Ich verstehe nichts mehr. Wir sind Demokraten. Wir sind Föderalisten. Wir sind für den Schutz und die Gleichberechtigung von Minderheiten. Wir sind für Dialog anstatt Gewalt. Der Westen hat in seinem Umgang mit der Ukraine-Krise alle diese Werte verraten.
Das ist kein Freispruch für Putin. Aber eine Kritik an uns Westlern, eine Anklage. Diese Kritik gilt für die ersten zehn Wochen dieser Krise seit Anfang März. Mit den Referenden in der Ostukraine hat vielleicht eine neue Phase begonnen. Man hört vereinzelt nuanciertere Stimmen.
Die Fehler der ersten zehn Wochen
Demokratie. Natürlich war der verjagte Janukowitsch korrupt. Aber immerhin war er von einer Mehrheit aller Ukrainer gewählt worden. Das hätte man mindestens einmal sagen können. Sein Sturz erfolgte im Kiewer Parlament nach dem nie erklärten Meinungswechsel einiger Mitglieder.
Föderalismus. Von Anfang an wusste man, dass in der Ostukraine ethnische Russen wohnen, die nicht in allem so fühlen wie die sich nach Europa sehnenden Menschen im Westen des Landes. In Europa und den USA wurde und wird aber die Ukraine nur als Gesamtstaat gesehen, dessen Einheit man verteidigen musste, weil er von Putin bedroht wurde.
Man hätte erwarten dürfen, dass wir die Westukrainer zum Dialog mit ihren östlichen Landsgenossen über eine Föderalisierung des Landes auffordern. Nichts davon. Es gab nur im Osten einen, der das tat: Putin. Sicher mit Hintergedanken. Aber was er öffentlich aussprach, war das richtige Wort. Das hätte aus dem Westen kommen sollen. Und nicht nur das Wort, sondern deutlicher Druck auf Kiew, mit seinen unzufriedenen Mitbürgern im Osten zu diskutieren. Soviel zum Dialog
Gewalt. In Syrien wurde Präsident Asad empört vorgeworfen: Du lässt auf dein eigenes Volk schiessen! In der Ukraine war es plötzlich umgekehrt. Als die Armee mit Panzern gegen die aufständischen Mitbürger loszog, war kein Wort der Kritik zu hören. Manchmal sogar Zustimmung, man musste schliesslich den Gesamtstaat Ukraine verteidigen.
Minderheiten. Es gibt in westlichen Grenzländern russische Minderheiten, die diskriminiert werden. In einer der kurzen Auslandmeldungen der NZZ war am 29. März zu lesen: „Ein Komitee des Uno-Menschenrechtsrats hat den Umgang Lettlands mit russischsprachigen und anderen Minderheiten kritisiert.“ Sie würden „durch strikte Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Selbst im Privatsektor würden sogenannte `Nichtbürger` von einigen Berufen ausgeschlossen.“ Das seien etwa 13 Prozent der Bevölkerung.
Im Westen nirgends eine Reaktion. Niemand hat einen Reporter hingeschickt. Weder jetzt noch in den letzten zehn Jahren war von einer Mahnung der EU und der Nato an ihr Mitgliedland zu hören, seine Minderheiten anständig zu behandeln. - Das Ressentiment der Letten ist ja verständlich. Stalin hatte zehntausende von Russen nach Lettland verpflanzt, um es zu russifizieren. Aber 25 Jahre nach 1989 und neun Jahre nach dem EU-Beitritt darf man von den Letten verlangen, ihre Russen als Mitbürger zu behandeln.
Hysterische Reaktion auf Putins Machtpoker
Nochmals: Das ist kein Freispruch für Putin. Putin ist ein Machtpolitiker, der nicht frontal angreift, sondern an einer langen Front mit Menschen, Grenzen und seinen Regimentern Poker spielt. Der Wunsch nach Wiederanschluss der Krim war verständlich, sie war 200 Jahre lang russisch gewesen und von Chruschtschow der Ukraine nur „geschenkt“ worden, weil er ein Jahr nach Stalins Tod im Machtkampf um die Diktatur Sowjetrusslands Verbündete brauchte und weil sich weder er noch sonst in der ganzen Welt jemand vorstellen konnte, die Ukraine werde einmal ein selbständiger Staat sein.
Aber wie Putin die Krim heimholte, ist inakzeptabel: im Handstreich, alles Recht missachtend, innert zwei Wochen ein Referendum organisierend, dessen Resultat massiv gefälscht wurde, wie Putins eigener Menschenrechtsrat kürzlich enthüllte und kritisierte. Auch wenn er zwischendurch mal einen gemässigteren Ton anschlägt, wie „Ostukrainer, verschiebt euer Referendum“, ist immer ein Hintergedanke dabei. Er wusste natürlich, dass sie diese Bitte ablehnen würden.
Aber der Westen hat sich von Putin ins Bockshorn jagen lassen und mit einer Hysterie reagiert, die nur noch pauschal das Wiederaufleben eines generellen Ost-West-Konfliktes sah, Kommentare und Reaktionen nur noch in diesen Rahmen stellte, nichts mehr differenzierte und Kiew in allem was es tat kritiklos unterstützte.