An Weihnachten regieren in Italien die Grossmütter oder Urgrossmütter. Zumindest in der Küche. Weihnachten ist im Belpaese immer weniger ein religiöses Fest, sondern ein kulinarisches.
Die Grossmütter und Urgrossmütter stehen dann schon um sechs Uhr früh in der Küche. Je älter sie sind, desto besser kochen sie, sagt man. Sie schöpfen aus jahrzehntelanger Erfahrung. Wer weniger als sechzig Jahre alt ist, gilt als unerfahren. Töchter und vor allem Schwiegertöchter haben gar nichts zu sagen und werden aus der Küche verbannt. Und Männer werden davongejagt.
Weihnachten ist das einzige Fest, in dem die ganze Familie zusammenfindet: drei, vier Generationen. Für einige Stunden zelebriert man seine Blutsverwandtschaft.
Begonnen hat die Weihnachtszeit in Italien schon am 8. Dezember, an Maria Empfängnis. Die Mailänder Scala eröffnet dann ihre Saison. Auf der Piazza di Spagna in Rom werden Blumen niedergelegt. Schäfer aus den Abruzzen ziehen durch die Römer Strassen und singen «Tu scendi dalle stelle» (Du steigst von Sternen herab). Die Kirchen sind kunstvoll geschmückt, überall werden Krippen mit biblischem Personal aufgebaut. Da gibt es viel Kunstvolles und schrecklichen Kitsch. In einer Krippe in Neapel sitzt eine grinsende Berlusconi-Figur neben dem Jesuskind.
Gemieteter Suv
Die meisten Italienerinnen und Italiener feiern Weihnachten zu Hause. Da kommen sie, die Söhne und Töchter, oft nur einmal im Jahr, von weit her. Sie bringen Geschenke, erzählen vom vergangenen Jahr, von Gutem und Schlechtem. Im Süden kreuzen die Söhne manchmal mit einem gemieteten Mega-Suv auf – und zeigen so der Familie, wie weit sie es im Norden gebracht haben. Auch in Italien ist Weihnachten nicht immer konfliktfrei. Vor allem Schwiegertöchter haben es nicht immer leicht.
Italien ist das Land der Feste. Früher huldigte man jedem dahergelaufenen Heiligen mit einem arbeitsfreien Tag. Im Laufe der Jahre wurden viele Feiertage abgeschafft, aber es gibt immer noch genug.
Und jedes Fest ist eng verbunden mit kulinarischen Spezialitäten. Wohl in keinem Land wird so intensiv über das Essen diskutiert wie hier. Da wartet man oft eine Viertelstunde in einer Metzgerei, weil die Kundin vor uns mit dem Metzger intensiv darüber diskutiert, wie man dieses oder jenes Fleisch doch noch ein bisschen zarter hinkriegt – und mit diesem oder jenem Gewürz. Die anderen Kundinnen im Laden mischen sich dann ein, sprechen von ihren eigenen Erfahrungen und schwören, dass es so am besten ist. So charmant kann Italien sein – und manchmal auch nervenaufreibend.
Neues verabscheut man
Was essen die Italienerinnen und Italiener an Weihnachten? Natürlich haben jede Region und jede Familie ihre eigenen Traditionen. Auf dem Land hat sich im Laufe der Jahrzehnte wenig verändert. Auf dem Land isst man, was schon frühere Generationen gegessen haben. Fremde Einflüsse sind vom Teufel. Neue Gewürze, neue Kochmethoden, neue Rezepte verabscheut man.
Das Angebot auf den Märkten ist vor Weihnachten weniger üppig als noch zwei, drei Wochen zuvor. Doch noch immer türmen sich die Artischocken, die im Frühjahr und im Spätherbst reifen. Dieses Gemüse gehört zu vielen weihnachtlichen Beilagen.
Trüffel
Und natürlich: DIE Delikatesse: Die weissen Trüffel. Nicht alle können sie sich leisten. Zu den wichtigsten Anbaugebieten gehören Alba im Piemont und San Giovanni d’Asso in der Toskana. An vielen Orten finden vor Weihnachten Trüffelfeste statt. Fast alle Restaurants bieten die Knolle jetzt an, und – wenn man es sich leisten kann – fehlen Trüffel auf keinem Weihnachtstisch. Weihnachten läutet das Ende der Trüffelsaison ein; auf den Märkten sind sie jetzt unbezahlbar.
Mit Trüffelsplitter werden frische Taglierini, also feine Nudeln bestreut. Man fügt einige Tropfen neues Ölivenöl bei und garniert alles mit etwas Parmesankäse.
Olivenöl, Ferkel
In ganz Italien wird das neue Ölivenöl mit grossem Tamtam kredenzt. Man giesst einige Tropfen des «grünen Goldes» auf ein kleines Stück Brot. Eine auserwählte Frau (selten ein Mann) darf dann – oft am Weihnachtsabend – unter dem Applaus der Anwesenden als Erste probieren. Und dann beginnt eine unendliche Diskussion über die Qualität des neues Öls. Ölivenöl hat in Italien einen fast heiligen Nimbus. In diesem Jahr gibt es wenig davon. Wegen der heissen und dann nassen Witterung sind in vielen Regionen die Erträge sehr bescheiden.
Vor Weihnachten schlachten viele Bauern das kleinste Ferkel eines Wurfs. Beim Verkauf hätte es wenig eingebracht, doch dann wird es bis Dezember durchgefüttert. Das Fleisch wird dann mit Knoblauch und Fenchelsamen aromatisiert, in Olivenöl gebraten und mit Salz konserviert.
Jäger
Die Tage vor Weihnachten sind auch die Tage der Jäger: Noch schnell will man einen Braten schiessen. Da sieht man am frühen, nebligen Morgen meist sehr alte, oft nicht sehr freundliche Männer, wie sie durch die Weinberge oder Wälder streifen – begleitet von einem kläffenden Hund, der das Wild aufscheuchen soll. Doch die alten Männer verschwinden immer mehr.
Abgelöst wurden sie von meist betuchten, jungen Hobby-Jägern (und Jägerinnen), die aus den Städten kommen. Sie parkieren ihren Mercedes oder Ferrari irgendwo am Rande der Weinberge und sind gekleidet mit Gucci-Stiefelchen und Armani-Jäckchen. Manchmal kommt ihnen tatsächlich ein Rebhuhn, ein Hase oder gar ein stolzes Reh vor die Flinte. Was sie dann mit dem toten Tier tun, wissen sie meist nicht. Doch der Jagd-Hype der jungen Elite scheint zu Ende zu gehen. Die Jagdvereine beklagen, dass ihnen der Nachwuchs abhanden kommt. Und dass Jäger immer mehr angepöbelt werden.
«Cappone» etc.
Hier nur einige der weihnachtlichen italienischen Spezialitäten:
Zu den Highlights gehört in mehreren Regionen der «Cappone», der Kapaun, ein kastrierter Hahn, der besonders zart ist.
In Rom gilt der «Capitone» als Weihnachtsdelikatesse, ein weiblicher Mega-Aal, der mehrere Kilo wiegen kann. Man schneidet ihn in dicke Scheiben, grilliert ihn und bestreut ihn mit Salz.
In Mailand gehört der Truthahn zum weihnächtlichen Speisezettel, ebenso natürlich Hasenpfeffer, geschmorte Schnecken und Ossobuco. Zwar glauben viele, der Truthahn komme aus den USA, doch er taucht schon in Renaissance-Kochbüchern auf.
In der Emilia-Romagna werden Kaninchen an Balsamico-Sauce zubereitet, in Siena Schweinsfilet mit Senf, in der Toskana Kalbshaxe («Stinco») mit Zitronensauce, in Mittelitalien Fleischvögel mit Pancetta, in Umbrien Rinderschmorbraten in Rotweinsauce, in Rom Ravioli mit Entenbrust-Spinat-Füllung.
«Taglierini», «Capelletti»
Natürlich gehören Teigwaren als Vorspeise (als «primo») fast überall dazu. «Taglierini», oft mit Artischocken zubereitet, oder «Capelletti», mit gehacktem Fleisch gefüllte Teighütchen – und natürlich die Lasagna mit Ricotta.
Es ist die Zeit der «Favi», der zarten Bohnen, die meist aus Apulien stammen. In der Toskana werden sie in einer Suppe gegessen, einer «Ribollita»: zusammen mit Cavolo Nero, Grünkohl und «Radicchio», ein Zichoriengewächs. In Neapel ist es die Zeit der Brokkoli, einer Sorte, auf die die Neapolitaner besonders stolz sind und die nur im Golf von Neapel vorkommen soll.
An Heiligabend: kein Fleisch
Und natürlich wird in einem Land, das eine 7‘600 Kilometer lange Küste hat, Fisch gegessen, vor allem an Heiligabend: Tintenfisch mit Kartoffeln und Zwiebeln, Seezunge mit Fenchel und Orangenschale, Kabeljau mit Artischocken gebraten, Spaghetti mit Venusmuscheln. In Neapel isst man frittierten Aal, Muscheln, Thunfisch und Schwertfisch.
In weiten Teilen Italiens gilt noch immer: An Heiligabend darf kein Fleisch gegessen werden. Also Fisch.
Tanzende Neapolitaner
Die Neapolitaner, heisst es, essen 24 Stunden am Tag und das 365 Tage lang. Doch «an Weihnachten essen wir besonders viel», sagen sie.
Während es im Norden Europas an Weihnachten meist besinnlich zugeht, wird in Neapel gefeiert. Die Neapolitaner verstehen nicht, weshalb die Nordländer das Weihnachtsfest so nachdenklich, tiefsinnig und verhalten verbringen. Weihnachten sei doch ein Freudenfest. Deshalb wird laut gesungen. Da und dort wird an Heiligabend und am 25. Dezember getanzt – oft bei sehr lauter Musik.
Auch in Sizilien wird an Weihnachten geschlemmt. Pasta mit Sardinien und wildem Fenchel, Pasta mit Muscheln, Tomaten und Pistazien. Thun- und Schwertfisch.
Die alte, nette Hexe
Kurz nach Weihnachten und Neujahr, am 6. Januar, folgt schon «Befana» (Epifania). Während im Norden an die drei Könige erinnert wird, verehren die Italiener eine alte Hexe, die den Winter verkörpert. Sie, Befana genannt, fliegt auf einem Besen durch die Gegend, steigt die Kamine hinunter und bringt den Kindern Strümpfe voller Süssigkeiten.
Dann geht die Festsaison fürs erste zu Ende. Doch schon lauert der Karneval, das letzte Winterfest. Und dann – oh Schreck – beginnt zwischen Aschermittwoch und Ostern die 40-tägige Fastenzeit. Doch die Kirche hatte Mitleid mit ihren Schäfchen. Zwar hat der St. Josephstag, der 19. März, seinen Status als gesetzlichen Feiertag verloren. Doch an diesem Tag darf 24 Stunden lang geschlemmt werden. Und auch der heilige Joseph wird mit Köstlichkeiten gefeiert, vor allem mit Süssigkeiten: mit in Fett gebratenen Kringeln oder Krapfen. In Mailand gibt es frittierte «Tortelli», Teig mit Vanille, Zitrone, Zimt und Rhum. In Neapel werden gefüllte San-Giuseppe-Kringel angeboten.
So ist Italien: Die jetzt 96-jährige Lorenza de Medici, eine Nachfahrin des Renaissance-Fürsten Lorenzo de Medici, eine der bekanntesten italienischen Köchinnen sagt. «Wenn ein Fest vorbei ist, freut man sich schon auf das nächste. Und lange muss man nicht warten.»