Die Auferstehung Jesu ist für Christen ein zentraler Glaubensinhalt. Doch niemand hat das Ereignis als historisches Faktum beobachtet. Auch die Bibel beschreibt nicht den Vorgang der Auferstehung, sondern nur die Folgen dieses Geschehens. Sie überliefert uns Zeugnisse und Visionen von Begegnungen mit dem auferstandenen Christus. Und es folgen später die Ostererzählungen der Evangelien, welche diese Begegnungen narrativ entfalten. Doch auch diese Ostergeschichten liefern keine Beschreibung und kein Bild der Auferstehung. Die Evangelien prägen das Bild vom leeren Grab.
Kein kanonisches Osterbild
In der christlichen Ikonographie kam es deshalb zu keinem einheitlich kanonischen Osterbild, sondern zu einem Nebeneinander unterschiedlicher Darstellungen symbolischer und szenischer Art: die Frauen am Grab, die Höllenfahrt Christi oder die Erscheinungen des Auferstandenen vor den Frauen und den Jüngern.
In der bildenden Kunst wagten zuerst die Reichenauer Maler (um 1000) die Auferstehung Christi zu vergegenwärtigen, zuerst symbolisch und dann zunehmend realistisch. Erst die italienische Malerei (vor allem die Giotto-Schule) komponierte im 14. Jahrhundert schliesslich das Motiv, das zur dominanten Darstellung des Ostergeschehens geworden ist: Der Auferstandene mit den Wundmalen schwebt triumphierend und verklärt über dem Sarg. Seit dem 16. Jahrhundert ist dieses Motiv von Meistern wie Albrecht Dürrer und Matthias Grünewald übernommen worden.
Romanische und gotische Christusdarstellungen
Das im Mittelalter deutlich gesteigerte Interesse am narrativen Bild der Auferstehung Christi dürfte in einem Zusammenhang stehen mit der Entwicklung des Kreuzigungsbildes. Die ersten Darstellungen Christi am Kreuz in der Zeit der Romanik zeigen ihn aufrecht stehend, bekleidet, mit offenen Augen und oft mit einer Krone geschmückt: Christus als der am Kreuz erhöhte Auferstandene, als Sieger und Erlöser der Menschheit.
Um 1200 wandelt sich diese Darstellung. Künstler stellen Jesus als Leidenden und Sterbenden dar, die Füsse aufeinander genagelt, in verkrümmter Haltung und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Nicht mehr der Anblick des Siegers über den Tod, sondern die Versenkung in sein Leiden soll dem Betrachter Trost spenden. Die Ablösung des erhöhten und verherrlichten Christus am Kreuz (Romanik) durch den leidenden und toten Christus (Gotik) provoziert ein Gegenbild und verstärkt die narrative Darstellung der Auferstehung.
Die Crux mit der Ästhetik der Auferstehung
Die Kontinuität narrativen Erzählens konstruiert nun allerdings eine lineare Logik zwischen Kreuz und Auferstehung, Karfreitag und Ostern, Leiden und Erlösung. In dieser Linearität kann an Ostern nicht etwas wirklich Neues anbrechen. Vielmehr wiederholt sich das alte Muster der Geschichte. Christus und die seiner Fraktion Angehörenden besiegen die vormals Mächtigen mit deren Waffen. Mit der herrlichen Gewalt ihrer religiösen Macht triumphieren sie über die schlafenden Häscher und deren Auftraggeber.
Doch wie kann die triumphalistische Rechthaberei und damit die Fortsetzung religiöser Gewalt mit ästhetischen Mitteln bei der Darstellung des Ostergeschehens gebrochen werden? An dieser Frage arbeiten sich bis heute die modernen und zeitgenössischen Darstellungen des Motivs ab. Eine konsequente und überraschend modern anmutende Lösung für diese Crux mit der Ästhetik der Auferstehung fand der unbekannte Künstler, der das mit der Jahrzahl 1565 versehene Hungertuch in der Klosterkirche Münsterlingen auf Leinen malte.
Mittelalterliche «Hungertücher» zur Verhüllung des Altars
Die Fastenlaken sind Zeugnisse mittelalterlicher Frömmigkeit. Mit ihnen wurde während der Fastenzeit von Aschermittwoch bis Mitte der Karwoche der Hauptaltar verhüllt. Auf den Retabeln der Hauptaltäre waren in der Regel Visionen eines erfüllten religiösen Lebens dargestellt: die Erhöhung Christi am Kreuz, Himmelfahrt, Pfingsten usw. Durch den Brauch des Verhüllens sollte die Sehnsucht nach der ekstatischen Erfüllung neu entfacht werden.
Die Hungertücher waren zu Beginn meist leer oder nur mit einfachen Ornamenten bestickt oder bemalt. Dann setzten sich zunehmend Fastenlaken durch, welche Szenen aus Jesu Passionsgeschichte zeigten. Wie beim Freiburger Fastentuch (1612) kamen dann zunehmend auch Bilder dazu, welche die das Osterthema als Bestandteil der Heilsgeschichtliche illustrierten: Auferstehung, Himmelfahrt, Pfingsten und Weltgericht.
Das Münsterlinger Hungertuch
Mit dieser frommen Linearität bricht das Münsterlinger Hungertuch. Das Andachtsbild zeigt einen leidenden Christus, umstellt von den Arma Christi, einem Inventar der Folter und der Einschüchterung. Jesus ist mit der Dornenkrone abgebildet. In den Händen hält er zwei Folterwerkzeuge. Links von Jesus der Ysopstab, mit dem Jesus der Essigschwamm gereicht wurde. Er ist gekreuzt mit der Longinus-Lanze, mit der ein römischer Soldat in die Seite des Gekreuzigten stach, um festzustellen, ob er noch lebte.
Dann sind da die 30 Silberlinge als Bestechungsgeld der religiösen Machthaber und der Kopf des Judas, um dessen Hals sich die Schlinge des Geldbeutels zusammenzieht. Rechts von Jesus ein metallener Krug, mit dessen Wasser der römische Statthalter Pilatus sich feig die Hände in Unschuld wusch. Neben ihm der Hahn, der just auf jener Säule posiert, an der Jesus gegeisselt wurde. In seinen Krallen hält er den Schlüssel als Zeichen religiöser Definitionsmacht. Nägel, Hammer und Zange sind die Werkzeuge der brutalen Kreuzigung. Und schliesslich die Würfel, mit denen die Soldaten um das Gewand Jesu spielten, Zeichen zynischer Anonymisierung von Verantwortung.
Die Reihung der Insignien religiöser und politischer Gewalt lassen die Christus-Figur besonders schutzlos erscheinen. Sie ist nackt dargestellt und beschämt mit aneinander gepressten Beinen. Ecce homo: Seht da diesen Menschen, ausgeliefert der offenen Gewalt, der Demütigung und dem Verrat.
Ein radikal andersartiges Bild von Auferstehung
Dieses Ecce homo bricht das ordnende Nacheinander der Leidensgeschichte Jesu vor gut zweitausend Jahren auf. In seiner Darstellung fallen die verschiedenen Motive zusammen: der verhöhnte Unschuldige, an dem Pilatus kein Fehl findet; der Gekreuzigte, der schon nicht mehr am Kreuz hängt, sondern mit verschränkten Armen davor steht. Sein Leib, blass wie ein Leichnam, ist gezeichnet von den Wundmalen. Aber er liegt noch nicht im Grab, nein, er steht.
Damit zeichnet das Münsterlinger Hungertuch ein radikales Bild von Auferstehung. Es zeigt keinen triumphalen Sieger, der zum Himmel flieht, sondern einen Menschensohn, der bleibt. Und zwar bei denen, die Trost und Zuwendung brauchen, damit ihre Not nicht vergessen und vergebens ist. Mit einer schlingenden, ja schon fast tänzerischen Bewegung scheint er sich dem Zugriff der Umstellungen zu entziehen. In dieser Geste ist nichts Heroisches. Eher schon etwas trotzig Närrisches, etwas Verrücktes.
Doch dieses bescheidene Bild von Auferstehung hält eine Hoffnung wach. Es legt den Geschlagenen nicht auf das stumme Einverständnis mit dem Unglück fest. Es verführt aber auch nicht zur Apathie des Leidens. Es nennt die Dinge, die einen umbringen, beim Namen. Und es vertraut noch in der brutalen Situation auf Sympathie und Mitleiden. Mit der Zuversicht seines leisen Humors macht das Münsterlinger Hungertuch die Wirklichkeit bewohnbar.
Matthias Loretan ist katholischer Theologe und Gemeindeleiter im Seelsorgeverband Altnau, Güttingen, Münsterlingen (Thurgau)