Alles schien zunächst klar, doch nun ist alles wieder überlagert von Problemen: Die Türkei legt sich quer gegen die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Nato. Das sorgt für Verärgerung und Irritation.
Nun lästern mindestens halb Europa plus die US-Führung und Kanada über den türkischen Präsidenten Erdogan: Nichts als Polit-Business habe er im Kopf, nämlich Zugeständnisse der Regierungen in Stockholm und Helsinki in Sachen PKK (und wohl auch der in Syrien gegen das Assad-Regime kämpfenden kurdischen YPG-Miliz). Und vielleicht wolle er noch etwas mehr Geld als Gegenleistung für die Beherbergung von mehr als drei Millionen Flüchtlingen aus Syrien.
Konflikte innerhalb der Nato
Das alles mag stimmen, aber das hier angesprochene Problem bleibt, und es geht um ein grundsätzliches Problem der Nato: um das Prinzip der Einstimmigkeit. Es beinhaltet letzten Endes: Alle sitzen im gleichen Boot, alle schützen einander im Konfliktfall, aber alle müssen dann, in der Stunde der Wahrheit, auch darüber einig sein, wer der Feind und schuldig ist am Ausbruch eines Konflikts. Doppelte Loyalitäten gelten dann nicht mehr, sondern vom entscheidenden Moment an gilt nur noch Schwarz und Weiss, es gibt keine Grauzonen mehr (von denen die Weltpolitik normalerweise nur so strotzt).
Weil die Regierungen der Nato-Mitglieder sich seit der Gründung der Allianz darüber im Klaren waren, dass Länder mit ungelösten Konflikten nicht Mitglieder werden könnten, schoben sie die Beitritts-Gesuche der Ukraine und Georgiens so sehr auf die lange Bank, dass eine Entscheidung schliesslich als fast illusorisch betrachtet wurde. Innerhalb der Nato gab es zwar immer wieder Diskussionen (die USA drängten beispielsweise 2008 auf eine rasche Aufnahme der Ukraine), aber letzten Endes siegte dann jeweils das, was mehrheitlich als «common sense» betrachtet wurde. Angela Merkel war damals die treibend-bremsende Kraft gegen das Ansinnen Kiews. Wäre es allein nach den Amerikanern gegangen, hätte jedoch wenigstens Georgien Mitglied werden können – andere Nato-Regierungen jedoch warnten vor den möglichen Konsequenzen einer Anrufung oder Anwendung des Artikels 5 im Fall einer Eskalation der Spannungen um die Separatisten-Regionen von Abchasien und Süd-Ossetien. Zu Recht, muss man rückblickend feststellen – um Süd-Ossetien eskalierten die Spannungen noch im Jahr 2008 ja tatsächlich zum offenen Konflikt, in den sich dann blitzschnell Russland einmischte.
Manchmal jedoch eskalierten in der Nato-«Gemeinschaft» Konflikte auch im Nachhinein: zwischen der Türkei und Griechenland etwa 1974 in und um Zypern – und später wurde aus dem anfänglich innertürkischen Kurdenkonflikt ein grenzüberschreitendes Problem mit Ausweitungen nach Syrien und Irak.
Erdogans Pole-Position
Nun hat die Türkei aber nicht nur die in den Medien jetzt thematisierten Probleme (viele von ihnen von Ankara selbst verursacht) mit verschiedenen Gruppen der Kurden, sondern auch mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Sie verhält sich unglaublich, ja fast schon bewundernswert, opportunistisch: Lieferung von Drohnen an die Ukraine (sie gehören zu den wichtigsten Waffen der ukrainischen Armee im Kampf gegen Panzer), Offenhalten der Grenzen anderseits für russische Flugzeuge, die in der Türkei landen oder das Land überfliegen wollen. Und offene Arme für russische Touristen. Man darf davon ausgehen, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist, d. h., dass es von der Seite Ankaras noch eine Menge weiterer, nicht öffentlich gemachter, «favours» sowohl für die eine wie für die andere Seite gibt. Das katapultierte Erdogans Regierung in die Rolle eines möglichen Vermittlers zwischen den Kriegsparteien. Und Präsident Erdogan scheint entschlossen, sich nicht aus dieser Pole-Position verdrängen zu lassen. Das täte er aber, würde er der Erweiterung der Nato durch Schweden und Finnland zustimmen.
Allerdings: Seinen Allein-Widerstand in der Gemeinschaft der 30 wird er nicht unendlich lange aufrecht erhalten können. Aber er kann Zeit gewinnen, Zeit für die von ihm angestrebte Unklarheit. Und Zeitgewinn bei dieser Frage heisst mindestens: Russland kann Nervosität schüren in den beiden nordischen Ländern.
Der Teufel steckt im Detail
Russlands Alleinherrscher Putin hat die Hinterlegung der Beitrittsgesuche Finnlands und Schwedens bei der Nato zwar relativ milde kommentiert, aber er liess dennoch keine Zweifel an seiner Entschlossenheit zu Störmanövern. Von aussen kann man wohl sagen: Störmanöver im Rahmen seiner (glücklicherweise) eingeschränkten Möglichkeiten. Also: keine Lieferungen mehr von Rohstoffen an Finnland und, vielleicht, Cyber-Attacken. Etwas «handfester» wohl die Drohung, nukleare Sprengköpfe auf Waffensystemen in nordischen Regionen zu stationieren. An die Verlegung von russischen Landstreitkräften in die Nähe der finnischen Grenze glaubt wohl niemand – schon in und um die Ukraine sind die russischen Reserven, sofern überhaupt noch vorhanden, fast schon erschöpft. Also beschränken sich wahrscheinlich die russischen «Abwehrmanöver» gegen die Nato-Wünsche der beiden Nordischen auf das so genannt Psychologische: Angst oder wenigstens Nervosität. Und jeder Tag, jede Woche, die vergehen, bis aus dem Beitrittsgesuch der beiden Nordischen wirklich der Beitritt wird (erst nach dem Beitritt kann der jetzt so viel zitierte Artikel 5, die Solidarität aller, in Kraft treten), ist für Russlands Führung gewonnene Zeit.
Wie lange wird die Wartezeit dauern? Schwer zu sagen, aber sie wird wahrscheinlich länger dauern als in den Hauptstädten der Nato-Länder erwartet. Denn der Teufel steckt im Detail. Unter anderem in Schwedens Antwort auf die von der Türkei gestellte Frage, ob Bereitschaft bestehe, mutmassliche Anhänger des islamischen Predigers Fetullah Gülen auszuliefern (aussichtslos im Rechtsstaat Schweden). Oder Kundgebungen von Kurden (etwa 100’000 von ihnen leben in Schweden) zu verbieten, denn immer handle es sich dabei um Propaganda der (auch in Schweden als Terrororganisation geltenden) PKK. Auch Finnland beherberge PKK-Leute, lautet der Vorwurf aus Ankara, und dass der finnische Präsident sagte, in seinem Land sei die PKK so klar verboten, dass er das nochmals in Grossbuchstaben wiederholen könne, blieb bei Erdogan ohne Eindruck.
Bei der Nato, auch in Stockholm und Helsinki, beginnt man, das türkische Veto ernst zu nehmen. Die Frage ist, ob allfällige Konzessionen im Umfeld der Kurden-Themen genügen werden, Präsident Erdogan umzustimmen. Oder ob er sich nicht viel mehr die (relative) Gunst Putins zumindest durch ein zeitlich ausgedehntes «hayir» (türkisch: Nein) zum Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands erkaufen will.