Es kommt zum Glück in immer kürzeren Abständen vor, dass Bollywood anständige Filme produziert, die auch einem Film-Snob wie mir den Gang ins Kino erleichtern. „Bombay“ war ein solcher Film gewesen, „Frühlingsfarben“ und „Lagaan“ von und mit Aamir Khan, auch dessen 2017-Erfolg „Dangal“.
Filmischer Slum-Tourismus
Aber selbst diese Filme sind meist Studio-Produktionen. Die Slums sind ebenso rekonstruiert wie die Dörfer für die ländlichen Szenen, deren Bewohner inzwischen gekonnt sich selbst spielen. Es war der Hollywood-Hit „Slumdog Millionaire“, der Bollywood beigebracht hat, dass man auch an realen Schauplätzen drehen kann. Dass Danny Boyle mit seinen Elendsszenen einmal mehr das Slum-Stereotyp von bodenloser sozialer Zersetzung bediente, steht auf einem anderen Blatt.
Nun kam vor einigen Wochen ein Film namens „Gully Boy“ in die Kinos. „Gully“ heisst „Gasse“ im lokalen Hinglish, wobei die englische Standardbezeichnung von „Senkloch“ durchaus noch mitschwingt. Deshalb verweist der Titel untrüglich auf eine stinkige Gasse in einem Elendsviertel, in diesem Fall jenem von Dharavi, Bombays grösstem Slum.
Ich fragte mich, wie die Regisseurin Zoya Akhtar wohl mit der gedankenlosen Konvention umgehen würde, eine Art filmischen Slum-Tourismus zu betreiben: Die Armen werden zum voyeuristischen Objekt, mit Hilfe dessen die Betrachter ihre Schuldgefühle abarbeiten können. Tatsächlich nimmt die Kamera mitten im Film eine solche Gruppe ausländischer Touristen auf. Sie treten gedanken- und rücksichtslos in die Hütten ein, fotografieren deren bedrängende Enge und kommentieren sie mit „amazing“ und „beautiful“.
Dem Elend entfliehen
Diese kleine satirische Szene zeigt, dass sich Akhtar der Problematik der Exotisierung von Armut durchaus bewusst war. Die sei der Grund gewesen, sagte sie in einem Interview, warum sie im Slum drehen wollte, mit realen Personen und Alltagssituationen im Hintergrund.
Es gelang ihr. Mitten in Dharavi fand sie ein kleines offenes Geviert, mietete dieses, liess ein paar Hütten aufbauen, die nahtlos ins reale Wohnquartier übergingen. Die Familienszenen spielen, gut gefilmt, im künstlichen Aufbau. Doch sobald die Aktion „ins Freie“ trat, spielte das hektische Treiben der „Gullies“ ins Geschehen und gab diesem einen zusätzlichen Energieschub.
„Zusätzlich“ deshalb, weil der Film ohnehin schon mit einer unbändigen anarchischen Energie pulsiert. Es ist der Vorwärtsdrang junger Menschen, die im Elend – und das heisst: ohne grosse Lebenschancen – aufwachsen und alles tun, um sich aus ihm herauszuarbeiten. Das Wort „Hunger“ hat hier seinen doppelten Sinn: Es ist nicht nur der Mangel an existenzieller Materie – Nahrung –, es ist auch der eiserne Wille, ihm zu entfliehen.
Protestkultur
In Akhtars Film – und dies ist der entscheidende Einfall – ist es amerikanischer Rap und Hip-Hop, an denen sich Elend und Energie erzählerisch entfalten. Das explosive Gemisch dieser Protestkultur, sowie die Verbindung von Tanz, Poesie und Musik, bilden das ideale Gefäss, um diese Energie formal auszudrücken.
Ich hatte bis heute keine Ahnung, dass Tausende junger Männer aus den Slums der indischen Grossstädte sich dieser Musik verschrieben haben. Auch Akhtar, so gestand sie in besagtem Interview, war völlig überrascht, als sie darauf aufmerksam wurde. Als Tochter des bekannten Lyrikers und Bollywood-Szenaristen Javed Akhtar wusste sie sofort, wie gut sich die Geschichte eines Rappers für einen Bollywood-Film eignen würde.
Aufrührerisches Potential
Denn Bollywood arbeitet ohnehin mit viel Song-and-Dance-Routinen. Sie wollte diese Formel publikumswirksam einsetzen, um sie dann quasi von innen zu unterlaufen. Damit verfügte sie neben dem Realkolorit von Dharavi über ein zweites Mittel, um Wirklichkeitsnähe zu erzeugen: Die vielen Rapper, die sie anheuerte, drückten ihre Realität aus, verbal und körperlich, aber auch aggressiv und lyrisch.
Herausgekommen ist ein Film, der wie selten eine Bollywood-Produktion ungeschminkt die Befindlichkeit der Millionen junger Männer aus den Slums der Grossstädte zum Ausdruck bringt. Er ist beängstigend, weil er aufrührerisches Potential von Jugendarbeitslosigkeit und „Hunger“ blosslegt. Gleichzeitig wirkt er befreiend. Viele Zuschauer im luftgekühlten Inox-Luxuskino werden sich, bange und hoffnungsvoll zugleich, gefragt haben, wie der Film wohl auf diese Menschen selber wirken wird.
Charme und Durchtriebenheit
Ranvir Singh spielt die Geschichte eines Gully-Boy, der in der Schule Zeuge eines Rap-Wettbewerbs wird. Bisher hat er seine Frustration über den vom Vater vorgezeichneten Weg – ein Job um jeden Preis – mit Tagebucheinträgen und Versen zu ventilieren versucht. Nun bietet sich plötzlich die Chance, dies mit Rappen zu tun.
Je mehr junge Männer ihm zuhören, je mehr andere Rapper ihn herausfordern, verhöhnen, provozieren, desto mehr Erfolg hat er. Und nun will er den Wahlspruch seines Vaters umdrehen: Statt seine „Träume auf die Wirklichkeit zuzuschneiden“, soll diese fortan seinen Träumen folgen.
Dieser Erzählstrang verknüpft sich mit der Freundschaft mit einer jungen Studentin, die alles daransetzt, um Medizin zu studieren. Sie rennt damit in eine Wand elterlichen Widerstands. Der Vater will seine Tochter vorsichtshalber zuerst verheiraten, damit ihre existenzielle Sicherheit garantiert ist. Während der Gully-Boy mit seinem Vater in einen gewaltsamen Streit gerät, navigiert das Mädchen mit Charme und Durchtriebenheit an einem offenen Konflikt vorbei.
Jenseits der Bollywood-Tropen
Die Beziehung verläuft züchtig und recht Bollywood-konform. Es ist eine Konzession an Publikumserwartungen, aber es hat auch mit dem Setting der Geschichte zu tun, einer konservativen muslimischen Familie.
Die indischen Muslime bilden die ökonomisch ärmste Volksgruppe Indiens, und entsprechend hoch ist ihr Bevölkerungsanteil in Slums wie Dharavi. Zoya Akhtar, Tochter eines Muslim und einer Parsi,stellt dieses Thema aber nicht in ihren Fokus. Stattdessen behandelt sie es mit grosser Selbstverständlichkeit und ohne Rücksicht auf falsche Political Correctness.
Herausgekommen ist ein Film, der emphatisch demonstriert, dass es im religiös aufgeheizten Klima eines „modifizierten“ Indiens immer noch möglich ist, ein Bürger dieses Staats zu sein, ohne ständig die Etikette religiöser Zugehörigkeit herumzuzeigen.
„Gully Boy“ ist nicht der erste oder gar einzige Film, der so viele Bollywood-Tropen platzen lässt. Zoya Akhtar ist vielmehr eine von einer wachsenden Zahl junger Filmemacher/innen, die das Schema immer mehr aushebeln. Inzwischen sind solche Filme immer öfter auch ein Kassenerfolg.
Kommerzeille Flops
Es ist nicht das einzige Indiz, dass das alte Bollywood-Kino allmählich ausgedient hat. Junge Schauspielerinnen wählen immer mehr Rollen, die nicht mehr den Glamour-Stars auf den Leib geschrieben sind. Wie im Leben stellen Frauen auch im Kino ihre Rollen in Frage. Der Anti-Held hat ausgedient, es lebe die Anti-Heldin.
Alia Bhatt, die zielbewusste Freundin von Gully Boy, spielt in Raazi eine junge Kaschmiri, die vom indischen Geheimdienst auf einen pakistanischen Offizier angesetzt wird, ihn heiratet und nach Karachi zieht. Dort soll sie für ihr Land spionieren.
Sie spielt pflichtbewusst die zuvorkommende Schwiegertochter, ist ihrem Mann von Herzen zugetan, kann aber auch ihre Schattenseite zeigen. Als ein Hausangestellter sie beim Herumschnüffeln überrascht, bringt sie ihn um. Ihrem „Handler“ in der indischen Botschaft teilt sie mit: „Es gab ein Leck im Hausdach. Es wurde geflickt.“
Ein Symptom für tiefer gehende Änderungen in Bollywood sind immer öfter auch die kommerziellen Flops, die Grossproduktionen rund um die grossen Stars – das Dreigestirn der Khans – heimsuchen. Nichts illustriert dies drastischer als Shahrukh Khans letzter Film. Er handelt von einem zwergwüchsigen Gaukler und Magier, der Sternschuppen zum Aufleuchten und Ausbrennen bringen kann; bis zum Augenblick, als der Trick nicht mehr funktioniert. Der Film heisst „Zero“ und war ein kommerzielles Fiasko. Khan durchlebt, gemäss Freunden aus der Branche, seine erste Schaffenskrise.