlen und Stimmungen Expressivität geben muss.
«Man wird Mühe haben, sich in irgendeinem Land der Welt eine Künstlerin vorzustellen», schrieb der Philosoph Pratap Bhanu Mehta am Montagmorgen im «Indian Express», «die das kulturelle, emotionale und affektive Leben einer ganzen Nation so sehr gesättigt hat. Ihre Songs wurden zur Totalität unserer Gefühle, sodass es unmöglich scheint, sich unsere Affekte ausserhalb ihrer Lieder vorzustellen.» Ein populärer Spruch sagt es kürzer und drastischer: «Inder besitzen zwei Symbole, die allen gehören – der Taj Mahal und Lata Mangeshkar. Aber nur eines hat eine Stimme.»
Disziplinierten Professionalität
Man könnte hinzufügen: Dies gilt nicht nur für Indien, sondern auch für die Nachbarländer, allen voran Pakistan. Bis heute ist Lata Mangeshkar eine der wenigen indischen Ikonen, der Pakistaner ungeteilte Verehrung zollen. Eine der bittersten Verluste der Trennung beider Länder, so zitierte die Karachi-Zeitung «Dawn» eine Stimme, sei der Verlust von Lata Mangeshkar gewesen. Indische Zeitungen erinnerten an einen Zuhörerbrief, den ein pakistanischer Bewunderer einmal dem «All India Radio» geschickt haben soll: «Ihr könnt Kaschmir behalten, wenn Ihr uns nur Lata Mangeshkar überlässt.»
Wer eine derart massive kollektive Projektion durchstehen will – und dies über siebzig Jahre hinweg – braucht mehr als ein breites Stimmenregister. Lataji wurde ihrer Rolle als nationale Ikone gerecht, indem sie ihr stimmliches Talent mit einer disziplinierten Professionalität verband. Bis tief ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, als sie bereits über 75 Jahre alt war, feilte sie im Studio an einem Song, was bedeuten konnte, dass sie bis acht Stunden hinter dem Mikrofon stand, und bei jeder unvollkommenen Note mit der Aufnahme wieder von vorne begann.
Nehru in Tränen
Sie war nie verheiratet, und ob und wenn sie Männerbeziehungen hatte – das breite Publikum wusste nichts davon (und wollte es wohl auch nicht wissen). Sie vermied es, sich in der Öffentlichkeit zu engagieren, und wenn sie es tat, war kollektive Bestürzung oder Bewunderung die Folge. So hatte sie einmal ihrem Ärger Luft gemacht, dass unter ihrer Wohnstrasse in Mumbai ein Tunnel geplant war, der zwei Abschnitte einer neuen Küstenstrasse verbinden sollte. Die Folge (so will es zumindest der Volksmund): Die geplante Trasse wird nun einen Kilometer weiter westlich gebohrt.
Lata Mangeshkar wurde 92-jährig. Während über siebzig Jahren war sie die bestimmende kulturelle Leitgestalt des Landes. Und weil Musik und Film – und vor allem Filmmusik – bis heute die wichtigsten öffentlichen Ausdrucksformen emotionalen Lebens sind, hat sie bis heute alle Generationen erreichen können.
Das reicht von alten Menschen, die sich an Premierminister Nehru erinnern, der 1962 in Tränen ausbrach, als die junge Lata bei einem gemeinsamen Auftritt einen Filmsong als Tribut für die im indo-chinesischen Krieg gefallenen Soldaten darbot. Und es geht bis zu heutigen Millenials, die mit Latas spitzer und klarer Stimme in den Ohren gross geworden sind. «She was the voice of India’s broken and united heart», schrieb der «Indian Express» am Montag, und sein Karikaturist zeichnete ein Fahne auf Halbmast, mit der wehenden Trikolore in Form einer Musikpartitur.