Westliche Politiker, Experten und Journalisten sehen das reformorientierte China seit längerer Zeit, d. h. seit rund dreissig Jahren, mit mittel bis stark negativem Unterton. Im zunehmend sich beschleunigenden Nachrichten-Rauschen und auf der Suche nach Werbung bringenden Klicks ist Differenzierung, Ueberprüfung von Fakten oder Verifizierung von falschen beziehungsweise gefälschten Nachrichten – Neudeutsch: Fake News – zu viel des kostenintensiven Aufwands. Deshalb folgen die meisten dem wohlfeilen Mainstream und wiederholen ad nauseam immer dieselben Formeln.
Eurozentrisch
Leider auch viele westliche Korrespondenten in China und Hongkong. Ihr Ausgangspunkt ist eurozentrisch, sie haben mit andern Worten noch nicht begriffen, dass ein halbes Jahrtausend europäischer Vorherrschaft sich langsam aber sicher dem Ende zuneigt. Mainstream-Versatzstücke sind etwa «Demokratiebewegung» in Hongkong, «kultureller Völkermord» in Tibet und Xinjiang oder die Nachteile der kommunistischen Volkswirtschaft. Das bringt Klicks. Und Werbung. Bei immer schneller sinkenden Auflagen.
Digitale Nerds
Den jungen, digitalen Nerds an den Bildschirmen der Online-Zeitungen und Sites kann man wenig vorwerfen, denn offenbar sind sie in Journalisten-Schulen und bei Praktika nicht auf den real kaum existierenden Qualitätsjournalismus vorbereitet worden. Ältere Journalisten, Korrespondenten und Redaktoren sowie Experten oder Diplomaten sollten, anstatt kurz nach einem Ereignis bereits zu kommentieren, sich Zeit lassen, überlegen, analysieren.
Gesunde Mischung
Beim Nachrichtenverständnis der freien westlichen Presse ist das indes kaum möglich. Denn es gilt: No news is bad news, good news is worse, bad news is good news. Das chinesische Nachrichtenverständnis befindet sich am andern Ende der Skala und ist vermutlich auch nicht rundum zu empfehlen. Es lautet: Gute Nachrichten betonen, schlechte Nachrichten vernachlässigen. Eine gesunde Mischung aus dem Besten beider Nachrichtenverständnisse wäre, so glaubt Ihr Korrespondent, wohl das Ideale.
Buch versus Googeln
Ideal wäre auch, dass jene, die sich mit der Welt und folglich auch mit China auseinandersetzen, sich wieder eine mehr als fünfhundert Jahre alte Erfindung zu Nutze machen. Das Buch. Bei allen Vorteilen des Googelns kann hin und wieder ein Buch nichts schaden. Das gilt sowohl für die digitale Jugend als auch für ältere Semester. Zu China gibt es ganze Bibliotheken. Zudem hat jeder westliche Korrespondent in Peking oder Shanghai mindestens ein aktuelles Buch geschrieben. Auch Ihr Korrespondent bekennt sich schuldig, denn er hat sogar vier – das letzte: «Abschied von China» – verfasst.
Lehren und Lernen
Doch wirkliche Einsichten bieten meist nur ältere China-Bücher. Eines ist vor wenigen Jahren unter dem Titel «Junges China» erschienen. Im Mittelpunkt des von Paul Eduard Schenker und Constatin P. E. Schenker herausgegebenen Buches steht das 1922 erschienene Werk «Das Problem Chinas» des Philosophen und Mathematikers Bertrand Russell. «Mit jedem Tag in China», schreibt Russell etwa, «dachte ich weniger daran, was ich lehren sollte, als daran, was ich von ihnen lernen konnte.»
«Jahrhundert der Schande»
Neben einer kundigen Einleitung ist auch ein klug kommentierter statistischer Anhang im Buch enthalten. Zudem ist der Brief des berühmten Kaiser Qianlongs an den britischen König George III. aus dem Jahre 1792 nachgedruckt, sowie der Vertrag von Nanking 1842 nach dem Opiumkrieg. Es war der Beginn der Ungleichen Verträge der westlichen und japanischen Imperialisten und des «Jahrhunderts der Schande», ein Faktum, das bis heute in China in Schulen und politischen Reden immer wieder thematisiert wird.
Arroganz
Russell lehrte an chinesischen Universitäten in einer Umbruchzeit wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der letzten chinesischen Kaiserdynastie. «Die Amerikaner glauben», meinte Russell, «dass ihre Religion, Moral und Kultur dem Fernen Osten weit überlegen ist. Ich halte das für einen Irrtum, obwohl dieser Irrtum von fast allen Europäern geteilt wird.» Die chinesische Jugend, so Russell «respektiert die Kenntnisse und das Wissen der Europäer, verachtet aber still ihre Arroganz.» Die heutige Arroganz des westlichen China-Mainstreams findet hier eine Parallele.
Vorurteile
In jener imperialistischen Zeit sah Russell wie wenige damals die Vorurteile der Weissen: «Wir sind fest davon überzeugt, dass unsere Zivilisation und unsere Lebensweise unvergleichlich besser sind als alle andern. Wenn wir deshalb einer Nation wie China begegnen, sind wir überzeugt, dass das Beste, was wir tun können, darin besteht, sie uns gleich zu machen. Ich glaube, das ist ein ganz grosser Fehler.» Eine Mahnung, die es auch heute noch verdient, ernst genommen zu werden.
Renaissance-Geist
Vor fast hundert Jahren sah Russell auch korrekt in die Zukunft: «Durch ihre Ressourcen und ihre Bevölkerung ist China in der Lage, die grösste Weltmacht nach den USA zu werden.» Der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell hegte grosse Hoffnungen: «Vom jetzigen Renaissance-Geist in China ist es möglich …, eine neue Zivilisation zu entwickeln, und zwar eine bessere, als es die Welt je gesehen hatte.» Er hoffe auch, dass «China im Austausch gegen unsere wissenschaftlichen Kenntnisse uns etwas von ihrer grossen Toleranz und der inneren Ruhe geben möge».
PS:
«Das Problem Chinas» ist natürlich nur eines unter vielen, vielen China-Büchern. Trotzdem seien hier noch einige Titel kurz aufgelistet, welche Ihrem Korrespondenten besonders wichtig sind:
- Marcel Granet: La Civilisation Chinoise. (1929)
- La Pensée Chinoise (1934)
- Laszlo Ladany: The Communist Party of China and Marxism 1921–1985 (1988)
- Joseph Needham: Science and Civilization in China (1954 ff.)
- Konfuzius: Gespräche. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Wolfgang Kubin (2011)
- Michael Szonyi (Hrsg.): A Companion to Chinese History (2017).