Diese Schwarz-Weiss-Malerei berücksichtigt weder die bewegte Geschichte der Ukraine noch die kulturelle Vielfalt seiner Bevölkerung. Wie schon bei früheren innenpolitischen Konflikten hat sich zwischen der Hauptstadt Kiew und dem Westen des Landes auf der einen Seite und der Ost- und Süd-Ukraine auf der anderen eine Patt-Situation ergeben. Der Westen ist überwiegend katholisch und seit Jahrhunderten in Europa integriert. Die orthodoxen und russischsprachigen Ostgebiete, dort wo sich die Bodenschätze, die Schwerindustrie und die Elektrizitätswerke befinden, blicken seit jeher nach Russland.
Ein Sonderfall ist die Krim, die historisch nichts mit der Ukraine gemein hat. Der einstige Kremlherrscher Nikita Chruschtschow, der seine politische Karriere als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine begann, „schenkte“ die grosse Halbinsel 1954 der südlichen Sowjetrepublik anlässlich des 300. Jahrestags eines Vertrags, der die damalige Ukraine zu einem russischen Protektorat machte. Es war bloss eine symbolische Geste, denn Chruschtschow konnte sich gewiss nicht vorstellen, dass die Sowjetunion zerfallen würde.
Hitler und die Ukraine
Im 18. Jahrhundert teilten zwei Frauen Polen und die Ukraine unter sich auf: die österreichische Kaiserin Maria Theresia und die russische Zarin Katharina II. Österreich erhielt Galizien und die Bukowina, Russland den Rest der Ukraine. Zur gleichen Zeit nahm Katharina die Grosse in mehreren Kriegen den Türken die Halbinsel Krim ab und besiedelte sie mit russischen Bauern. Daraus entstand die Legende von den „Potemkinschen Dörfern“. Sie war eine Erfindung westeuropäischer Gesandter beim russischen Hof.
Galizien und die Bukowina gehörten von 1772 bis 1918 zu Österreich. Die beiden Regionen erlebten während dieser Epoche eine starke kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung. In Lemberg (heute Lwiw) und Czernowitz (Tschernowzy) entstanden Universitäten und Fachschulen, aus denen zahlreiche Geistesschaffende von Weltruf hervorgingen. Im reichen Bürgertum galt es als schick, zu einem Opernbesuch nach Wien zu reisen. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zogen dann Hunderttausende meist ärmliche Juden in die österreichische Hauptstadt, was den Antisemitismus unter den Eingesessenen verstärkte. Hitlers Judenhass entstand während seiner Wiener Jahre. In „Mein Kampf“ beschreibt der spätere Führer auch seine Abscheu gegenüber den ukrainischen Abgeordneten im Parlament, die er als Fremdkörper empfand.
Die Wiege Russlands stand in der Ukraine
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Zerschlagung des Habsburgerreichs fiel Galizien an das wiedererstandene Polen und die Bukowina an Rumänien. Im Zweiten Weltkrieg leibte sich die Sowjetunion beide Gebiete ein. Um eine komplizierte Geschichte kurz zu machen: Die Bevölkerung der West-Ukraine fühlt sich traditionell mit Europa verbunden.
Umgekehrt sind sich die Historiker einig, dass die Wiege Russlands in der Ukraine stand. Der „Kiewer Rus“, der erste Staat der ostslawischen Stämme, führte im 10. Jahrhundert den christlichen Glauben byzantinischer Prägung und die von der griechischen Schrift abgeleiteten kyrillischen Buchstaben ein.
Zwischen Russen und Ukrainern besteht keine kollektive Feindschaft. Ihre Sprachen sind sich sehr ähnlich. Die aus der „orangen Revolution“ hervorgegangene Regierung versuchte eine Kampagne gegen Russland wegen der Hungerstrategie Stalins in den dreissiger Jahren anzuzetteln. 1931 bis 1933 hatte der Kreml den Widerstand der Bauern gegen die Kollektivisierung der Landwirtschaft durch die Vernichtung ihrer Ernten und Haustiere gebrochen. Allein in der Ukraine verhungerten zwei bis drei Millionen Menschen.
Eine Million Ukrainer in Moskau
75 Jahre später veranstaltete die Regierung in Kiew Kundgebungen zur Erinnerung an den „Holodomor“, wie sie den Massenmord durch Nahrungsmittelentzug nannte, und befasste sogar die UNO mit der Sache. Das Wort „Holodomor“ lehnt sich nicht zufällig an den „Holocaust“ an. Dass Stalin speziell die Ukraine mit der Hungerwaffe in die Knie zwingen wollte, ist allerdings nicht bewiesen, denn auch in Russland verhungerten damals Millionen Menschen. Immerhin gelang es der ukrainischen Regierung 2008, das Europäische Parlament zu einer Resolution zu bewegen, in der Stalins Hungerstrategie als „furchtbares Verbrechen gegen das ukrainische Volk und die Menschheit“ verurteilt wurde.
Für die gewöhnlichen Bürger ist die Unabhängigkeit der Ukraine nicht unbedingt ein Gewinn, obwohl sie 1991 in einem Referendum mit über 90 Prozent der Stimmen gut geheissen wurde. Die in Moskau lebenden rund eine Million Ukrainer mussten plötzlich zwischen der russischen und der ukrainischen Staatsbürgerschaft wählen. Sie hatten sich vorher nie als Ausländer gefühlt. Wenn sie ihre Verwandten besuchen wollten, lösten sie in der Schalterhalle des Kiewer Bahnhofs einfach ein Ticket für den Nachtzug in die ukrainische Hauptstadt. Von einem Tag auf den andern wurde aus der Fahrt nach Kiew eine Auslandsreise, mit Aufenthalt an der Grenze, Zoll- und Passkontrolle.
Die Erwartungen nicht erfüllt
Ein Zankapfel bleibt die Krim. Die Hafenstadt Sewastopol war der Hauptstützpunkt der sowjetischen Schwarzmeerflotte. Nach der Auflösung der Sowjetunion teilten sich Russland und die Ukraine die Kriegsschiffe. Die beiden Flotten teilen sich auch die Hafenanlagen, doch der Vertrag läuft 2042 aus. Bis dahin müssen die Russen an der ihnen verbliebenen kurzen Küste des Schwarzen Meeres eine neue Basis bauen.
Der Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ stellte vergangene Woche in den Strassen von Kiew fest: „Es ist nicht zu übersehen, wie viele Demonstranten aus der West-Ukraine kommen.“ Auf die gleiche Weise hatte 2004 die sogenannte orange Revolution begonnen. Die EU und die USA unterstützten die aus dem Boden geschossene „Zivilgesellschaft“ grosszügig mit Geld und technischer Ausrüstung. Doch der 2005 gewählte prowestliche Präsident Viktor Juschtschenko und seine Premierministerin Julia Timoschenko erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen nicht. 2010 wurde der aus dem östlichen Landesteil stammende Apparatschik Viktor Janukowitsch zum Präsidenten gewählt. Seine „Partei der Regionen“ und deren Verbündete stellen derzeit die Mehrheit im Parlament. Das bekam die Opposition kürzlich bei ihrem abgelehnten Misstrauensantrag zu spüren.
An der Schnittstelle geopolitischer Interessen
Unter den Demonstranten befinden sich Gruppen, die sich an ultranationalistischen bis faschistischen Vorbildern orientieren. Die ukrainische Geschichte kennt nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Die deutschen Armeen wurden bei ihrem Einmarsch 1941 von vielen Ukrainern vor allem im Westen des Landes als Befreier begrüsst. Mehr als 220.000 Ukrainer kämpften im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Wehrmacht. Sie beteiligten sich eifrig an der Vernichtung der Juden. 1943 stellte Nazi-Deutschland eine aus ukrainischen Freiwilligen bestehende SS-Division „Galizien“ auf.
Kein Land kann sich seine geographische Lage aussuchen. Die Ukraine liegt an der Schnittstelle geopolitischer Interessen. Russlands Präsident Wladimir Putin hat mehrmals betont, dass er mit einer Annäherung der Ukraine an die EU leben könnte. Was er aber nicht hinnehmen will, ist der Eintritt des strategisch wichtigen Nachbarstaates in die Nato. Die Erfahrungen mit den einstigen Mitgliedern des aufgelösten Warschauer Pakts, den Baltenrepubliken und Georgien bestärken die russische Führung in ihren Einkreisungsängsten.