Es wird dem Autor erlauben, genussvoll in der Schatzkiste seiner Erkenntnisse zu wühlen und die hochkarätigsten Juwelen zu einem formvollendeten Geschmeide zu verarbeiten. Es ist das goldene Ei, aus dem die Wahrheit hervorbrechen wird. Aber bald beginnt der Sinkflug zur Landung auf der Realität.
Dann wechseln diese lichten Phantasien mit dem Suchen nach dem richtigen Zugang. Je näher das Schreiben rückt, desto unausweichlicher stellen sich die unbeantworteten Fragen. Das, was von weitem wie ein vollkommener Wurf ausgesehen hat, zeigt langsam seine Widersprüche und Schwachstellen. Die Erkenntnisse, die aus der Distanz so schön funkelten, halten der kritischen Überprüfung nicht stand und müssen neu überdacht werden. Die Transformation eines vagen Wunschbildes in einen konkreten Text ist eine Herausforderung, für die man sich entscheiden muss, bevor man weiss, worauf man sich einlässt, weil sie erst in der realen Umsetzung erfassbar wird. Jedes lesenswerte Buch begann als unkalkulierbares Risiko.
Mangelnde Erfahrung ist kein Hindernis, im Gegenteil
Trotzdem beginnt das Schreiben oft mit einem Hochgefühl. Hoffnungsvoller Enthusiasmus bringt das Unternehmen in Fahrt. Die Begeisterung für das entstehende Buch drängt alle Bedenken in den Hintergrund. Es wird sich die dazu benötigte Zeit nehmen, wie immer das reale Zeitbudget aussieht, und zweifellos seine ihm gerechte Form finden.
Mangelnde Erfahrung ist kein Hindernis. Im Gegenteil: Zu viel Erfahrung dämpft den Anfangsoptimismus durch das Wissen um all die Fussangeln auf dem Weg des Schreibens. Das grosse Projekt legitimiert eine ausgedehnte Recherche. Man darf sich ohne schlechtes Gewissen der Lektüre hingeben. Welch ein Luxus, neu auftauchende Spuren verfolgen zu können und nicht alles sofort an die ganz kurze Leine der Effizienz nehmen zu müssen.
Nun sind Reisen an den Schauplatz der Handlung erlaubt, und wer weiss, ob nicht in einer abgelegenen Bibliothek noch nie aufgespürte Fakten zu entdecken wären. Die Recherche bietet immer neue Ausblicke, und ein Feuerwerk von Ideen entzückt das innere Auge. Die Lust, sich zu informieren, Material bereitzustellen und in einem anfänglich chaotischen Informationshaufen Rhythmen und Strukturen zu erspüren, beflügelt. Die Umrisse des Buches werden deutlicher, und die freudige Ungeduld, sie zu füllen, wächst. Die dem Buch dienlichen Gewohnheiten etablieren sich.
Das Buch lässt keine andere Anliegen aufkommen, sondern zieht alle Energien an. Sein Schwung fegt alle Hindernisse zur Seite. Autor, Thema, Anspruchsniveau und Zeitbudget harmonieren und bescheren dem Glücklichen Höhenflüge vor dem Computer. Die Muse lässt den Autor nicht mehr aus den Armen, verscheucht jeden Selbstzweifel, überbrückt Unterbrechungen und flüstert ihm die schönsten Formulierungen ins Ohr. Der Computer ist magnetisch und sein Sog erübrigt jede Disziplin. Es gibt ohnehin nur eines: Schreiben.
Der Autor muss für Überraschungen gewappnet sein
Zwischen der leichten Geburt, bei der das Buch nur so herausflutscht, und dem sperrigen Buch, das sich seiner Realisierung verweigert, liegen alle Varianten des Abenteuers Buchschreiben. In der Regel müssen die Sternstunden am Computer hart verdient werden. Die volle Übereinstimmung von Angestrebtem und zu Papier Gebrachtem lässt sich kaum erreichen und treibt den Autor von Überarbeitung zu Überarbeitung.
Das Ringen um den angemessenen Ausdruck bringt den Autor zur Verzweiflung. Schreiben ist Knochenarbeit. Die Entwicklung des Buches bringt immer neue Informationen, die Anpassungen verlangen. Es bildet sich eine Struktur heraus, die weitere Ideen anzieht. Und schon verschwindet diese Struktur unter der Ideenflut, und das Ganze muss nochmals anders gefasst werden. Oft kann nur eine radikale Richtungsänderung das von zu vielen Möglichkeiten zugedeckte Buch auf ein neues, zielführendes Geleise setzen.
Die optimale Entfaltung eines Buches setzt einen flexiblen Autor voraus, der den Überraschungen durch das Entstehende gewachsen ist. Wechselbäder während des Schreibens müssen ausgehalten werden: Verwirrung folgt auf Inspiration, leichtes Sprudelnlassen löst anstrengendes Durchkämpfen ab, und man pendelt zwischen Demotivierung und Erfüllung. Wenn es lange und häufig harzt, drängt sich die Frage auf, ob es sich nur um einen temporären Engpass handle oder um Schlimmeres.
Günstigenfalls braucht es wenig, um erneut in Fluss zu kommen. Nur schon äussere Faktoren, wie zu wenig Zeit und konkurrierende Verpflichtungen, können ein Buch bedrohen, und die Arbeitsbedingungen müssten verbessert werden. Auf die Inspiration zu warten, ist nicht ratsam. Sich regelmässig hinzusetzen schon eher. Ein zuverlässiger Arbeitsrhythmus fördert das Schreiben. Manchmal hilft es indessen, den Nahkampf mit einem widerspenstigen Buch für eine Weile aufzugeben und soweit auf Distanz zu gehen, dass der Überblick auf das Buch und sein ganzes Umfeld wieder möglich wird. Eine Pause lockert den Würgegriff des Buches. Wegschauen kann Wunder wirken. Während man mit anderem beschäftigt ist, bringt sich das Buch in eine neue Ordnung, und wenn man das nächste Mal hinschaut, ist sie da.
Um drei Uhr aus dem Ehebett schleichen
Das entstehende Buch wird zum eigendynamischen Dritten in der Paarbeziehung. Die Autorin, die morgens um drei Uhr aus dem Ehebett an den Computer schleicht, weil sie zu aufgekratzt ist um zu schlafen, ohnehin an nichts anderes denken kann und den eben gelandeten Einfall unbedingt sofort festhalten muss, ist möglicherweise nicht die aufmerksamste Partnerin. Das Dreieck Buch und Paar kann wie jedes Dreieck Dramen generieren.
Das Buch verschlingt die Autorin mit Haut und Haar und Knochen, sodass für den Partner nur noch eine geistesabwesende Hülle übrigbleibt, und der solchermassen Marginalisierte wünscht das Buch ins Pfefferland. Ein Buch, das die Autorin abweist, schickt seine Frustrationswellen in die Partnerschaft. Falls sie auf Trost anspricht, verstärkt das böse Buch die Ehebande. Falls sie sich abkapselt, um ihre Wunden allein zu lecken, leidet der Partner in der Kälte der Isolation hilflos mit. Im Gegensatz dazu kann das Buch als gemeinsames Anliegen eines Paares die Partnerschaft stärken, ihm Gesprächsstoff liefern und die beiden miteinander auf sachdienliche Reisen schicken.
Der Mann hält der Autorin den Rücken frei, bekocht sie und steht als Gesprächspartner und Testleser zur Verfügung. Seine Anregungen sind nie bedrängend, denn er respektiert das exklusive Tête-à-tête zwischen Buch und Autorin, das der kreative Prozess voraussetzt. Der Mann kommt auf leisen Sohlen im richtigen Moment mit einer Tasse Tee, zieht sich sofort wieder zurück und wartet in selbstgenügsamer Heiterkeit auf den nächsten Einsatz, beispielsweise eine notfallmässige Zähmung ihres bockigen Computers. Schön wär’s auf jeden Fall.
Will man sich der Willkür eines Verlags aussetzen?
Nicht immer passen Autor und Buch gut zusammen. Wer Pech hat gerät an eine Loreley, die den Sehnsüchtigen grausam am Felsen zerschellen lässt. Der Autor irrt von Sackgasse zu Sackgasse, und je mehr er sich bemüht, desto nachdrücklicher wird er abgewiesen. Es ist nichts zu machen. Das Buch hebt einfach nicht ab. Es hat einen peinlichen Schönheitsfehler, nämlich seine kapriziösen Manieren auf dem Weg zur Realisierung. Der rote Teppich ist längst ausgerollt. Weshalb formieren sich die vielen Ideenskizzen, die Auszüge und die buchzeichengespickten Bücher, die sich auf dem Schreibtisch und auf dem Boden türmen, die prall gefüllten Karteikästen und Computerdateien nicht endlich zu einem geordneten, unaufhaltsam auf den Thron der Publikation zuschreitenden Umzug? Publikation?
Weshalb sollte ein von unaufgeforderten Manuskripten überschwemmter Verlag ausgerechnet dieses Buch in sein Programm aufnehmen wollen? Will man sich der Willkür eines Verlags aussetzen, der mit einem falschen Titel oder einem schlechten Umschlag einem Buch zum vornherein jede Chance nehmen kann? Ist es überhaupt nötig, sich in den Markt zu drängen, um bei einem längst übersättigten Publikum um Aufmerksamkeit zu werben? Kann man damit leben, wenn das Buch schlecht besprochen oder, noch schlimmer, überhaupt nicht bemerkt wird und liegen bleibt? Braucht die Welt nun wirklich ein weiteres Buch? Das Schreiben des Buches ist erst der Anfang. Was nachher kommt muss auch noch durchgestanden werden. Nur wer vom Schreiben hoffnungslos fasziniert ist, nur wer sich mit einem Thema auseinander setzen muss, nur wer gar nicht anders kann, sollte sich auf ein Buch einlassen. Dann wiegt die Freude am Weg mögliche Enttäuschungen am Ziel auf. Einseitig narzisstisch Motivierten droht ein böses Erwachen.
Das ungeschriebene Buch wird zur Galeere
Das ungeschriebene Buch und der Autor können einander so quälen, dass man sich wundert, weshalb die beiden sich nicht trennen. Vielleicht ist es für das berufliche Fortkommen unumgänglich. Vielleicht fesselt ein Vertrag mit dem Verlag den Autoren an das Buch, womöglich mit Vorauszahlungen und Terminplan. Schlechte Gründe, nicht auszusteigen, gibt es zuhauf. Man hat schon so viel Zeit und Mühe aufgewendet, dass Aufgeben unmöglich wird, und so lässt man sich noch und noch zu weiteren Anstrengungen verführen, auch wenn das ganze Unterfangen längst aussichtslos geworden ist.
Die Investition in das Verlustgeschäft wird zur mit falschen Begründungen gerechtfertigten schlechten Gewohnheit. Der Autor kann sich nirgends sehen lassen, ohne dass er nach dem Stand seines Buches gefragt wird, weil die Kunde seines bevorstehenden Erscheinens längst in die hintersten Winkel gedrungen ist. Er kann nur weiter machen oder sich blamieren. Und schliesslich: Was begonnen wird, muss auch zu Ende geführt werden. Das ungeschriebene Buch wird zur Galeere, und der Gefangene verliert jede Freiheit, weil er nur mit einem schlechten Gewissen etwas anderes machen darf, solange das Buch nicht fertig ist. Ein ungnädiges Über-Ich hat ihn fest in den Krallen.
Es braucht ein stabiles Selbstwertgefühl
Wenn das schwindende Vertrauen in den Entstehungsprozess die Freude daran vernichtet, muss das ganze Unterfangen neu überdacht werden. Eine Klärung ist nur über die Konfrontation mit den eigenen Prioritäten und Kompetenzen zu haben, eine Konfrontation, die je länger aufgeschoben desto schwieriger wird. Das entstehende Buch liefert Unerwünschtes und Unerwartetes mit. Eigentlich wollte man sich mit einem Stoff auseinandersetzen, und nun erzwingt der stockende Verlauf eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Jede Textproduktion hat auch mit der Relation von Anspruchsniveau und Kompetenz, mit Selbstsicherheit und letztlich mit dem eigenen Identitätsentwurf zu tun.
Nur merkt man das weniger, solange alles rund läuft. Wehe, wenn die Selbstzweifel überhand nehmen. Stimmt das, was ich da schreibe? Ist es nicht einfach nur banal? Wer bin ich, wenn mir dieses Buch nicht gelingt? Wenn etwas Selbstzweifel anheizen kann, dann das Schreiben. Jeder einzelne Satz ist eine Weichenstellung. Eine falsche Entscheidung, und der ganze Zug entgleist. Es braucht Mut, dranzubleiben und sich dieser Gefahr Wort für Wort, Satz für Satz und Kapitel für Kapitel zu stellen. Schreibrituale dienen dem Schutz vor dieser Angst, und es gibt Autoren, die nur in alkoholisiertem Zustand wagen, sich dem Buch zu nähern. Um diesen Tiger zu reiten, braucht es ein stabiles Selbstwertgefühl.
Es geht darum, sich mit dem nicht Erreichten zu versöhnen
Von diesem Tiger vorzeitig so abzusteigen, dass man keine Schäden davonträgt, ist eine Kunst für sich. Manchmal ist die Kumulation von zu vielen gescheiterten neuen Anläufen unüberwindlich und der Abbruch der ganzen Übung unvermeidlich. Es geht nun darum, die Identifikation mit dem Buch aufzugeben und sich vom unvollendeten Buch und seinen Forderungen zu befreien. Diese Befreiung setzt die Demontage des ganzen, das Buch tragenden Motivationssystems voraus. Das Verschwinden des Magnetberges Buch zieht Orientierungslosigkeit und Leere nach sich.
Die mit dem Buch verbundenen Hoffnungen müssen begraben und betrauert werden. Schlecht verabschiedete unvollendete Bücher verfolgen den ungetreuen Autor und überfallen ihn meuchlings mit Reue und Selbstentwertung. Nur das bewusste Akzeptieren des Verlustes schliesst das Energieleck. Es braucht Zeit, sich zu diesem Verzicht durchzuringen. Der strenge innere Zuchtmeister, der das Versagen verhöhnt, muss einer verständnisvolleren Stimme weichen, die ein neues Selbstverständnis, eine neue Selbstakzeptanz erlaubt. Es geht darum, sich mit dem nicht Erreichten zu versöhnen und zu einer von diesem Verlust unabhängigen Identität zu finden.
Diese innere Arbeit birgt indessen eine neue Chance. Der Verlust des Buches könnte durch einen daraus resultierenden Gewinn aufgewogen werden: Eine weitere Befreiung aus selbst- und fremdgeschaffenen Zwängen, Autonomie gegenüber eigenen und fremden Normen und das Verschieben der Prioritäten weg von dieser spezifischen Leistung in Richtung einer anderen Form von sinnvollem Wirken, ganz abgesehen von der neu zur Verfügung stehenden und erst noch von dräuenden Über-Ich-Wolken befreiten Zeit.
"Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit
Das ungeschriebene Buch verlangt, geschrieben zu werden. Jeder Realisierung geht ein hoffnungsvoller Traum voraus, der den Weg zum Ziel vorspurt. In einer inneren Parallelwelt beginnt sich das Werdende zu bewegen. Es entstehen Bilder, die die Gedanken anziehen. Das geheim sich Abzeichnende überstrahlt den Alltag und entführt in eine Phantasiewelt der unbegrenzten Möglichkeiten. „Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit“, sagt Heidegger.
Der Tanz mit den Visionen inspiriert und belebt. Es sind die schönen Umrisse des zu Entstehenden, die uns vorwärts tragen. Das ewig Mögliche zieht uns hinan. Ohne die Sehnsucht nach dem noch zu Erschaffenden fehlt dem Leben der entscheidende Kick. Deshalb kann die Lebensbegleitung durch ein ungeschriebenes Buch nicht genug empfohlen werden. Selbst seine Realisierung schadet nicht, weil es sich sofort durch ein neues ersetzt.