Die Rotkreuzschwester Violet Jessop war zu Beginn des letzten Jahrhunderts als Stewardess für die Schifffahrtsgesellschaft White Star Line tätig, für jenes Unternehmen, das aufgrund einer Unfallserie in zweifelhaften Ruf geriet. 1911 kollidierte die RMS Olympic mit einem andern Schiff, 1912 sank die Titanic, 1916 die Britannic. Bei allen Katastrophen war Violet Jessop dabei und sie überlebte.
Ein Mann steht in San Francisco am 26 Februar 1973 um elf Uhr vormittags am Spülbecken in seiner Küche und wird von einem heftigen Würgen angefallen, obwohl er nichts im Hals stecken hat. Anderntags erfährt er, dass sein Vater in Wilmington, Delaware, um die gleiche Zeit an Blut in der Kehle erstickt ist.
Am 11. September 2002, exakt ein Jahr nach dem Attentat auf das World Trade Center, lautete die Gewinnzahlenfolge einer New Yorker Lotterie („Pick 3“), in der man drei Zahlen von 0 bis 9 auswählen muss: 9-1-1.
Der Eros des Mysteriösen
Das ist natürlich das Rhizom, aus dem das Mystery-Gewächs schiesst. Dinge, die sich die Schulweisheit nicht zu erträumen wagt. Filme wie „Da Vinci Code“ oder „Sakrileg“, Fernsehserien wie „Lost“ oder neuerdings Netflixserien wie „Dark“. Immer stehen im Zentrum seltsame Koinzidenzen, die auf einen dahinterliegenden mysteriösen Zusammenhang hindeuten. Es mutet mitunter an, als dürstete uns im Zeitalter wissenschaftlicher und technischer Rationalität geradezu nach Irrationalität und Geheimnis. Es gibt den Eros des Mysteriösen. Die Mystery-Industrie weiss ihn auszuschlachten, sie richtet uns regelrecht zum Koma-Gucken ab. Wie unter einem Zwang wollen wir noch die nächste Staffel sehen, um schliesslich den „letzten“ Zusammenhang zu erfahren.
Ein kognitives Bias
Apophänie ist ein Fachterminus aus der Psychiatrie. Salopp ausgedrückt: Wo nichts ist, sehen wir etwas. Apophänie bezeichnet also das Hineininterpretieren von Mustern und Zusammenhängen in die Welt: Jemand sieht zum Beispiel Gesichter in den Wolken, Gestalten im Astwerk von Bäumen, vermutet Verschwörungen oder liest in Zeitungen an sich gerichtete persönliche Botschaften. Schnell stellt sich die Diagnose Halluzination oder Wahn ein. Wir sollten uns freilich vor leichtfertiger Pathologisierung hüten. Apophänie weist auf ein „normales“ kognitives Bias hin. Wir sind mit einem kulturell geprägten kognitiven Apparat ausgestattet, der uns geneigt macht, überall Muster, Zusammenhänge, bedeutsame Koinzidenzen wahrzunehmen. Es fällt uns schwer, keinen Sinn darin zu sehen, was geschieht. Sie schauen zum Beispiel auf Ihre Uhr, die 11:11 anzeigt. Das nächste Mal zeigt sie 12:12, das dritte Mal 13:13, dann 14:14, 15:15 und so weiter ... Seltsam, nicht? Was sorgt dafür, dass Ihr Blick auf die Uhr immer mit einer besonderen Zahlenreihe zusammenfällt?
„Verdächtige“ Koinzidenzen
Bei seltsamen Koinzidenzen neigen wir zu zwei fundamentalen Einstellungen: Zufall oder nicht Zufall. Gewöhnlich sehen wir sie als Gegensätze: Wo Zufall ist, da ist kein Gesetz; wo Gesetz ist, da ist kein Zufall. Das erweist sich allerdings als ein zu grober Raster. Tatsächlich gibt es ein ganzes Spektrum, mit dem Zufall als einem Pol und einer universellen bestimmenden Instanz – Determinismus, Fügung, Gott – am andern Pol.
Zwischen den beiden Polen liegt der Bereich, den Kognitionswissenschaftler als „verdächtige Koinzidenzen“ bezeichnen: Koinzidenzen, die den Verdacht auf einen tieferen Zusammenhang erwecken, diesen Zusammenhang aber nicht genügend durch Evidenz bestätigen. Die meisten Menschen leben in diesem Zwischenbereich. Der Verdacht kann zwei Wege eröffnen, jenen der Entdeckung und jenen des Wahns. Häufen sich zum Beispiel in einer Region die Koinzidenzen, dass viele Bewohner an Durchfall erkranken und Trinkwasser aus dem gleichen Reservoir beziehen, dann entdecken wir mit grosser Wahrscheinlichkeit die Ursache der Erkrankung. Schon heikler wird der Fall bei einer Koinzidenz von Autismus-Diagnose und verabreichter Impfung. Wenn ich bei mir die Koinzidenz feststelle, dass das Tragen zweier unterschiedlicher Socken stets zu Magenbeschwerden führt, bin ich auf gutem Weg zum Wahn.
Synchronizität und Simulpathie
Eine der häufigsten Erscheinungsformen der Apophänie ist das zeitliche Zusammenfallen zweier Ereignisse, die Synchronizität. Den Begriff hatte der Psychologe Carl Gustav Jung für den nichtkausalen Zusammenhang zwischen einem psychischen und einem physikalischen Ereignis eingeführt. Jung sah im kollektiven Unbewussten den Grund dieser Stiftung von Zusammenhang. Er war ein fleissiger Sammler synchroner Ereignisse. So erzählt er zum Beispiel die Anekdote, wie er spätnachts nach einem Vortrag wach im Hotelbett lag und plötzlich heftiges Kopfweh verspürte, wie wenn etwas die hintere Schädelwand getroffen hätte. Am anderen Tag erhielt er ein Telegramm, dass einer seiner Patienten sich zu dieser Zeit erschossen habe. Die Kugel sei in der hinteren Schädelwand stecken geblieben. Der amerikanische Psychiater Bernard Beitman, der das Jungsche Gedankengut weiterführt, nennt solche Koinzidenzen „Simulpathien“: das simultane Mitempfinden der Gefühle einer anderen Person, ohne direkten Kontakt, über weite Distanzen hinweg.
Wir unterschätzen den Zufall
Hier stellt sich die Frage nun dringlich: Sind solche Ereignisse Evidenz für einen verborgenen tatsächlichen Zusammenhang oder bloss Überinterpretation eines Zufalls? Die Frage erweist sich als äusserst dorniges Problem. Wir unterschätzen den Zufall leicht. Er ist unter Umständen zu mehr fähig, als man ihm gemeinhin zumutet. Er erzeugt nicht nur Unordnung, sondern auch Ordnung. Man wirft zehnmal eine Münze und zehnmal hintereinander liegt Kopf oben. Ein Wunder! Nein, Zufall. Zehn Kopfwürfe in Serie sind ebenso wahrscheinlich wie zehn beliebige Münzwürfe. Man braucht nur tausendmal den Versuch durchzuführen (viel Vergnügen) und beobachtet nahezu sicher einmal einen zehnmaligen Kopfwurf. Zwanzig Kopfwürfe in Serie wären schon seltener und seltsamer. Und erst recht neunzig, wie in Tom Stoppards Stück „Rosenkranz und Güldenstern“, in dem einer der Protagonisten Münzen wirft, die immer auf den Kopf fallen. Hier kommt man nun kaum um eine Nicht-Zufalls-Hypothese herum: Schaltet da irgendeine okkulte Eigenschaft, eine übernatürliche Intervention den Zufall aus, oder sind die Münzen ganz einfach gezinkt?
Die Macht des Unwahrscheinlichen
Die Frage ist wie gesagt vertrackt, aber mit der Wahrscheinlichkeitstheorie haben wir ein effizientes Mittel zur Hand, die Plausibilität von Hypothesen abzuschätzen. Statt also in der Erklärung von Apohänien eine unwahrscheinliche Macht zu vermuten, ist es klüger, mit der Macht des Unwahrscheinlichen zu rechnen. Man könnte sagen: Der Mensch sucht durch Hypothesen ständig den Zufall zu überlisten. Aber machen wir die Rechnung nicht ohne den Zufall. Er selbst ist ein Gesetz, nämlich das Gesetz der grossen Zahl. In einer genügend grossen Stichprobe von Ereignissen ist fast sicher mit Apophänien zu rechnen.
Ein Wunder jeden Monat
Buchstäblich. Der Cambridge-Mathematiker John E. Littlewood macht in seinem Buch „Littlewood’s Miscellany“ eine simple Überschlagsrechnung für die Erwartbarkeit des Unwahrscheinlichen. Angenommen, der Mensch sei im Schnitt acht Stunden pro Tag geistig alert und aufnahmebereit. Weiter angenommen, man könnte seine alltäglichen Verrichtungen im Sekundentakt aufteilen. Es ereigne sich also in jeder Sekunde etwas: Man liest einen Satz, blickt auf die Uhr, erinnert sich an etwas, steht auf, sitzt ab, trinkt einen Schluck Kaffee, kratzt sich am Kopf, hört ein Auto draussen vorbeifahren. Das Meiste ist natürlich völlig unbedeutend und rauscht im Nu vorbei. Dennoch: Die Rate von 1 Ereignis pro Sekunde ergibt in 35 Tagen die Zahl von rund einer Million Ereignissen (8 Stunden x 3600 Sekunden x 35 Tage). Ein Paradox: Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass man unter diesen Ereignissen auf etwas Bedeutendes trifft, grob ein Millionstel beträgt, ist es in der Zeitspanne von etwas mehr als einem Monat mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten (wir brauchen es natürlich nicht zu bemerken). Dieses monatliche Wunder trägt den Namen „Gesetz von Littlewood“. Nochmals: Man unterschätze den Zufall nicht.
Wir sind Bedeutungs-Unterschieber
Man unterschätze aber auch das kognitive Bias nicht, Bedeutungen zu „unterschieben“. Wir sind im Wesentlichen kulturelle Wesen und die Kultur, in der wir leben, überformt unseren Blick auf die Dinge unvermeidlich, wirkt dadurch wie eine mentale Blende. Man sieht nur, was man sehen will im Rauschen der Welt, den Rest blendet man aus. Der Glaube an bedeutsame Koinzidenzen ist nicht irrational, er ist menschlich. Unser Verstand tastet wie von selbst die Interpretationsmöglichkeiten ab, die ihm zur Verfügung stehen. Oder mit Robert Musil gesprochen: Der Möglichkeitssinn kommt vor dem Wirklichkeitssinn. Die Wahl einer bestimmten Interpretation mag wissenschaftlich nicht stichhaltig sein, trotzdem spendet sie vielleicht Trost bei einem Todesfall. Problematisch wird die Interpretation von Apophänien erst, wenn man sie als Freipass zu obskurantistischen Universalerklärungen oder esoterischem Wohlfühl-Hokuspokus missbraucht.
Die Nähe von Einsicht und Überheblichkeit
Apohänien können nicht nur den Verdacht auf Zusammenhänge wecken, sie können auch Zusammenhänge entstehen lassen. Normalerweise geschieht das durch das Erzählen einer Geschichte. Wir alle erzählen Geschichten, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind. Unser Leben besteht aus einer Vielzahl von Koinzidenzen, und aus ihnen spinnen wir biographisches Garn, stricken wir das Muster, das zu uns passt. So erhalten die Koinzidenzen einen Sinn, eine Kohärenz. Durch Apophänien – so kann man sagen – entsteht überhaupt das, was jeder Mensch „mein Leben“ nennt. Das ist nicht risikofrei. Wenn man in seinem Leben nur Bedeutsames wahrnehmen möchte, kann leicht der Eindruck aufkommen, man sei ein ganz besonders „bedeutender“ Mensch. Apophänien verraten also, wie nahe oft Einsicht und Überheblichkeit – und Wahn – beieinander liegen, wie leicht wir zu Konfabulanten werden können. So oder so, der Mensch ist das Tier, das spinnt.