Die Klosterkirche in Bellelay ist ein besonderer Ort. Sie ist – im beginnenden 18. Jahrhundert errichtet – die westlichste Kirche, die dem Vorarlberger Bauschema folgt, und auch der westlichste Bau des Vorarlberger Architekten Franz Beer (1660–1726), der in der Schweiz die Kirchen der ehemaligen Klöster Münsterlingen, St. Katharinental, Rheinau und St. Urban und in Süddeutschland viele weitere bedeutende Sakralbauten schuf.
Bellelay, im 12. Jahrhundert gegründet, ist das einzige vollständig erhaltene, heute allerdings profanierte Prämonstratenserkloster der Schweiz. (Im St. Gallischen, ob Gommiswald, gibt es heute noch das Frauenkloster Berg Sion des gleichen Ordens.) Die Gebäude in Bellelay beherbergten im ausgehenden 18. Jahrhundert ein bedeutendes Knabeninternat. 1797 schlossen französische Revolutionstruppen das Kloster. Die Ausstattung samt Altären wurde verkauft. In den 1890er-Jahren errichtete der Kanton Bern hier eine psychiatrische Klinik, die noch heute besteht. Die Kirche wurde mehrfach restauriert. Seit 1963 dient sie als Kulturzentrum. Es finden Konzerte statt, und in den Sommermonaten steht sie Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung.
Profaniert und doch sakral
Auch der profanierte Kirchenraum ist ein Sakralraum. Obwohl er nicht mehr dem Kultus dient, bleibt sein Charakter in jedem Detail dem ursprünglichen Zweck verbunden. Das gilt von der Orientierung nach Osten zum nicht mehr vorhandenen Hochaltar und zur nur mehr in Spuren erhaltenen Chorwandmalerei. Das gilt von der Gliederung des Raumes als Wandpfeilerkirche mit Nischen und mit einem Querhaus, das aber nur marginal in Erscheinung tritt, und ebenso von der Lichtführung, die den Blick auf den gegenüber dem Schiff helleren Chor lenkt.
Christoph Rütimann setzt sich mit diesem Kirchenraum in ähnlicher Weise auseinander, wie er es 1993 im Rahmen der Biennale Venedig mit der Kirche San Staë am Canal Grande getan hat. Sein Eingriff wirkt jedoch dezenter, und man spürt seinen Respekt vor dem Kunstwerk Beers und der Tradition des Kirchenraumes. Er fügt eine schneeweisse leicht ansteigende schiefe Ebene in den Raum ein, die von der rechten Ecke der Chorabschlusswand zum Ende des linken Querschiffes führt. Im Schiff lehnt Rütimann auf beiden Seiten je eine riesengrosse doppelte und auf der Rückseite in intensivem Gelb bemalte Glaswand an die Pfeiler.
Mit ihren Spiegelungen und ihrer je nach Lichtsituation unterschiedlichen Transparenz aktivieren diese Hinterglasmalereien den Raum auf unerwartete Weise mit enormer Kraft – auf unerwartete Weise darum, weil sich im Raum durch die Platzierung der spiegelnden gelben Flächen ein Quer-Akzent als Gegensatz zum Longitudinalbau ergibt. Je nach Tageszeit und Wetter tritt auch die Sinnlichkeit des handwerklichen Farbauftrages klar in Erscheinung. Das intensive Gelb bildet zum Weiss des heute fast durchgehend farblosen Raumes einen starken Gegensatz. Es ist das Rapsfeld-Gelb, dem sich Rütimann bereits vor vielen Jahren in Fotoarbeiten widmete.
Die straffe Hierarchie unterlaufen
Auch der profanierte Kirchenraum ist ein Sakralraum, und das beeinflusst, je nach Sensibilität des Besuchers, die Interpretation der Künstlerarbeit, die so präzis auf die Charakteristik des Raumes eingeht. Die schiefe Ebene zum Beispiel bringt das Gleichgewicht des Raumes zum Wanken. Das lässt sich durchaus als Metapher deuten – als wolle der Eingriff die straffe Hierarchie theologischen Denkens – oder jeder Deutungshierarchie – ins Wanken bringen: ein Plädoyer für kreative Freiheit und Eigenständigkeit im Fühlen und Denken also. Ähnlich das Gelb, das sich als störender Fremdköper in diesem Raum lesen lässt, das sich aber dank der aktiven und eigenständig-kraftvollen Spiegelungen trotzdem souverän in den so anderes gearteten Raum einbindet.
Rütimann ist wie kaum ein anderer Schweizer Künstler vertraut mit allen möglichen Ausdrucksmitteln der bildenden Kunst und versiert im Zusammenführen dieser Möglichkeiten in einen zentralen Punkt. Wichtig ist ihm auch der geistige und intellektuelle Hintergrund seiner Arbeiten, den er sich in intensiven Recherchen aneignet. Er bedient sich der Installation, der Skulptur, der Malerei, des Videos, der Sprache, des Klanges, der Musik – und der Performance, in der er sich seit Jahren in oft gleichem Outfit (grauer Anzug, schwarze Schuhe, meist Schirmmütze) als Kunstfigur „Christoph Rütimann“ präsentiert. Kennzeichen seiner Performances sind Einfachheit und Klarheit in der Dramaturgie und eine Konzeption, die ans Existenzielle – oft in durchaus körperlichem Sinne – rührt. Kennzeichnend ist auch, dass er keinen administrativen und notfalls auch technischen Aufwand scheut.
„Eine Einigelung“
In Bellelay gibt er der Performance einen wichtigen Stellenwert, auch wenn die Besucherinnen und Besucher, die nicht zur Vernissage am 19. Juni anreisten, nur mehr einen Hinweis darauf vorfinden: Im Bereich des Querschiffs hängt hoch oben unter dem Gewölbe eine mannsgrosse Kugel, zusammengesetzt aus sperrigen und stacheligen alten Holzstücken. „Eine Einigelung“ ist der Titel eines seit mehreren Jahren vorangetriebenen Projektes mit klarer kulturpolitischer Ausrichtung. 2016 baute sich der Künstler mitten im auf saubere Gradlinigkeit ausgerichteten Zürich-West aus hölzernem Bauschutt eine kugelförmige Behausung – eine mobile Form des „Nagelhauses“. Das „Nagelhaus“ (ein chinesischer Neologismus) ist eine Form des Protestes gegen Neuüberbauungen traditioneller Quartiere und den Abriss bestehender kleiner Bauten. Die Opfer – kleine Leute, meist Kleingewerbler – verschanzen sich in ihrem Haus und igeln sich ein. Solches ist just auch in Zürich-West passiert. Da ist auch im Jahr 2008 am Escher-Wyss-Platz die Platzgestaltung „Nagelhaus“ von Thomas Demand und Caruso St John Architects LLP am von der SVP angeführten politischen Widerstand gescheitert.
Rütimanns „Einigelung“ ging als eine Art sperriger und stacheliger Protestzug auf Reisen – nach Zug, Luzern, Bern, in den Thurgau und schliesslich eben nach Bellelay: In Rahmen der Vernissage zur Ausstellung wurde die Kugel, in der sich der Künstler befand, auf einem Wagen in die Kirche befördert. Hier schwebte sie nach oben unters Gewölbe. Der Künstler harrte regungslos wie ein Wachtsoldat daneben aus, bis die Kugel oben anlangte – und liess sich schliesslich selber hochziehen, um wiederum in seinem „Igel“ zu verschwinden und Schutz zu suchen. Das Publikum verliess den Kirchenraum. Rütimann blieb oben in seiner Kugel.
Himmelfahrt?
Eine mögliche Lesart dieser Eröffnungs-Performance im gegebenen Kontext des Sakralraumes ist diese: Das von den Vernissage-Gästen begleitete Führen des Wagens mit der Kugel wird zur Prozession, das Hochziehen der Kugel und vor allem der Kunstfigur „Christoph Rütimann“ zur Himmelfahrt oder Apotheose. Tatsächlich sind der ikonographischen Bezugspunkte viele. Noch heute wird am Fest Christi Himmelfahrt in der barocken Kirche in Mittenwald (Oberbayern) eine Christusfigur hochgezogen, bis sie in einer Öffnung im Gewölbe verschwindet. Ähnliches Brauchtum findet sich vielerorts im Alpenraum, auch wenn das Zweite Vatikanische Konzil von solch sinnfälligen Ritualen Abstand nahm. Entsprechende Bilder kennen wir zum Beispiel von Mantegna und vielen anderen Künstlern. Auf der „Reiderschen Tafel“, einem spätantiken Elfenbein, greift Christus nach einer Hand (Gottvaters wohl), die ihn in den Wolkenhimmel zieht. Bilder ähnlicher Szenen gibt es auch zuhauf in der römischen und griechischen Antike.
Christoph Rütimanns Performance in Bellelay ruft nach Fragen. Der Künstler greift mit seiner Aktion auf einen von der Bildtradition her klaren christlich-ikonographischen Sinnzusammenhang zurück. Er stört ihn – ähnlich wie die schiefe Ebene und die monumentalen gelben Hinterglasmalereien die Symmetrie und Orientierung des Kirchenraumes stören und so den Weg zu neuen Erkenntnissen öffnen. Er bleibt aber nicht bei dieser von der Situation her gegebenen Ebene, sondern bringt auch, wie oft in Performances, persönliche Aspekte seiner (und jeder) Künstlerexistenz ins Spiel: Was ist der Künstler? Wo steht er im gesellschaftlichen, wo im geistesgeschichtlichen Kontext? Wie steht er zur Tradition? Womit verschafft er sich Aufmerksamkeit? Die durch Anzug und Mütze klar definierte Kunstfigur „Christoph Rütimann“ verschwindet und kehrt nicht zurück: Igelt sie sich definitiv ein in ihr protestierendes Abstandnehmen von einer Welt, die ihr nicht mehr Heimat ist – und die sie auch nicht ändern kann?
Existenzielle Dimensionen
Weitere, nun auch frühere Arbeiten des Künstlers einbeziehende Fragen: Beschliesst Christoph Rütimann mit der Performance in Bellelay nicht nur, dramaturgisch stringent, die nun bereits während Jahren vorangetriebene Aktion „Eine Einigelung“, sondern beendet er auch endgültig die Existenz seiner Kunstfigur „Christoph Rütimann“? Sie ist ja ohne Rückkehr in der Kugel verschwunden – im Gegensatz zu früheren Stationen der „Einigelung“, als sich Rütimann jeweils mühsam aus der hölzernen Kugel befreite?
Schon im Jahr 2000 erreichte Rütimann in der Performance „Mir stehen die Haare zu Berg und das Wasser zum Hals“ mit seiner Figur auf ähnlich radikale Weise existenzielle Dimensionen: Die mit dem grauen Anzug bekleidete Kunstfigur, deren Haare zu Berg standen, versank, umkreist von einem Schiff mit dem Publikum, mitten auf dem Bodensee buchstäblich bis zum Hals im Wasser. Von ähnlicher Radikalität waren die beiden Performances „Hängen am Museum“ (1994 und 2002) am Kunstmuseum Luzern und die Performance-Begleitung seiner Ausstellung „Bedacht“ im Kunstmuseum Bonn (2008): Vor der Eröffnung hat er nackt in der Pose von Rodins „Denker“ auf dem Museumsdach gesessen, das Museum bedacht, verdacht und besessen. Es soll kalt und nass gewesen sein.
Abbatiale Bellelay bis 26.09.2021. Ein Katalog erscheint am 4 Juli: 15 Uhr Buchvernissage mit der Performance „Kaktus Haben“ von Christoph Rütimann. Kuratorin der Ausstellung ist Marina Porobic.
Fotos: Niklaus Oberholzer