Es geht um die Verfassung, um das neue Ägypten, welches die Demonstranten vom Januar und Februar 2011 aufbauen wollten. Doch dieses Ägypten, das an liberale Traditionen des Landes anschliessen sollte, ist heute in weite Ferne gerückt.
Ägypten war eines der ersten Länder in der Region, welches sich Institutionen gab, die Vorläufer zu freien Parlamenten hätten sein können. Doch immer wieder wurden diese Versuche durch Einmischung von aussen oder einheimische Autokraten vereitelt.
Die Schuldenfalle
Ismael Pasha etwa, unter der Oberherrschaft des osmanischen Sultans Vizekönig von Ägypten, führte 1866 eine beratende Versammlung ein, die schnell an Bedeutung gewann. Ismael Pascha tat dies nicht aus vollem demokratischen Bewusstsein. Vielmehr benötigte er die Hilfe der Delegierten, um den ausländischen Einfluss in seinem Land, insbesondere den der Briten und Franzosen, einzudämmen. 1879 führte Ismael den Code Napoleon in Ägypten als Gesetzesgrundlage ein; dadurch wurde die Scharia weitgehend ersetzt.
Doch Ismael machte den Fehler, sich hoch zu verschulden – etwa durch die Feierlichkeiten zut Eröffnung des Suezkanals 1869. Der deutsche Reichskanzler Bismarck wandte sich im Namen europäischer Banken an den osmanischen Sultan in Istanbul und forderte die Absetzung Ismaels. Nachfolger Tawfiq Pasha schaffte als eine seiner ersten Massnahmen die beratende Versammlung wieder ab - zum Entzücken Englands und Frankreichs, die nunmehr sicher sein konnten, dass ihre Eigeninteressen nicht mehr öffentlich diskutiert und durch Delegierte kritisiert wurden.
Eine neue Verfassung bekam Ägypten erst 1923, sie lehnte sich an das belgische Modell an. In Ägypten sollte sie den Weg zu einer wahrhaft konstitutionellen Monarchie weisen. Doch das für die damalige Zeit progressive Werk wurde aufgerieben im Streit zwischen König und Parlament – sowie zwischen der Kolonialmacht Groß-Britannien und Ägypten.
Das Ziel gerät in Vergessenheit
Die grösste Niederblage für die ägyptische Verfassungsbewegung hat Gamal Abdel Nasser zu verantworten. Die freien Offiziere, wie sie sich nannten, hatten 1952 König Farouk ins Exil geschickt. Einer der Putschisten, Mohammed Naguib, arbeitete eine Verfassung aus, die praktisch eine parlamentarische Demokratie aufbauen sollte. Doch Nasser – in einem Gegencoup – stellte Naguib kalt und liess eine Präsidialverfassung ausarbeiten, die, mit Änderungen durch Anwar el-Sadat von 1971, bis vor kurzem galt und die von einer wirklich parlamentarischen Demokratie nichts übrig liess.
Dann kam die Revolution von 2011. Die Jugend auf dem Kairoer Tahrirplatz wollte mit dem gesamten System abschliessen und forderte nichts weniger als eine neue, demokratische Verfassung. Doch das hehre Ziel ist, so scheint es, im politischen und ideologischen Zwist zwischen eher laizistische ausgerichteten Gruppen und den Ideologen der Muslimbrüder untergegangen.
Die Maske ist gefallen
So stehen sich heute zwei Blöcke unversöhnlich gegenüber. Greifen die Brüder ganz unverhohlen zur Macht ? Oder nutzen sie nur die Gelegenheit, die ihnen die innere Zerrissenheit des Landes bietet, um mehr zu erreichen als ursprünglich geplant ? Ein langjähriger politischer Analyst mit profunden historischen Kenntnissen, der de zuvor argumentiert hatte, die Brüder würden gar nicht erst versuchen, gegen die Hälfte des Volkes zu regieren, sagt heute: „Die Muslimbrüder haben ihre Maske fallen gelassen.“ - Es kam, wozu es nach Lage der Dinge kommen musste, es kam zu Strassenschlachten.
Als Anfang Dezember Demonstranten friedlich vor dem Präsidentenpalast in Kairo gegen Mursis Dekrete demonstrierten, erschienen bewaffnete Schläger der Bruderschaft, gut organisiert wie Milizen, nahmen Demonstranten fest und folterten sie – unter anderen den ägyptischen Geschäftsträger in Venezuela Yahiya Negm. (Sein von Schlägen gezeichnetes Gesicht kann man in Yu-Tube besichtigen).
Polizei und Militär sahen dem grausamen Treiben der Brüder tatenlos zu. Nach vielen Stunden wurden die von der Brüder-Miliz Verhafteten dem Staatsanwalt vorgeführt – der den Malträtierten kein Vergehen nachweisen konnte und sie nach Hause schickte.
Abgeriegelte Stadtviertel
Mohammed Mursi, der, wie er sagt, Präsident aller Ägypter sein will, kritisierte nicht etwa die Schlägerbanden der Brüder, sondern sprach von Elementen des alten Regimes, die für die Folterungen Unschuldiger verantwortlich seien..
Und als sich Ende November am Tahrirplatz anlässlich der Mursi-Dekrete Tausende zusammenfanden, mischten sich gewaltbereite Akteure unter die Menge, marschierten zur nahe gelegen en amerikanischen Botschaft, griffen dabei auch ein Privathaus mit Molotowcocktails an, zerstörten einen Laden in diesem Haus und brachten seine Bewohner in Lebensgefahr. Heute ist die Gegend – noch mehr als früher – durch hohe Mauern abgeriegelt.
Wenig später, am 9.Dezember, belagerten Gruppen von Muslimbrüdern – und vermutlich Salafisten – das Parteigebäude der Wafd-Partei im Stadtteil Dokki, einen Tag darauf musste die Polizeistation in Dokki von starken zusätzlich heran gezogenen Polizeieinheiten gegen Demonstranten der Islamisten geschützt werden.
"Ja, wir wollen alles"
Gewalt aber war eigentlich selten das Markenzeichen der Brüder. Eher schmachteten sie in den Gefängnissen des Regimes, einer ihrer führenden Ideologen, Said Qutb, wurde von Nassers Leuten 1966 im Gefängnis hingerichtet. Mit der Gewalt, die Ägypten in den 1990iger Jahren heimsuchte, als viele Touristen durch Anschläge starben, hatten die Brüder nichts zu tun.
Doch einmal in der Nähe der Macht, erinnern sich viele Ägypter an Parolen, welche die Brüder im Wahlkampf unter das Volk brachten. . Mursi erklärte seinerzeit, er wolle die Scharia ein führen – „unabhängig davon, was in der Verfassung steht“. Und einer seiner Helfer sagte auf einer anderen Wahlveranstaltung. „Ja, wir wollen alles. Wir wollen das Parlament, wir wollen den Präsidenten. Wir wollen das Kabinett und wir wollen die Ministerien. Wir wollen, dass alles islamisch ist. Wir wollen das Abwassersystem islamisch.“
Unklare Haltung
Bleiben drei Gruppen: die Universität Al-Azhar, die Armee und die Opposition, die sich, spät, zu einer „Nationalen Rettungsfront“ zusammen getan hat.
Al-Azhar hat verkündet, man müsse am Verfassungsreferendum teilnehmen und mit Ja stimmen. Aus dieser Haltung zu schliessen, Al-Azhar stünde vollends auf Seiten der Brüder, wäre voreilig. In der neuen Verfassung ist den Gelehrten dieser berühmten islamischen Universität zwar die Rolle übertragen worden, über die Vereinbarung von Gesetzen mit der Scharia zu wachen. Doch manche in Al-Azhar wollen eine solche Verantwortung nicht übernehmen. Zudem sind einige Azharis als sozusagen Unabhängige in den Demonstrationen gegen das Mubarak-Regime mit marschiert. Die wahre Rolle von Al-Azhar wird sich erst in der Zukunft zeigen.
Wann schreitet die Armee ein?
Die Armee hat sich, vorerst wenigstens, auf die Seite von Präsident Mursi gestellt. Denn alle ihre Forderungen sind in der neuen Verfassung erfüllt worden. Ihr Budget wird nicht veröffentlicht und unterliegt auch keiner parlamentarischen Kontrolle; der Verteidigungsminister soll auch in Zukunft, wie bisher, aus der Armee kommen. Und ihre Geschäfte, ihr weit verzweigtes Wirtschaftsimperium, können die Generäle auch weiter allein verwalten. Zudem sind beide – Muslimbrüder und Armee – konservative Gruppen. Mit den ursprünglich auf dem Tahrirplatz demonstrierenden jungen Leuten fühlen sie wenig Affinität. Die Frage ist nur, wie viele Tote es auf den Strassen ägyptischer Grossstädte geben muss, bis die Armee einschreitet. Einen radikalen aussenpolitischen Kurswechsel – wie etwa die Kündigung des Friedensvertrages mit Israel – wird die Armee verhindern – wenigstens so lange, wie sie mit gut einer Milliarde Dollar pro Jahr aus den USA unterstützt wird.
Bisher schreibt sich die Armee zugute, dass sie seinerzeit nicht auf ihre Landsleute auf dem Tahrirplatz geschossen hat. Die Muslimbrüder sprangen spät auf den Revolutionswagen – einmal aus Furcht, die Armee könne die Demonstrationen als eine Veranstaltung der Brüder deuten und diese wieder in die Gefängnisse schicken. Zum anderen musste sich die Bruderschaft erst beraten, wie sie die neue Lage einschätzen solle. Ihre Unsicherheit zeigte sich auch darin, dass sie zunächst nur für einen Teil der Parlamentssitze kandidieren und keinen Präsidentschaftskandidaten stellen wollte. Nun aber will sie die ganze Macht.
Geringe Wahlbeteiligung
Wiederholt sich ein Szenario, das im Jahre 1979 der Iran erlebt hat ? Auch dort waren es erst Menschen aus allen Schichten, die gegen den Schah demonstrierten. Erst danach übernahmen allmählich die Islamisten die Macht – und haben diese bis heute nicht abgegeben. Die Bevölkerung des Iran aber ist mit der Herrschaft der Geistlichen keineswegs zufrieden.
Die Muslimbrüder in Ägypten benötigen nicht die Mehrheit der Menschen, um regieren zu können. Sie müssen nur, was ihnen nicht leicht fällt, ihre Anhänger mobilisieren, um gegen eine kaum einige Opposition die Mehrheit der Stimmen zu erreichen. Die Mehrheit der Wähler – die Wahlbeteiligung ist weiterhin gering – benötigen die Brüder nicht.
Bleibt die Opposition. Nur in der Not, nach den Mursi-Dekreten, hat sie sich zusammen gefunden. Bis dahin war die Opposition in Einzelkämpfer aufgeteilt, von denen jeder seine eigenen, auch egoistischen Machtziele verfolgte. Ein gemeinsames Programm hat die Opposition nicht vorgelegt, ihre Agenda beschränkte sich auf ein „Nein“ gegen die Brüder.
Die Revolutionäre der ersten Stunde haben es versäumt, einen vernünftigen post-revolutionären Fahrplan zu entwerfen. Nach Ansicht vieler hätte man sich zunächst auf eine Art „Bill of Rights“, auf einen Grundrechtskatalog einigen sollen. Danach hätte man eine Verfassung ausarbeiten sollen, in der sich alle Ägypter wiedergefunden hätten. Und erst dann hätte es Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geben dürfen.
Zeitlose Worte
Nun aber konfrontieren sich zwei grosse Blöcke. In dieser ungelösten politischen Situation steht Ägypten zudem vor einem wirtschaftlichen Abgrund. Der Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen des Landes, ist – etwa in Luxor und Assuan – um drei Viertel zurück gegangen. Die Staatsverschuldung hat gigantische Ausmasse erreicht, die Industrieproduktion geht zurück, ausländische Investitionen bleiben aus.
Und das deutsche „Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ hat die jährlichen Verhandlungen über die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit erst einmal vertagt und einen Schuldenerlass von gut 200 Millionen Euro aufgeschoben. Ägypten stehe, sagt in Wirtschaftsfachmann, vor einem „ökonomischen Armageddon“. Gegen diese drohende Katastrophe haben weder die Brüder noch die Opposition wirksame Programme entwickelt.
Die Ägypter werden die Zukunft – und den Erfolg der Muslimbrüder – vor allem daran messen, ob sich das tägliche Leben der meisten Menschen entscheidend verbessern wird. Falls dies nicht geschehen sollte, wäre auch die Zeit der Muslimbrüder vorbei – es sei denn, sie griffen zu diktatorischen Massnahmen wie einst das untergegangene Mubarak-Regime.
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es gibt Worte, die zeitlos sein können. Wie etwa dieses: „Es bleibt uns nichts anderes übrig als die Ideen und die Traditionen aufzugeben, die uns in den gegenwärtigen Zustand der Rückständigkeit gebracht haben. Wir müssen uns ändern und uns entwickeln, so dass wir einen Teil der zivilisierten Welt werden ... Wir müssen die Furcht und die Ignoranz ablegen, die uns daran gehindert haben, von den Idealen der zivilisierten Welt zu profitieren.“
Der das sagte, war Ahmad Lutfy al-Sayyed, ein liberaler Reformer, der wesentlich an der ägyptischen Verfassung von 1923 mitgearbeitet hatte.