Letzte Woche fand in Delhi eine Konferenz unter dem schönen Titel Heart of Asia statt. Mit dem Herzen war allerdings Afghanistan gemeint, und so glich die Konferenz weniger einem Unesco-Kultur-Reigen als einer Intensivstation für einen Patienten, der erneut einem Herzinfarkt nahe ist.
Die zahlreichen Ärzte, die sich um das Bett des Patienten drängten – neben den Anrainerstaaten und den grossen Drei (Russland, China, USA) auch entfernte Nachbarn aus Zentral- Süd- und Westasien – meinten es sicher gut mit dem Kranken. Aber in erster Linie sorgten sie sich um ihr eigenes Wohlergehen. Für kein Land gilt dies so sehr wie für den Nachbarn Pakistan, für den Afghanistan weiterhin der eigene Hinterhof ist.
Eigensinnige Generäle
Die besorgten Ärzte sind auch viel zu zahlreich, um sich auf eine übereinstimmende Diagnose, und schon gar nicht auf einen gemeinsamen Therapievorschlag zu einigen. Immerhin schuf die Konferenz schon bei einem früheren Treffen eine Art Ausschuss. Aber auch bei dessen Bestellung kam man (neben der Berücksichtigung der USA, China und natürlich Afghanistans) an Pakistan nicht vorbei. Und so scheiterte bisher auch hier jeder ernsthafte Therapieansatz am souveränen Eigensinn der pakistanischen Generäle.
Den jüngsten Beweis lieferte der schwere Bombenanschlag im Herzen von Kabul vom 16. April, bei dem 64 Menschen starben und über 350 verletzt wurden. Allgemein wird angenommen, dass der Terrorakt die Signatur der Haqqani-Brüder verrät. Es ist jener Clan aus der Nordwestecke Pakistans, der von einer Mudschaheddin-Truppe zu einem Kaida-Mitglied und dann einem Taliban-Alliierten mutiert ist. Er hätte dies nicht geschafft ohne die wirkungsvolle Unterstützung durch den pakistanischen militärischen Geheimdienst ISI.
Zynische pakistanische Generäle
Das ist auch die Meinung der afghanischen Regierung. Präsident Abdul Ghani war der Erste, der den Konsens des Quartetts der Afghanistan-Konferenz sprengte und die Fadenzieher im militärischen Hauptquartier von Rawalpindi ausmachte. Ihm bleibe bald nichts Anderes übrig, warnte er Pakistan, als den Uno-Sicherheitsrat anzurufen.
Das Ziel Islamabads ist klar: Es sieht – wie gehabt – in einem Taliban-Regime in Kabul eine bessere Garantie für die Wahrung seiner strategischen Interessen als in einer demokratischen Regierung, in der die meisten Stammesinteressen ebenso eingebracht sind wie jene der anderen Regionalmächte, darunter Indiens. Selbst ein Afghanistan, das sich in einem vierten Bürgerkrieg in 35 Jahren zerfleischt, ist den zynischen Generälen lieber.
China - Pakistans ‚Allwetter-Freund’
Noch ist es nicht soweit. Aber die Taliban kontrollieren inzwischen mehr Territorium, als sie nach 2001 je besetzt hielten, auch wenn bis jetzt keine der grossen Städte dazugehört. Die afghanische Armee blutet weiterhin – 5000 Soldaten starben allein im letzten Jahr – und die politische Autorität Kabuls ist auf dem Land so schwach wie eh und je. Die Rivalität zwischen Präsident Ghani und ‚CEO’ Abdullah setzt sich dort in Kleinfehden zwischen Stammesführern fort. Das Mandat des Parlaments ist abgelaufen, aber weder die Uno noch die USA, und schon gar nicht die Regierung in Kabul, wagen sich an Neuwahlen.
Das fehlende Echo in Beijing und Washington auf Ghanis flammendes J’accuse! vor den Parlamentsabgeordneten zeigt, dass die beiden anderen Quartettspieler nicht daran denken, sich dem afghanischen Präsidenten anzuschliessen und Islamabad zu isolieren. China ist Pakistans ‚Allwetter-Freund’, und Präsident Obama wird nicht mit einem zweiten Surge das Schicksal herausfordern und sich die Finger verbrennen wollen, umso mehr als seine Administration zum Sinkflug angesetzt hat.
Pakistans aggressive Strategie
Die Strategie der USA lautet nicht mehr auf Sieg, sondern auf Verhindern eines Siegs der Taliban. Ob selbst dieses Minimalziel mit 5000 US-Soldaten (statt gegenwärtig 10'000) erreicht werden kann – die Halbierung soll bis Ende Jahr erreicht sein – muss sich weisen. Die Sisyphus-Arbeit gestaltet sich leichter, wenn der Fels jeweils per Helikopter auf die Bergspitze gebracht werden kann.
Dass Pakistan weiterhin an seiner aggressiven Strategie festhält, beweist ein Blick an seine Ostgrenze zu Indien. Dort schien sich nach dem Fidayin-Angriff auf die indische Luftwaffenbasis von Pathankot ein Umdenken in beiden Ländern anzukündigen. Delhi reagierte gemessen auf die Provokation, und dies gab Premierminister Nawaz Sharif das Bisschen Ellbogenfreiheit, um ein resolutes Vorgehen gegen die islamistischen Hintermänner des Attentats zu versprechen. Indien gewährte darauf pakistanischen Untersuchungsbeamten den Zugang zum Stützpunkt, und es wartete auf das Grüne Licht aus Islamabad, um seine Beamten zur Einvernahme der mutmasslichen Hintermänner über die Grenze zu schicken.
„Der Friedensprozess ist suspendiert“
Doch dieses leuchtete nicht auf. Stattdessen stellten die pakistanischen Strafverfolger – mitten in einer laufenden Untersuchung – öffentlich die indische Version des Tathergangs in Frage. Und just in dieser delikaten Phase präsentierten die Pakistaner im Fernsehen einen angeblichen indischen Marine-Offizier, der ein bizarres Geständnis ablegte, in Balutschistan spioniert zu haben. Wer immer noch nicht begriffen hatte, dem half der pakistanische Botschafter in Delhi nach. Ohne Absprache mit seinem Aussenministerium gab er ohne konkreten Anlass zu Protokoll: „Der Friedensprozess ist suspendiert“. Dass er nicht zurückgepfiffen wurde, konnte nur heissen: Die Generäle haben die Notbremse gezogen.
Auch ich hatte in dieser Kolumne optimistisch den Wunsch zum Vater des Gedankens gemacht und eine Kehrtwende der pakistanischen Politik vorausgesehen. Wer würde es nicht tun? Kein Land – und kein Staatsorgan – hat im Krieg gegen den Terror mehr Menschenleben verloren als Pakistan und die pakistanischen Streitkräfte. Sie wurden Opfer, weil sie selber es waren, die die Kapazitäten ihres Gegners – in Form von Waffen, Ausbildung, Kampfstrategien - so gestärkt hatten, dass sie ihnen beinahe ebenbürtig wurden.
"Unsere Raison d’être ist der Kampf gegen Indien"
Wer daraus schliesst, dass sich ein Staat – und ein (militärischer) Staat im Staat – deshalb völlig neu und radikal repositionieren wird, übersieht die Schwerkraft staatlicher Institutionen und die Hartnäckigkeit ihres ideologischen Unterbaus. Und dieser Unterbau – quasi der Gründungsmythus der pakistanischen Streitkräfte – lautet: Unsere Raison d’être ist der Kampf gegen Indien. Dieses wartet nur darauf, Pakistan zu zerstören und sich einzuverleiben. Mit der Annexion Kaschmirs und mit der Zerstörung Ostpakistans/Gründung Bangladeschs hat es damit bereits begonnen.
Afghanistan nimmt in dieser dämonisierten Geografie einen wichtigen Platz ein. Pakistan mangelt es, so lautet die nationale Lesart, an strategischer Tiefe: Es lässt sich an seiner zentralen Schmalseite – ein Korridor von 400 Kilometern – durch einen massiven indischen Vorstoss entzwei schneiden. Die einzige Bedingung: Auf der anderen – afghanischen – Seite muss dafür ein pakistanfreundliches Regime installiert sein. Nur die Kontrolle Afghanistans, so das Kalkül der Generäle, hält Pakistan den Rücken gegen Indien frei.
Wird Afghanistan, wie vor zwanzig, vor dreissig, und vor bald vierzig Jahren wieder in einen neuen allgemeinen Bürgerkrieg zurückfallen? Wird die Region ein viertes Mal mehr dazu verdammt sein, die Geschichte zu wiederholen, weil sie deren Lektionen nicht gelernt hat? Es hat sich tatsächlich wenig geändert seit 1979, 1989, und 1997 – mit einer vielleicht gewichtigen Ausnahme, der uns Europäern schmerzhaft ins Auge sticht: Früher landeten die Flüchtlinge in den Lagern von Peshawar und Quetta. Heute landen sie bei uns. Früher wurden sie Mudschaheddin, Taliban, Kaida-Kämpfer und pflanzten die Saat der Gewalt weiter. Werden sie diesmal friedliche europäische Bürger?