Für eine ernsthafte Aufarbeitung der Kriegsgräuel fehlt jedoch auf allen Seiten der politische Wille. Das wäre aber eine wichtige Voraussetzung für eine Versöhnung.
Das letzte erstinstanzliche Urteil des Uno-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien ist zugleich auch das wichtigste. Ratko Mladić, der frühere Kommandant der Truppen der bosnischen Serben, wurde wegen Völkermords in Srebrenica, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur höchsten Strafe verurteilt, die das Uno-Tribunal verhängen kann: zu lebenslanger Haft. Dieses Urteil war erwartet worden. Die Liste der Gräueltaten war lang, die Beweislast erdrückend.
Mladić wurde allerdings aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf freigesprochen, für einen weiteren Genozid verantwortlich zu sein, der nach Meinung der Anklage zu Beginn des Krieges 1992 auch in einigen andern bosnischen Städten, vor allem im Norden und Osten des Landes, begangen wurde. Die Richter werteten jedoch die Ermordung und die Vertreibung der dort lebenden Bosnjaken (Muslimen) und Kroaten – anders als das Massaker von Srebrenica – nicht als Völkermord. Und so wurde Mladić in diesem Fall nicht wegen Genozids verurteilt, sondern wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Im Prozess gegen den früheren bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić, den das Uno-Tribunal im März des vergangenen Jahres zu einer vierzigjährigen Haftstrafe verurteilt hatte, war diese zweite Genozidklage schon während des Verfahrens ebenfalls aus Mangel an Beweisen fallengelassen worden. Das ist von Bedeutung. Hätte das Gericht Mladić und Karadžić oder einen von beiden auch in diesem Punkt für schuldig befunden, wäre das dem Eingeständnis gleichgekommen, dass die Serbische Republik, die zusammen mit der bosnjakisch-kroatischen Föderation den Staat Bosnien-Herzegowina bildet, das Resultat eines Völkermordes ist. Die von den bosnischen Serben dominierte Serbische Republik hätte damit jegliche Legitimation verloren. Die den Kriegsparteien in Dayton vom Westen aufgezwungene politische Neuordnung wäre nachhaltig erschüttert worden.
Keine Einsicht, keine Reue
Wie die meisten andern Angeklagten wies auch Ratko Mladić alle Vorwürfe weit von sich. Er zeigte keine Einsicht, keine Reue. Immer wieder beschimpfte er die Richter als Lügner. Auch er warf sich in die Pose des Anklägers und missbrauchte den Gerichtssaal als politische Bühne. Er sah sich als Opfer, dem Unrecht geschieht. Wie für die meisten serbischen Angeklagten ist auch für ihn das Uno-Tribunal ein Instrument des Westens zur Verurteilung des ganzen serbischen Volkes. Verantwortlich für den Krieg sei, so erklärte Mladić immer wieder, die muslimische Führung, die in Bosnien einen islamischen Gottesstaat habe errichten wollen. Die Serben hätten keine Wahl gehabt, sie hätten sich verteidigen müssen. Von einer individuellen Verantwortung will er nichts wissen. Er sieht vielmehr das ganze serbische Volk an den Pranger gestellt. Schuld sind immer nur die andern.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass alle Urteile des Haager Tribunals in Serbien und auch in Kroatien politisch interpretiert wurden. Fällte das Uno-Tribunal ein Urteil gegen einen Serben, feierte Zagreb das Verdikt als Sieg seiner Sichtweise des Krieges. Belgrad hingegen wertete solche Urteile als Versuch, allein die Serben für die jugoslawischen Zerfallskriege und die dabei begangenen Verbrechen verantwortlich zu machen. Wurde ein Kroate verurteilt, was allerdings viel seltener der Fall war, jubelte Belgrad, und Zagreb warf dem Tribunal vor, die Wahrheit zu verfälschen und die ganze kroatische Nation an den Pranger zu stellen.
Verherrlichung von Kriegsverbrechen
Zwar steht heute ein Grossteil der serbischen und kroatischen Bevölkerung den Kriegen und den Kriegsverbrechen der neunziger Jahre gleichgültig gegenüber. Viele wollen davon nichts mehr wissen. Doch gibt es noch immer Serben und Kroaten, die verurteilte Kriegsverbrecher als Patrioten und Helden verehren.
Erschreckend ist, dass die Verherrlichung von Kriegsverbrechern in der letzten Zeit eher wieder zugenommen hat. So wurde in Pale, der Hochburg der radikalen bosnischen Serben während des Krieges, ein Studentenheim nach Radovan Karadžić benannt. Eingeweiht wurde es von Milorad Dodik, dem Präsidenten des serbischen Landesteils von Bosnien-Herzegowina. Und in Belgrad soll General Lazarevic, der vom Uno-Tribunal wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurde, in der Belgrader Militärakademie Vorlesungen halten und künftige Offiziere ausbilden.
„Rache an den Türken“
Ratko Mladić hatte den Völkermord in Srebrenica in aller Öffentlichkeit angekündigt. Allerdings wollte niemand hinhören. Als bosnisch-serbische Truppen im Juli 1995 in der muslimischen Enklave Srebrenica in Ostbosnien einmarschierten, sagte Mladić dem bosnisch-serbischen Fernsehen: „Wir sind hier in Srebrenica, am 11. Juli 1995. Am Vorabend eines weiteren grossen serbischen Festtages. Wir machen dem serbischen Volk diese Stadt zum Geschenk. Nun ist endlich der Zeitpunkt gekommen, Rache an den Türken zu nehmen.“
In den folgenden Tagen wurden mindestens 7000 muslimische Männer und Jugendliche, praktisch vor den Augen der Uno-Schutztruppen, umgebracht und in Massengräber verscharrt. Mladić bezeichnete die Muslime, in Anspielung an die jahrhundertelange Fremdherrschaft der Osmanen, als „Türken“, auch wenn die bosnischen Muslime wie die Serben und die Kroaten slawischer Herkunft sind. Das war in jener Zeit die übliche Terminologie. Serbische Nationalisten nannten die Muslime despektierlich und verächtlich „Türken“. Sie waren in ihren Augen Verräter, weil ihre Vorfahren Jahrhunderte zuvor vom orthodoxen Christentum zum Islam konvertierten.
Niemand wollte die Drohung zur Kenntnis nehmen
Spätestens bei der öffentlichen Ankündigung Mladićs, die Zeit der Rache sei gekommen, hätten in den Amtsstuben westlicher Regierungen und bei den vielen „Internationalen“, die sich zu jener Zeit in Bosnien tummelten, die Alarmglocken schrillen müssen. Doch sie schrillten nicht. Offenbar wollte niemand zur Kenntnis nehmen, was Mladić vor den Fernsehkameras sagte, niemand nahm seine Worte ernst. Hätte man genau hingehört, hätte der Genozid von Srebrenica womöglich verhindert werden können. Vielleicht wäre alles anders gekommen.
Als Mladić von der Rache an den „Türken“ sprach, bezog er sich, wie man annehmen kann, auch auf die Ereignisse vom Winter 1992/1993 rund um Srebrenica. Das hätte man wissen müssen. Damals hatten muslimische Truppen serbische Orte in der Umgebung von Srebrenica angegriffen und geplündert. Hunderte von serbischen Dorfbewohnern wurden getötet. Naser Oric, der damals die muslimischen Truppen befehligt hatte, wurde vom Uno-Tribunal freigesprochen. Viele bosnische Serben waren über dieses Urteil empört. Auch der Freispruch des kroatischen Generals Ante Gotovina im Berufungsverfahren stiess nicht nur bei Serben auf Unverständnis und Kritik. In erster Instanz war er nämlich noch zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden.
Keine Straflosigkeit für niemanden
Das1993 mitten im Bosnienkrieg geschaffene Uno-Kriegsverbrechertribunal wird seinen Betrieb Ende Jahr einstellen. Etwas mehr als die Hälfte der insgesamt 161 Angeklagten wurden verurteilt, die meisten von ihnen waren Serben. Nun ist es an den lokalen Behörden, Kriegsverbrechen zu ahnden. Die Bilanz des Tribunals ist zwiespältig. Den Haag ist der einzige Ort, an dem Kriegsverbrechen in umfassender Weise juristisch aufgearbeitet wurden. Ohne das Uno-Gericht wären die Gräueltaten, wie die im Zweiten Weltkrieg verübten Verbrechen in Titos Jugoslawien, unter den Teppich gekehrt worden. Wohl kaum ein Politiker oder General hätte sich wegen Kriegsverbrechen vor Gericht verantworten müssen. Zwar bewegte sich die Anklage des Uno-Tribunals vor allem in den Jahren, in denen die Tessinerin Carla Del Ponte Chefanklägerin war (1999 bis 2007), oft in einer Grauzone zwischen Recht und Politik, zwischen dem Wunsch nach Gerechtigkeit für die Opfer und dem Anspruch, den politischen Kontext der Verbrechen auszuleuchten und damit die Geschichte des Zerfalls Jugoslawiens zu deuten.
Dennoch ist die Botschaft des Uno-Tribunals eindeutig: Es gibt auch für jene, die am obersten Ende der politischen und militärischen Befehlskette stehen, keine Straflosigkeit. Nach den vielen Prozessen können Kriegsverbrechen nicht mehr einfach geleugnet werden. Die Fakten liegen auf dem Tisch, sorgsam gepflegte Opfermythen erweisen sich als Lügengebilde. Die umfassend begründeten Urteile, die Aufzeichnungen der Gerichtsverhandlungen, die Aussagen der vielen Zeugen und die Berge von Dokumenten sind eine Fundgrube für jeden, der wissen will, was damals geschah. Gerade diese umfassende Dokumentation der auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen bildet die Voraussetzung für die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte und damit für eine Versöhnung.
Keine nationale Selbstbesinnung
Wer allerdings gehofft hatte, die Verfahren des Uno-Tribunals könnten in den betroffenen Ländern eine nationale Selbstbesinnung einleiten, sieht sich getäuscht. Kriegsverbrecher wurden zwar ausgeliefert, aber nicht aus Einsicht, sondern unter dem Druck der Europäischen Union, welche die Kooperation mit dem Tribunal mit der weiteren Integration der betroffenen Länder in die EU verknüpfte. Doch seither geschah in Serbien, Kroatien und Bosnien wenig. Die Kosovo-Albaner sehen noch heute in jeder Anklageerhebung gegen Angehörige der Befreiungsbewegung Kosovo (UCK) einen Versuch, den „gerechten Freiheitskampf gegen die serbischen Unterdrücker“ zu kriminalisieren.
Doch die politische Aufarbeitung ist nicht die Aufgabe des Uno-Tribunals. Damit müssen sich Politik und Gesellschaft in Serbien, Bosnien, Kroatien und Kosovo befassen. Doch fehlt derzeit nach wie vor auf allen Seiten der politische Wille, sich ernsthaft mit den Verbrechen auseinanderzusetzen, die in den jugoslawischen Zerfallskriegen beim Versuch der Bildung ethnisch „reiner“ Nationalstaaten begangen wurden. Das kann nicht dem Uno-Tribunal angelastet werden.
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Cyrill Stieger veröffentlichte kürzlich das Buch
„Wir wissen nicht mehr, wer wir sind – Vergessene Minderheiten auf dem Balkan“. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2017.
ISBN 978-3-552-05872-9
Auch als E-Book
Siehe auch Besprechung im Journal21.ch: „Wir wissen nicht mehr, wer wir sind“