Die Stoiker lehrten: Stell dir Schlimmes vor – praemeditatio malorum. Gerade dieser Tage, wo wiederkehrend neue Virusvarianten für beklemmende Zukunftsaussichten sorgen, gewinnt dieses Prinzip an Bedeutung – als ein Weg zur Gelassenheit.
Beim Einkaufen im Supermarkt leitet mich das von mir so genannte Suboptimalprinzip. Ich male mir vorweg ein schlimmes Szenario aus: Der Markt ist proppenvoll, keine Milch mehr, mein Lieblingsbrot fehlt, an den Kassen herrscht Stau, vor mir türmen sich Warenberge in den Einkaufswagen, die Kreditkarte einer Kundin ist ungültig, ein störrischer Kunde versteht partout nicht, dass die fünf Paar Socken, die er gewählt hat, nicht Aktion sind, hinter mir schreit ein Kleinkind unablässig wie am Spiess, und was noch alles an Suboptimalem ausdenkbar ist. Meist verläuft der Einkauf kalamitätsfrei, ich verlasse den Supermarkt im Glücksgefühl, wieder einmal davongekommen zu sein.
Landläufig nennt man das Neurose. Aber eigentlich praktiziere ich ein altes philosophisches Prinzip, das die Stoiker lehrten: Stell dir Schlimmes vor – praemeditatio malorum. Gerade dieser Tage, wo wiederkehrend neue Virusvarianten für beklemmende Zukunftsaussichten sorgen, gewinnt dieses Prinzip an Bedeutung – als ein Weg zur Gelassenheit.
«Worry Burnout»
Zu Gelassenheit gibt die Pandemie allerdings wenig Anlass. Eher zu Sorge. Wir leben – wie das jetzt genannt wird – in einem «high-stress environment». Unsere Besorgtheitskapazität ist endlich. Die modernen Experten für seelische Angelegenheiten sind fix darin, neue Begriffe für diffuse Gemütslagen zu prägen, und sie sprechen von «worry burnout», der Besorgtheitserschöpfung nach zwei Pandemiejahren. So zum Beispiel Jeffrey Cohen, Psychiatrieprofessor an der Columbia University. Sorge, Furcht seien evolutionäre Reaktionen auf Bedrohung; Angst jage Alarmsignale durch unser Nervennetz, so dass wir uns gegen die Gefahr rüsten. Aber die anhaltende Bedrohung durch Covid-19 habe dazu geführt, dass unsere neurophysiologische Alarmanlage ermüdet. Infolgedessen würden wir uns zu fragen beginnen, ob denn überhaupt noch alarmierende Zustände herrschen. Psychologen und Psychiater listen Symptome dieser Ermüdung auf: Abneigung gegen News, das Gefühl des Betäubstseins, Hoffnungs- und Hilflosigkeit, ständige Gereiztheit und Ungeduld.
Senecas 24. Brief an Lucilius
Nichts gegen solche altbekannten Geschichten aus Psychologie und Psychiatrie. Die Fachleute für die Seele sind von Berufes wegen dazu da, innere Gebresten zu diagnostizieren und zu therapieren. Wie dies eine Psychiaterin ausdrückte: «Viele Leute glauben an den Mythos, dass sich Sorgen machen hilfreich sei; aber das ist nicht wahr.» Der Stoiker Seneca war da ganz anderer Meinung. In seinem 24. Brief an Lucilius schreibt er: «... Ich will dich auf einem anderen Weg zur Seelenruhe führen. Wenn du dich aller Bekümmernis entledigen willst, so stelle dir alles, was du befürchtest, als wirklich bevorstehend vor; miss bei dir selbst die Grösse des Übels ab, was es auch sei, und bringe deine Furcht auf die Waage: Du wirst gewiss finden, dass entweder nicht wichtig oder nicht von Dauer ist, was du fürchtest.»
Seneca ging es weniger um Selbsthilfe als um ein Mittel vernünftigen praktischen Denkens. «Die Furcht auf die Waage bringen» heisst, sie rational anzugehen. Man wägt die möglichen, auch die schlimmen Ausgänge einer Geschichte ab, und ist dadurch auf unerwartete Eventualitäten gefasst. Das kann von der Furcht befreien. Jedenfalls ist es etwas anderes, als sich übervorsichtig durch die Furcht bestimmen zu lassen. Auch etwas anderes, als das Übel, das kommen könnte, nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen. Man wiegt sich dadurch oft in einer faulen, feigen oder fatalen Gelassenheit. Diese Indifferenz ist das Gegenteil des Stoizismus: die Selbstgerechtigkeit des «Die Welt kann mich mal». Indem wir den schlimmen Ausgang einer Geschichte nicht denken wollen, laufen wir Gefahr, Kurs direkt darauf zu halten.
Teilnehmer- und Beobachterperspektive
Stoizismus ist eine Haltung zwischen Alarmismus und Indifferenz. Etwas allgemeiner betrachtet könnte man von zwei Perspektiven sprechen, die sich oft nicht vertragen: einer Teilnehmer- und einer Beobachterperspektive. Beide Perspektiven sind wechselseitige Korrektive. Senecas Beispiel handelt von einem Rechtsstreit, in dem Lucilius sich vor der Vergeltung seines Widersachers fürchtet. Seneca empfiehlt den Perspektivenwechsel, vom Betroffenen zum Beobachter. Sie ermöglicht, die Besorgtheit abzumildern. Die Besorgtheit kann aber auch gerade durch die Beobachterperspektive entstehen. Sean Hannity, ein bekannter Moderator von Fox News und Trump-Berater, zeigte sich vor dem Sturm auf das Capitol besorgt über die Richtung, die die Ausschreitungen einschlagen könnten. Und er machte kein Hehl daraus. Das heisst, er vermochte zu unterscheiden zwischen seiner Perspektive als Alliierter des Präsidenten und der Perspektive des Polit-Beobachters. Ohne nun in Hannity einen Stoiker zu sehen: Er bekundete eine heute seltene Fähigkeit.
Flucht ins Imaginäre
Die «praemeditatio malorum» rechnet mit dem imaginären Schlimmen. Es gibt die Umkehrung, nämlich das reale Schlimme nur ertragen zu können, indem man sich ins Imaginäre flüchtet. Man kennt die Erfahrung von Soldaten, sich im Schlachtgetümmel als Beobachter, nicht als Teilnehmer des Geschehens zu erleben. Der südafrikanische Schriftsteller Stuart Cloete schildert zum Beispiel in seinem Roman über den Ersten Weltkrieg «How Young They Died» eine eindringliche Szene. Der Protagonist Hauptmann Jim Hilton kehrt verwundet zurück ins Lager und er kommt sich plötzlich völlig weg vom ganzen Geschehen vor: «Er sah hinunter auf die einsame Gestalt, die zwischen den Einschlaglöchern ihren Weg suchte. Er dachte: Das ist der junge Hauptmann Jim Hilton, … ob er es schaffen würde ... Er war Beobachter, nicht Teilnehmer. So war es immer gewesen im Krieg, nur war es ihm bisher nicht bewusst. Du bist niemals du. Der Ich-Teil vom Du ist anderswo.» Das ist Stoizismus in der Begegnung mit dem Grauen. Die Entzweiung der Person. Montaigne hat das schön beschrieben: «Wir sind aber, wie soll ich sagen, in uns selbst doppelt, so dass wir das, was wir glauben, nicht glauben, und uns von dem, was wir verdammen, nicht befreien können.» (Über den Ruhm) Stoizismus bedeutet, diesen Widerspruch leben zu können.
Die Macht der Imagination
Man muss Stoizismus und Pessimismus deutlich auseinanderhalten. Der Pessimist sagt: «Es wird immer schlimmer»; der Stoiker sagt: «Was wäre, wenn es immer schlimmer würde.» Die Differenz zwischen Indikativ und Konjunktiv erscheint geringfügig, ist aber wesentlich. Der Stoiker zeigt sich gerade im Angesicht des Schlimmstmöglichen als Optimist, denn er glaubt an die unbegrenzte Macht des Konjunktivs, der Phantasie. Wenn sie sich schlimme Enden ausdenken kann, dann auch mögliche Auswege. Imagination ist der Sinn für Krisenlagen. Umgekehrt: Krisenlagen befeuern die Imagination. Oder sollten es. Ali S. Khan, ehemaliger Direktor des amerikanischen «Centers for Disease Control and Prevention» (einer Behörde zum Schutz der öffentlichen Gesundheit) wurde im Mai 2020 gefragt, was denn zur desaströsen Entwicklung von Covid-19 geführt habe. «War es ein Mangel an wissenschaftlicher Information oder ein Mangel an Geld?», wollte der Interviewer wissen. Khans Antwort: «Ein Mangel an Imagination.»
Die Welt ist alles, was uns erwartet – nicht, was wir erwarten
Das ist der zentrale Punkt. Ich formuliere ihn als Paradox: Der Stoiker stellt sich das Unvorstellbare vor. Er will sich damit nicht unnötig Sorgen aufhalsen – dann wäre er Neurotiker –, sondern die Wirklichkeit um das Imaginäre erweitern. Die Welt ist alles, was uns erwartet. Dazu gehört auch das Unerwartete. Also mehr, als wir erwarten. Das hat uns die Pandemie zur Genüge vordemonstriert. So gesehen, äussert sich in der stoischen Haltung eine Welt-Demut, eine Gelassenheit, vielleicht sogar eine säkulare Religiosität. Wir werden sie in Zukunft schwer benötigen.