Zwei Tage vor dem Nationalfeiertag, 232 Jahre nach dem revolutionären Sturm auf die Bastille war es wieder einmal soweit: Angesichts der auch in Frankreich drohenden 4. Corona-Welle, musste der republikanische Monarch im Élyséepalast wieder einmal zu seinem widerspenstigen Volk sprechen ...
4. Welle?
Wie in anderen europäischen Ländern, ist auch in Frankreich die Impfkampagne ins Stocken geraten: 40% der Bevölkerung sind doppelt geimpft, 53% ein Mal, doch Millionen Impfdosen warten jetzt seit Wochen auf Kundschaft.
Gleichzeitig steigen die Infektionszahlen seit Monats- und Ferienbeginn schon wieder gewaltig an: Mehr als 8’000 Neuinfektionen zählte man am Nationalfeiertag, gegenüber ein paar Hundert Ende Juni. Mit der Perspektive von sechs Wochen Sea, Sex and Sun bis Ende August und aberhunderten, gut besuchten Festivals bis in die letzten Ecken des Landes ohne weitere Einschränkungen scheint die 4. Covid-Welle so gut wie programmiert.
Die Peitsche
Also sprach der Präsident: Schluss mit lustig! Das Krankenhaus- und Pflegepersonal hat sich bis Mitte September gefälligst komplett impfen zu lassen – bislang haben immer noch 40% unter ihnen den Gang in die Impfzentren verweigert.
Ausserdem soll, wer künftig in Frankreich etwa per Bahn reisen will, im August einen Impfpass vorweisen müssen, auch die 12-25-Jährigen.
Ja selbst für Restaurant-, Kino- oder Theaterbesuche soll der Impfpass – wann genau, ist noch unklar – unerlässlich werden.
Und: Schluss mit den grosszügig, kostenlosen Corona-Tests im Land, die selbst für Ausländer galten – ab September wird zur Kasse gebeten, 50 Euro für einen PCR-Test.
Das Resultat der präsidialen Ansprache: In den 24 Stunden danach haben sich doch wahrlich eine Million Franzosen zum Impfen angemeldet und das, obwohl das elektronische Reservierungssystem ob des gigantischen Ansturms gleich mehrmals zusammengebrochen war. Und weitere 36 Stunden später waren es schon 2 Millionen.
Man reibt sich die Augen.
Weit verbreitete Schizophrenie
Einerseits wird Frankreichs junger Staatspräsident von vielen im Land seit fast drei Jahren missachtet, ja gehasst, der Freiheitsberaubung beschuldigt, ja gar diktatorische Tendenzen werden ihm angesichts der Art und Weise seiner Machtausübung angelastet.
Andererseits wartet offensichtlich ein gewisser Teil der Bevölkerung brav darauf, dass der republikanische Monarch ein Machtwort spricht, um dann zu handeln oder sich seinem Schicksal zu fügen. Kein sonderlich ruhmreiches Bild einer Nation und ein klares Manko an Eigenverantwortung und Gemeinsinn. Und ein weiteres Beispiel für die Schizophrenie der Franzosen in ihrem Verhältnis zur Politik und zum staatlichen Gemeinwesen.
Weg mit der 5. Republik – Es lebe die 5. Republik
Da ist z. B. das Jahrzehnte andauernde Klagen über das verknöcherte Präsidialsystem der 5. französischen Republik, mit einem Parlament, das nur zum Durchwinken da ist und gegenüber dem Präsidenten keinerlei echte Kontrollfunktion oder Machthabe hat
Doch wenn es darum geht, an der Verfassung der 5. Republik zu rütteln und eine neue ins Auge zu fassen – entweder ein parlamentarisches System mit Verhältniswahlrecht oder ein echtes Präsidialsystem, in dem der Staatspräsident vor dem Parlament wirklich verantwortlich wäre –, dann erfolgt unmittelbar der grosse Aufschrei im Land und es wird auf das Argument zurückgegriffen, man dürfe nicht die direkte und besondere Beziehung zwischen dem Volk und seinem Präsidenten in Frage stellen.
Auch wenn sie seit mehr als 70 Jahren abgelöst ist, so wird bei dieser Gelegenheit heute von vielen immer noch regelmässig die 4. Republik mit ihrem parlamentarischen System und ihren ständig wechselnden Mehrheiten und Regierungen als Schreckgespenst aus der Mottenkiste geholt, um die Stabilität der 5. Republik zu preisen und jede Verfassungsreform von vorne herein abzuschmettern. Es ist, als habe General de Gaulle einem Gutteil der Franzosen gleich für mehrere Generationen seine notorische Abneigung gegen das von ihm so genannte «System der Parteien» eingeimpft.
Einerseits wird geklagt, dass sich die Bürger im heutigen französischen Parlament nicht repräsentiert fühlen – Marine Le Pen z. B. hat 2017 bei den Präsidentschaftswahlen im 2. Durchgang 33% der Stimmen erzielt, in der Nationalversammlung aber findet man unter 596 Abgeordneten ganze 2 ihrer Partei, des «Rassemblement National» – und, dass das Parlament in diesem Land kaum etwas zu sagen hat, andererseits aber wünschen sich die Franzosen bei Umfragen regelmässig zu rund 50% den berühmten «starken Mann».
Die Franzosen haben einst ihren König einen Kopf kürzer gemacht, im Grunde und in ihrem Innersten wünschten sie sich aber nach wie vor einen Monarchen. Das ist ein Argument, das man im Land regelmässig zu hören bekommt und das auch Präsident Macron im Hinterkopf gehabt haben soll, als er sich für die Rolle des Jupiter entschied.
Nicht erst seit gestern
Einer der wichtigsten französischen Soziologen, Alain Tourainne, hatte bereits vor 25 Jahren, zu Beginn der ersten Amtszeit von Präsident Jacques Chirac, angemerkt: «Frankreich lebt nach einer schizophrenen Formel. Seit 25 Jahren führen wir eine Doppel-Politik: einerseits proeuropäisch und liberal, andererseits protektionistisch und etatistisch.»
In kaum einem anderen europäischen Land ist ein Widerspruch derart eklatant: Einerseits rebelliert ein Teil der Bevölkerung in schöner Regelmässigkeit und teils sehr heftig (siehe die Gelbwestenbewegung) gegen den Staat, andererseits ist der Ruf nach dem Staat in Frankreich so ohrenbetäubend laut wie kaum anderswo.
Alain Touraine beschrieb schon nach den wochenlangen Streiks, besonders der Eisenbahner, gegen den ersten Versuch einer Rentenreform am Ende des Jahres 1995 diese permanente Widersprüchlichkeit der Franzosen in ihrem Verhältnis zum Staat mit den Worten: «Das Volk ist wieder mal gegen den Staat, wie so oft in unserer Geschichte. Dabei verteilt dieser Staat aber 53 Prozent des nationalen Einkommens. Korsika z. B. lebt ausschliesslich vom Staat, ist aber am heftigsten gegen den Staat. Auf der anderen Seite ist das Elsass wirtschaftlich stärker autonom und internationaler ausgerichtet und deutlich weniger gegen den Staat.»
Und der Soziologe klagte schon damals: «Unsere Parteien, die Gewerkschaften und selbst die Intellektuellen, alle, die sich diesem ausufernden Liberalismus der Wirtschaft entgegenstellen könnten, sind unfähig zur Diskussion. Sie reden nie über die Zukunft, sondern kleben an vergangenen Modellen. Ob Sozialisten, Kommunisten oder die rechte Regierung: keiner hat ein Zukunftsmodell anzubieten.»
Präsidenten – lebend und verstorben
Eine weitere Besonderheit der Schizophrenie der Franzosen ist ihr widersprüchliches Verhältnis zu ihren Präsidenten und ihr kurzes Gedächtnis.
Ein Präsident im Amt ist spätestens nach einem Jahr im Élysée höchst umstritten, hat er den Palast aber wieder verlassen oder ist gar verstorben, schnellt seine Beliebtheitskurve steil nach oben.
François Mitterrand, der bereits 1982 zu einem traditionellen und alles andere als sozialistischen Wirtschaftskurs zurückgekehrt war, der Mann, der als Justiz- und Innenminister während des Algerienkriegs eine eher unrühmliche Rolle gespielt hatte, ganz zu schweigen von seiner Vichy- Vergangenheit, und der die 5. Republik einst als «Permanenten Staatsstreich» bezeichnet hatte, sich in seiner Amtszeit dann aber in dieser monarchischen 5. Republik geradezu gesuhlt hat wie kaum ein anderer – er wurde nach seinem Tod fast zu einem Heiligen erkoren.
Valéry Giscard d’Estaing hatte man 1981 quasi aus dem Élysée gejagt, ihn mit Buhrufen verabschiedet – Jahrzehnte später verehrte man in ihm den grossen Europäer und stellte nach und nach fest, dass der nuschelnde Mann aus einer Familie mit erkauftem Adelstitel im Grunde ein für seine Zeit sehr moderner Präsident gewesen war, der u. a. das Wahlalter auf 18 Jahre herabgesetzt und vor allem das Recht auf Abtreibung durchgesetzt hatte.
Ganz zu schweigen von Jacques Chirac. Der Vollblutpolitiker mit Killerinstinkt, der auf dem Weg ins höchste Staatsamt über Leichen gegangen war, er hatte schon neun Monate nach der Wahl einen Gutteil der Bevölkerung gegen sich, danach mit ungewöhnlich harten Studentenprotesten zu kämpfen und seine 2. Amtszeit regelrecht verschlafen, das Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag in den Sand gesetzt und grösste Mühe mit den Vorstadtrevolten.
Kaum war er von Nicolas Sarkozy abgelöst worden, fanden die Franzosen ihn plötzlich wieder höchst sympathisch. Dass Chirac seinen Weg zur Macht auf dunklen Wegen aus öffentlichen Geldern finanziert hatte, ebenso wie eine Reihe privater Reisen, und dass er am Ende als erster Präsident überhaupt zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden war, tat seiner späten Beliebtheit keinen Abbruch. Nach seinem Tod folgte eine grosse Mehrheit der Franzosen widerspruchslos einer dreitägigen Staatstrauer.
258 Käsesorten
Wie aber, so darf man sich fragen, sollen Politiker in einem Land mit einer derart gestrickten öffentlich Meinung grundsätzlich und einigermassen friedlich etwas bewegen und verändern können? Auf der Suche nach einer Antwort geht der Blick schon wieder in die Vergangenheit zurück und zur seufzenden Frage des damals frisch etablierten Präsidenten Charles de Gaulle aus dem Jahr 1958: «Wie soll man ein Land regieren, in dem es 258 verschiedene Käsesorten gibt?». Der General, der über seine Landsleute damals auch den nicht gerade freundlichen Spruch fallen liess: «Les Français, ce sont des veaux.»
Was die «französischen Kälber» wiederum bis heute nicht daran hindert, diesen ersten Präsidenten der 5. Republik auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod zu verehren wie keinen seiner Nachfolger.