Der «Kampf der Kulturen» ist in eine neue Phase übergegangen: zum Kampf in den Kulturen. Im Nahen Osten führt die Islamisierung dazu, dass sich innerhalb der gleichen Kultur und Religion Fraktionen von Gläubigen bis aufs Blut bekämpfen und eine Unmenschlichkeit kaum fassbaren Ausmasses gegenüber dem «Andern» demonstrieren.
Der Assimilations-Kontrast-Effekt
Kultur lässt sich auf zahlreiche Arten definieren. Ich wähle für dieses Muster der Gewalt eine möglichst neutrale Definition: Kultur ist die Art und Weise, wie Menschen in einer Gruppe zusammenleben, wie sie ihre Erfahrungen ausdrücken, bewahren und weitergeben. Die jüdische, französische oder Tigraykultur ist das, was Juden, Franzosen oder Tigray zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten tun. Kultur ist eine Art von Etikett, das wir einem notorisch komplexen Gruppenverhalten anheften, um es auf diese Weise überschaubar und handlich zu beschreiben: eine Erfindung zur Komplexitätsreduktion, könnte man sagen.
Dabei zeigt sich schon hier ein Phänomen, das in der Sozialpsychologie als Assimilations-Kontrast-Effekt bekannt ist. Wenn wir beispielsweise ganz verschiedene Menschen zu einer Gruppe vereinen und dieser Gruppe einen Namen geben, dann tendieren wir dazu, die Gruppenzugehörigkeit vor den individuellen Unterschieden wahrzunehmen. Die Kollektivwahrnehmung moduliert sich sozusagen der Individualwahrnehmung auf. Sie assimiliert die Individuen und setzt sie gleichzeitig in Kontrast zu Individuen anderer Gruppen.
Kulturelle Bindungsenergien
Natürlich geht es nicht um Namensgebung. Es geht um menschliche Geschichten, Schicksale, Identitäten: «das» jüdische oder palästinensische Volk, «die» russische Welt, «die» asiatische Mentalität. Den Stoff für dieses Assimilations-Kontrast-Verfahren beziehen wir aus Gründungsmythen, Herkunftserzählungen, nicht zuletzt: aus der Religion.
Das Verfahren, Individuen mittels einer kleinen Zahl von Eigenschaften zu einem Kollektiv zusammenzufassen, verliert seine Unschuld, wenn es wie bei einem Magneten zur Gleichrichtung der Köpfe führt und dadurch ein starkes kollektives Kraftfeld erzeugt, für das es nur Anziehung oder Abstossung gibt. Dann verwandeln sich Identitäten in Waffen.
Besonders gefährlich wird dieser Prozess, wenn er sich religiösen Imperativen unterwirft, die ja in der Regel mit Absolutheitsansprüchen – im Besonderen mit Ansprüchen auf «heilige» Ländereien – auftreten. Solche Ansprüche bergen eine Brisanz, die sich groteskerweise als umso wütender und kompromissloser erweist, je mehr «absolute» Spaltprodukte es gibt. Glauben bindet den Menschen nicht nur an einen Gott, sondern bindet Menschen zusammen. Und die Bindungsenergien, die bei religiöser Spaltung frei werden, sind verheerender als die von Hiroshimabomben.
Der Missbrauch des Kulturbegriffs
Das Problem ist nicht die Religion, sondern ein allgemeiner Effekt, der aus einer übermässigen kulturellen Bindung resultiert, und durch multikulturelle Zerstückelung und fahrlässige politische Korrektheit verstärkt worden ist. Er beruht auf zwei Axiomen: 1) der Idee plombierter Identität, der Idee also, Kultur «besitze» uns wie ein bleischweres Schicksal; und 2) der Idee, Kulturen seien so etwas wie den Individuen übergeordnete «Essenzen». Kultur verselbständigt sich dann zu einer Entität, die besonderen Schutz reklamiert, nicht selten über Recht und Existenz der Individuen hinweg. Hier beginnen die Kämpfe der Sonderinteressen. Ist der «Islamische Staat» nicht auch Ausgeburt eines solchen Interesses?
Und genau hier liegt der Ansatz zum Missbrauch, ja, zur Vergewaltigung des Kulturbegriffs, vor allem dann, wenn er zur Legitimation herbeigezogen wird. Die Dänen Jens-Martin Eriksen und Frederik Stjernfelt schrieben vor vier Jahren ein lesenswertes, leider viel zu wenig beachtetes Buch über «The Democratic Contradictions of Multiculturalism» (2012), in dem sie klar den Punkt hervorhoben: «Auf alle Fälle – sei er reformistisch, revolutionär oder terroristisch – ist sich der Islamismus darin einig, dass die Gesellschaft nach den Prinzipien der Scharia organisiert werden muss. Wenn diese Forderung nun als ‚Kultur’ kategorisiert wird, ermöglicht dies eine Zurückweisung jeglicher externer Kritik als ‚islamophob’ oder ‚rassistisch’, weil die Kritik nicht den ‚Respekt’ vor einer ‚Kultur’ zeigt. Gegenwärtig sind wir Zeugen, wie islamistische Bewegungen – Deobandi, Wahabismus, Salafismus und Muslimische Bruderschaft – sich sozusagen unter Kulturschutz befinden; sie sind nicht politische Programme, sondern in Wirklichkeit ‚Kulturen’, welche eo ipso nicht kritisiert werden können.»
Les extrêmes se touchent
Um nicht missverstanden zu werden: Nicht der Islamismus allein, auch wenn ihm zur Zeit traurig-schändliche Notorietät zukommt, steht im Fokus. Ein pikantes Beispiel nebenbei: Der französische Chirurg und Nobelpreisträger Alexis Carrel, Verfechter einer mit biologischen und theologischen Versatzstücken verkleisterten reaktionären Kultur-Bricolage, war grosses Vorbild von Sayyd Qutb, einem der Vordenker des modernen Islamismus. Carrel lobte 1939 den «Glauben» der deutschen und italienischen Jugend, die bereits sei, sich «für ein Ideal zu opfern».
Im Fokus also steht vielmehr eine Ideologie, die Kultur (auch Religion) als Mittel geistiger Konditionierung einsetzt. Wenn Herder noch schreiben konnte «Ohne Kultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum», so müsste man – eingedenk islamistischer Bluthunde – den Satz heute umkehren: Der Mensch kann auch zum «brutum» werden, wenn er sich blindwütig nur an eine «Kultur» – oder was er dafür hält – verdingt.
Ent-Kulturalisierung kultureller Konflikte
Was deshalb not tut, ist eine Entschärfung kultureller Konflikte im Sinne einer Ent-Kulturalisierung; dadurch also, dass man nicht immer gleich das Öl kultureller Identität, Herkunft, Werte ins Feuer der politischen Auseinandersetzung giesst. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass man nun die Besonderheiten kulturell geprägter Lebens- und Denkformen verabschiedet. Es bedeutet, dass man Konflikte nicht immer gleich «kulturalistisch» auflädt, sondern sie zu unterlaufen sucht.
Was heisst das konkret? Eine Antwort (keine Patentlösung) liesse sich an einem Trend in der scheinbar ausweglosen Konfliktzone zwischen Israelis und Palästinensern ablesen. Gerade der jüdisch-arabische Flickenteppich der Westbank könnte sich womöglich als Experimentierfeld einer Ent-Kulturalisierung eignen, denn offensichtlich beginnt eine von Propaganda und Krieg allmählich angewiderte junge Generation von Palästinensern sich eines «anderen» Lebens zu besinnen.
Und dieses Leben heisst: einen Job haben! (Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen wird im Nahen Osten und in Nordafrika bis 2020 auf 100 Millionen geschätzt). Dieses Leben heisst: nicht in ein kollektives Schicksal von Herkunftszwängen eingespannt zu werden. Der Politologe Heinz Theisen schreibt kürzlich in «Scheidewege» dazu (Nr. 44, 2014): «Der revolutionäre Gestus dieser Generation besteht darin, ‚Ich’ zu sagen, in einer Welt der verfeindeten ‚Wir’. Es gibt unter den arabischen Jugendlichen trotz aller Rückschläge eine messbare Aufbruchstimmung, die sich nur aus den erkannten Fähigkeiten der Selbstmobilisierung erklären lässt. Der Geist der Selbsttätigkeit ist aus der Flasche. Obwohl sie noch lange nicht an der Macht sind, erwarten 74 Prozent der Jugendlichen, dass die «besten Tage» vor ihnen liegen (...) Mangelnde politische Erfolge sind nicht entscheidend. Wirtschaftliche Lebensbedingungen seien wichtiger als das Leben in einer Demokratie.»
Zivilisiertheit statt Kultur
In westlichen Ohren klingt das natürlich verdächtig, gehört doch Demokratie zum Kulturexport des «Abendlandes». Aber vielleicht sollte wir uns – definitiv nach dem Export der Bush-Demokratie in den Irak – allmählich vom Gedanken verabschieden, «Demokratie» habe nur eine einzige Bedeutung. Sie ist das Dach eines politischen Hauses, dessen Grundsteine von den Einheimischen selbst gelegt und dessen Stockwerke – etwa Ausbildung und Bildung – erst noch gebaut werden müssen. Und dazu ist der Individualismus engagierter, wissenshungriger, fähiger Leute mit einer beruflichen Zukunftsperspektive vermutlich besser geeignet als dubiose kollektive Identitäten, die jungen Menschen von ideologischen Giftmischern als pervertierter Lebenssinn eingeträufelt werden. Das demokratische Potenzial eines solchen Hausbaus «bottom up» ist nicht zu unterschätzen.
Theisen spricht von einem «notwendigen Paradigmenwechsel (...) weg von kollektiven Identitäten, hin zu individuellen Entwicklungen, weg von Nation und Religion, hin zu Funktionsimperativen der Zivilisation.» Ohnehin bauen Kulturen beides, Bindungen (nach innen) und Brücken (nach aussen). Sie wachsen nicht nur aus Wurzeln, sondern treiben auch Äste. Und wenn wir uns auf sie hinauslassen, werden wir entdecken, dass andere das ebenfalls tun. Das ist eine wunderbar befreiende Erfahrung. Aber sie gedeiht nur unter Menschen, die ihre partikulare Kultur selber wählen und leben können. Wer freilich seine Identität bloss als exklusive Zugehörigkeit zur «eigenen» Kultur interpretiert, hat keine Kultur, ist unzivilisiert. Kulturen (und Religionen) müssen, anders gesagt, zivilisiert werden. Das könnte ein zukunftverheissendes Projekt sein.