Im vorderen Wagen sass ein Kondukteur in einer Art Kanzel, verkaufte Billetts und entwertete sie mit einer Lochzange, was mich so beeindruckte, dass ich diesen Job als zukünftigen Beruf ins Auge fasste. Im Anhänger durfte geraucht werden, sodass der Blick von aussen durch die Fenster immer durch leichte Nebelschwaden getrübt wurde.
„Ich bin auch ein Schiff“
Nun, die Zeiten ändern sich und das Tram sich in ihnen. Mit seiner Werbekampagne, mit der der Zürcher Verkehrsverbund im Jahr 2000 die Einheitstickets für alle seine öffentlichen Verkehrsmittel noch breiter bekannt machen wollte, stand auf den Zürichsee-Schiffen plötzlich, sie seien auch ein Bus. Die riesigen Buchstaben auf den Lokomotiven der S-Bahn behaupteten, der Zug sei auch ein Tram.
Und dieses pflügte sich weiterhin nicht durch Wellen, sondern quietschte auf seinen Schienen, obwohl es Weiss auf Blau verlauten liess: „Ich bin auch ein Schiff.“ Ein grandioser Gag, den sich die Werber hatten einfallen lassen und der bald in aller Munde war. So grandios, dass er sich auch heute noch problemlos in Varianten weiter ausbauen liesse.
Lunchen im Tram
„Ich bin auch eine Beiz“ etwa schiene mir als regelmässiger ÖV-Benutzerin durchaus adäquat angesichts der Gerüche, die mir auf meinen Fahrten häufig in die Nase stechen. Je nach Stadtgegend, die ich durchquere, riecht es mal nach Hamburger und Pommes, mal nach indischem Curry, nach Pizza oder nach „Döner mit alles und viel scharf“ – oder nach allem zusammen.
Es fragt sich, ob man nicht die Namen der Haltestellen nach dem Angebot der umliegenden Take-aways richten sollte, sozusagen als Menukarte für die im Tram lunchenden Passagiere. Man führe dann nicht mehr vom Stadelhofen via Bellevue und Central zur Langstrasse, sondern von Chicken Nuggets oder Big Mac via Bratwurst und Pizza Napoli nach Kebab, Springrolls und Mah Meh.
Bekanntlich geht im Leben öfter was daneben. Beim Essen im rüttelnden Tram sowieso. Was zur Folge hat, dass ein Ausrutscher auf mit Ketchup getränkten Pommes frites akrobatische Verrenkungen und eine verzweifelte Suche nach Haltegriffen nach sich zieht. Die indonesischen Nudeln, die auf unergründliche Weise den Weg aus dem Plastikgeschirr der Dame auf dem hinteren Sitz auf die neue Seidenbluse ihrer Vorderfrau gefunden haben, sind ein Klacks dagegen, auch wenn sie die Haftbeständigkeit eines Kraftklebers aufweisen. Auch das auf dem Polstersitz ausgeschüttete Süssgetränk, in das ich mich kürzlich setzte, bescherte mir nichts weiter als ein klebriges Hinterteil – und das peinliche Aussehen von jemandem, dem es nicht mehr zur nächsten Toilette gereicht hatte.
„Ich bin auch eine Telefonkabine“
Passen dürfte ebenso der Slogan „Ich bin auch ein Kiosk“. Denn da liegt eine schöne Auswahl an Zeitungen und Zeitschriften auf Sitzen und dem Boden. Dazu Getränkedosen und -flaschen, Zigarettenschachteln, wenn auch leere, oder – besonders beliebt – Kaugummis, second-hand zwar, dafür bereits weichgekaut. Ein besonderer Genuss, wenn man sie erst mal von der Schuhsole gekratzt oder unter dem Sitz, wo sie kleben, hervorgeklaubt hat. Lauter Hinterlassenschaften altruistischer Passagiere, die auch jenen, die nach ihnen einsteigen, ihr Vergnügen gönnen. Zu bedenken wäre allerdings, ob hier nicht eher die Aufschrift „Ich bin auch ein Abfalleimer“ angebrachter wäre.
Grosser Beliebtheit erfreuen dürfte sich weiter „Ich bin auch eine Telefonkabine, eine Disco und ein Kino“. Wer erfreut sich nicht an lauthals geführten Gesprächen mit einem unsichtbaren Gegenüber (manche Leute scheinen noch nicht begriffen zu haben, dass das Telefon das Hilfsmittel der Wahl ist, um sich mit weit entfernten Gesprächspartnern zu unterhalten, ohne schreien zu müssen). Insbesondere dann, wenn der fernmündliche Austausch die Prostatakrebserkrankung des Vaters samt angeordneter Operation und Therapie zum Inhalt hat (eine wahre Begebenheit!).
Hochdeutsch heisst es: die Tram
Gerne nimmt man auch teil an der auf dem Handyscreen abgespielten Filmsequenz der letzten geilen Party oder lässt sich vom angesagtesten Hip-hop-Hit beschallen. Oder von Strassenmusikanten, deren Konzerten in der fahrenden Tonhalle allerdings nicht selten eine gewisse Unstimmigkeit zwischen Instrument und Gesang eigen ist.
Die Liste weiterzuführen, überlasse ich Ihrer Kreativität. Vielleicht sind Sie ja auch ein Werbegenie. Jedenfalls ist mir eins klar: Die heutigen Trams sind multifunktional. Weil das eine angeblich weibliche Tugend ist, erklärt sich damit allenfalls auch, weshalb es im hochdeutschen Sprachraum „die“ und nicht „das“ Tram heisst (abgeleitet von englisch tramway, alternativ für Strassenbahn).
Nach den alten, verqualmten Raucher-Tramanhängern sehnt sich wohl niemand zurück. Und wäre ich Billettkontrolleuse geworden, wäre ich längst arbeitslos. Aber manchmal … manchmal, da wünschte ich mir, auf den heutigen Trams stünde: „Ich bin einfach nur ein Tram“.