Die Ankündigung eines Kalifates durch ISIS hat nicht nur Bedeutung als Propagandamassnahme nach aussen. Sie dient auch dazu, in den von ISIS beherrschten Gebieten ein Machtmonopol für die islamistische Kampfgruppe aufzubauen und zu festigen.
ISIS, der sich von nun an nur IS nennen will, der "Islamische Staat" schlechthin, fordert im Namen des Kalifates den Gehorsam "aller Muslime". Dies lässt sich umkehren: Wer IS nicht gehorcht, ist kein Muslim - in den Augen der IS Kämpfer. Also ist er ein Abtrünniger vom Islam, als solcher verdient er den Tod.
Eingliederung der bisherigen Verbündeten
In der Tat hat ISIS, nun IS, begonnen systematisch ein Machtmonopol in den von ihm beherrschten Gebieten Syriens und des Iraks aufzubauen. Bisher hatten die IS-Leute unter ihrem Anführer Abu Bakr al-Bagdadi, neu: Kalif Ibrahim, zusammen mit Verbündeten gekämpft, vor allem im Irak. In Syrien war das Bündnis mit anderen islamistischen Jihad-Kämpfern schon im Herbst 2013 in die Brüche gegangen, weil ISIS ihre Unterordnung unter die eigene Führung gefordert hatte.
Die Blitzvorstösse im Irak, zuerst zu Beginn dieses Jahres in Ramadi und Falludscha, später in Mosul und grossen Teilen Nordiraks, waren mit der Hilfe von anderen sunnitischen Gruppen erfolgt, die sich gegen die al-Maliki-Regierung zur Wehr setzen wollten. Ihre Vielfalt kann man zusammenfassen in zwei Hauptgruppierungen: erstens Stammesleute aus dem westlichen und nordwestlichen Teil des Irak unter ihren zahlreichen traditionellen Stammesführern und zweitens alte Gegner des von den USA eingesetzten Regimes in Bagdad, aus dem die heutige Maliki-Regierung hervorging. Dies sind Widerstandsgruppen, die sich zum Teil schon gegen die Amerikaner erhoben hatten. Nach dem Abzug der Amerikaner fanden sie neuen Zulauf, weil die Maliki-Regierung sich immer einseitiger auf die schiitischen Bevölkerungsteile abstützte und weil die schiitisch gefärbten Sicherheitsorgane der Maliki-Regierung die Sunniten als "Verdächtige" stark diskriminierend behandelten.
Arbeitslose Soldaten und Offiziere
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Den Kern dieser zweiten Gruppe von Verbündeten der Islamisten bilden von den Amerikanern entlassene und seither arbeitslose Soldaten und Offiziere der aufgelösten Armee Saddam Husseins. Sie haben sich zu Widerstands- und Kampfgruppen zusammengeschlossen. Doch auch Hunderttausende von früheren sunnitischen Staatsangestellten, die zuerst von den Amerikanern, dann von der Maliki-Regierung im Zeichen der "Ent-Baathierungskampagnen" entlassen wurden, bilden ein Umfeld von Sympathisanten.
Beide Art Kämpfer, bewaffnete Stammesleute und re-militarisierte Ex-Baathisten, haben bei der Erhebung in Mosul mitgeholfen, die zum Zusammenbruch der schiitischen Truppen und Ordnungskräfte in der Hauptstadt des sunnitischen Nordens führten. Sie haben dann auch den Vormarsch der IS-Kämpfer begleitet und wurden zur Sicherung der eroberten Gebiete eingesetzt. Zahlenmässig dürften ihre Bewaffneten jenen der IS überlegen sein. Doch sie besitzen nicht wie diese eine einheitliche Führung. Sie haben auch weniger Geld und schlechtere Waffen.
Waffen abliefern und Treue schwören
Im Namen des Kalifates hat IS nun von allen bewaffneten Gruppen gefordert, sie hätten erstens ihre Waffen abzugeben und zweitens dem Kalifat einen Treueid zu leisten. Was immer die bisherigen Verbündeten über solche Forderungen denken mögen, für die IS-Anhänger ist klar, das Kalifat hat ein Recht auf ein Waffenmonopol und auf ungeteilte Loyalität "der Muslime".
Die IS-Führung ist im Begriff, ihre Forderungen in den von ihr beherrschten Teilen des Irak durchzusetzen. Aus Mosul wird gemeldet, ihre Bewaffneten gingen von Haus zu Haus, um die Bewohner darüber zu befragen, wer hier und in der Nachbarschaft wohne und um Waffen zu konfiszieren. Sie haben die Regel aufgestellt, wer als Beamter oder Polizist der bisherigen Regierung gedient habe, gehe straflos aus unter der Bedingung, dass er seine Reue erkläre und sich bereit zeige, von nun an dem Kalifat zu dienen. Drei Moscheen wurden bestimmt, wo diese Reueerklärungen öffentlich durchgeführt werden.
Rekrutierungskampagne
Gleichzeitig rekrutiert IS respektive des Kalifat neue Kämpfer, vor allem unter den jungen Leuten. Sie erhalten 14 Tage Kampfausbildung und 14 Tage religiöse Indoktrinierung, dann werden sie an die Front geschickt. Um aber ein Vollmitglied der IS-Milizen zu werden, brauchen jeder der Neueingegliederten die Patenschaft und Garantie eines Kämpfers, der seit mindestens zwei Jahren zu IS gehört. Die Soldzahlungen, welche die neuen Rekruten erhalten, sollen 500 Dollar im Monat betragen. Für den Irak ein respektables Gehalt.
Die Grausamkeiten, welche die IS-Leute öffentlich begehen, nicht wie die Geheimdienstleute in konventionelleren Staaten halb im Verborgenen, dienen dazu, ein Klima der Angst zu schaffen, in dem die Gebote des Islamischen Staates ernst genommen und befolgt werden.
Angstmache
Bluttaten begehen die IS-Leute, ohne nach Gehorsam oder Ungehorsam zu fragen, an allen Angehörigen von anderen Religionen. Die Schiiten werden auch als solche eingestuft, obwohl sie ebenfalls Muslime sind. Schiitische Soldaten und Beamte müssen damit rechnen, erschossen oder erpresst zu werden, je nachdem, wie viel aus ihnen herausgeholt werden kann.
Die im Raum von Mosul zahlreichen anderen Religionsgemeinschaften, viele Arten von Christen, Yeziden, andere kleine religiöse Gruppierungen, fliehen, weil sie ein ähnliches Geschick fürchten. Sie suchen Zuflucht in den benachbarten kurdischen Gebieten. Der Nutzen solcher Verfolgungen für IS liegt darin, dass Blutvergiessen - was auch im Internet inszeniert und gezeigt wird - den neu eroberten Bevölkerungen Angst einflösst und sie gefügig macht.
Strafen auch für Sunniten
In Syrien hat dieser Tage IS die Kämpfer der Nusra-Front im umstrittenen Raum der Stadt Deir az-Zor, am Euphrat gelegen, offenbar ganz oder teilweise vertrieben. Dabei sind Dörfer, die sich bisher in Händen der Nusra-Front Kämpfer befanden, in ihre Hände gelangt.
Den sunnitischen Bewohnern dieser Dörfer, in zwei Gruppen von Ortschaften von je rund 30‘000 Bewohnern, haben die Eroberer befohlen, ihre Häuser zu verlassen und in die Wüste zu ziehen. Sie werfen ihnen vor, mit ihren Feinden, der Nusra-Front, gemeinsame Sache gemacht zu haben. Sie hatten natürlich keine andere Wahl. Nun sollen sie dafür bestraft werden. Die Ausgewiesenen befürchten, dass die Kämpfer, die sich nun alleine in den Ortschaften befinden, ihre Häuser ausplündern werden.
Schwören kostet wenig
Ob und in wie weit sich die bewaffneten bisherigen Bundesgenossen dem Befehl des Kalifates fügen werden, ist noch ungewiss. Es gibt Aussagen von Stammesführern, die lauten, man habe keine andere Wahl, man sei gezwungen den Treueid zu leisten. Die IS-Kämpfer seien überlegen. Doch was mit den Waffen geschehe, sei eine andere Frage. Manche ihrer Kollegen seien gesonnen, sie zu verstecken. Diese Gewährsleute klagen, sie befänden sich nun zwischen Hammer und Amboss, die Maliki-Regierung und ihre Armee seien Feinde, und die IS-Leute suchten sie ihrerseits niederzuhalten.
Schwören dürfte vielen schon daher leicht fallen, als es bereits einen weiten Chor von angesehenen Gottesgelehrten und Islampredigern ausserhalb des Machtbereiches von IS gibt, die erklärt haben, das Kalifat sei nichtig, ja unislamisch und Treueschwüre ihm gegenüber seien ohne Gültigkeit.
Entwaffnung der Bevölkerung
Der Islamische Staat gedenkt offenbar eine ähnliche Politik zu verfolgen, wie sie die Taliban in Afghanistan handhabten, bevor die Amerikaner und Nato-Truppen sie 2001 aus dem Land vertrieben. Das Kalifat übt Druck aus, um die Bevölkerung voll zu entwaffnen. Sogar wenn dieser Vorgang sich über Monate und Jahre hinzieht.
Entwaffnungsmannschaften ziehen von Ort zu Ort und in den Städten von Quartier zu Quartier, um falls nötig durch Peitschenschläge und Folterungen der Waffen habhaft zu werden. Solche Schergen, verhasst und gefürchtet von der Bevölkerung, werden zur Grundlage der neuen staatlichen Macht, die sich nun Kalifat nennt.
Das militärische Ringen dauert an
Die Macht des Kalifates ist noch nicht voll gefestigt. Es gibt Kämpfe nördlich von Bagdad mit der offenbar wenig leistungsfähigen Armee von al-Maliki und den schiitischen Freiwilligen, die sie unterstützen.
Aus Iran wird der Tod von zwei iranischen Piloten gemeldet, die wie offiziell bekannt gegeben wurde, "bei der Verteidigung der Heiligen Stätten von Samarra" ihr Leben opferten. Die Begräbnisse wurden in Iran öffentlich durchgeführt, obwohl der iranische Staat zuvor dementiert hatte, dass iranische Militärs im Irak eingesetzt würden.
Die Kurden bauen an ihrem Staat
Es gibt auch Kämpfe mit den Peshmerga der Kurden. Diese haben die Gelegenheit des Zusammenbruchs der irakischen Armee im Norden des Landes unter den Schlägen von ISIS und seiner Verbündeten ausgenützt, um die umstrittenen Gebiete im Vorfeld der drei offiziell autonomen kurdischen Provinzen in Besitz zu nehmen. Das wichtigste dieser Gebiete ist die Erdölstadt Kirkuk.
Doch gibt es auch andere den drei Provinzen vorgelagerte Landstriche, die überwiegend oder teilweise von Kurden bewohnt sind. Gesamthaft gesehen machen alle Gebiete, die gegenwärtig unter kurdischer de facto Herrschaft stehen, fast 40 Prozent des gesamten Territoriums aus, das bisher offiziell als kurdisches Autonomiegebiet gilt. Einfach gesagt, die Kurden haben ihr Kurdistan um 40 Prozent vergrössert.
Erdöl für Baidschi
Von Kirkuk verläuft eine Rohrleitung zu der Grossraffinerie von Baidschi, die sich offenbar in Händen von IS befindet. Sie diente der Speisung der Raffinerie, die ihrerseits fast den ganzen Norden des Landes mit raffinierten Erdölprodukten versorgte. Um den dortigen Betrieb wieder aufzunehmen, müsste das Kalifat Reparaturen in die Wege leiten und für die Rückkehr der Facharbeiter sorgen, die während der Kämpfe evakuiert worden waren. Rund 150 ausländische Fachleute wurden ins Ausland geflogen, mehrere Tausend irakische Arbeiter fanden Unterschlupf in den umliegenden Dörfern.
Doch dann wird das Kalifat vor der Frage stehen, woher es das Rohöl nehmen kann, das in Baidschi raffinert werden soll. Ein Kompromiss mit den Kurden drängte sich auf. Doch das Kalifat scheint gegenwärtig nicht in Stimmung für Kompromisse (es sei denn, vielleicht geheime und inoffizielle?). Natürlich könnte es auch versucht sein, sich Kirkuk anzugreifen und zu besetzen, falls es die dazu notwendigen Offensivtruppen frei machen könnte. Die Peschmerga sind gegenwärtig damit beschäftigt einen tiefen Grenzgraben auszuheben und zu befestigen, der ihre neu erworbenen Gebiete von jenen abgrenzen soll, die gegenwärtig entweder dem Staat von Bagdad oder dem Kalifat angehören.
Unabhängigkeitsplebiszit für Grosskurdistan?
Der kurdische Präsident, Masud Barzani, hat das kurdische Parlament aufgefordert, ein Plebiszit über die Unabhängigkeit Kurdistans, vermutlich mit den neu besetzten Gebieten, auszuarbeiten. Er hat öffentlich erklärt, angesichts des Zerfalls des irakischen Staates, sei es nun an der Zeit für die Kurden, ihre Unabhängigkeit zu erklären.
Washington und Bagdad haben sich bereits dagegen ausgesprochen. Ankara hingegen scheint Anstalten zu treffen mit dem geplanten kurdischen Staat zu koexistieren. Die wirtschaftlichen Beziehungen wurden verstärkt, und es gibt eine Zusammenarbeit in Erdölfragen, die im Interesse beider Seiten liegt. Die Türken benötigen Erdöl, und die irakischen Kurden möchten das Ihre verkaufen.
Die sunnitischen Gewählten im kurdischen "Exil"
Gegenwärtig haben sich die sunnitischen Mitglieder des neu gewählten irakischen Parlamentes nach Erbil, der kurdischen Hauptstadt, zurückgezogen, um ungestört darüber zu beraten, ob und wie sie die Maliki-Regierung zu Fall bringen könnten. Al-Maliki seinerseits besteht darauf, dass er die nächste Zentralregierung von Bagdad bilden wolle. Seine Partei habe schliesslich die meisten Sitze in dem neu gewählten Parlament gewonnen. Den Berichten nach sind die sunnitischen Gewählten uneinig über ihre Ziele und ihr Vorgehen. Manche wollen einen sunnitischen Staat oder Teilstaat nach dem Vorbild der Kurden in den sunnitischen Gebieten des Nordens bilden. Natürlich nach einer von ihnen erhofften Niederlage des Kalifates.
Hoffen auf Hilfe von aussen
Doch andere sind der Ansicht, der Irak als Staat solle fortbestehen, nur habe al-Maliki den Regierungssitz zu räumen. Sie scheinen - allzu optimistisch - zu glauben, wenn er gehe, könne die alte Zeit in Bagdad wiederkehren, als die Sunniten dort den Ton angaben. Manche versteigen sich sogar zu der offensichtlich falschen Behauptung, in Wirklichkeit seien sie, die arabischen Sunniten, die Mehrheit der Iraker.
Diese Politiker bilden bereits eine Gruppe, die man mit der syrischen Exilregierung in Istanbul vergleichen kann. Sie tagen im Ausland, hoffen auf Hilfe von aussen und streiten sich untereinander um die Macht, die sie zu erlangen hoffen, jedoch nicht inne haben. Im Gegensatz zu den syrischen Exilpolitikern sind sie freilich gewählt und vorläufig noch in der Lage, in ihre Hauptstadt zurückzukehren und im dortigen Parlament eine Rolle zu spielen.
Die Bagdader Sunniten-Quartiere im Visier der Regierung
In Bagdad gibt es einige Aussenviertel, in denen heute die Bagdader Sunniten sich konzentriert haben. Sie waren gezwungen, ihre gemischten und innerstädtischen Wohnviertel zu räumen, als 2006 und 2007 der erste Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten in Bagdad tobte. Dort soll es nun nach dem Befinden des irakischen Innenministeriums Schläferzellen von sunnitischen Aktivsten geben. Sie seien bereit, aktiviert zu werden, wenn die IS-Kämpfer Bagdad erreichten. Das Innenministerium sucht zurzeit dieser versteckten Aktivisten Herr zu werden, wie ein Sprecher des Innenministeriums versichert, "erfolgeich". Dies dürfte einer Hexenjagd gleich kommen, die sich nun in den Sunniten-Quartieren abspielt.
Die betroffenen Sunniten-Viertel sind mit Schutzmauern umgeben, deren Eingänge von den überwiegend schiitischen Sicherheitskräften kontrolliert werden. Das Parlament und das Diplomatenviertel liegen in der sogenannten Grünen Zone. Sie wird mit der dort liegenden riesigen amerikanischen Botschaft durch amerikanische Sondertruppen abgesichert, die auch dafür sorgen, dass der Flughafen und die Strasse dorthin "offen" bleiben.
Bleibt Maliki, kommt es zum Bürgerkrieg
Die nächste Zukunft hängt davon ab, ob al-Maliki sein Regiment weiter zu führen vermag, entweder als der Chef der nächsten Regierung oder weiterhin, wie schon jetzt, als der Chef einer Übergangsregierung, die die Geschäfte führt, bis eine neue Regierung zustande kommt. Falls ihm dies gelingt, bestehen wenig Aussichten, dass die heute auf Seiten des Kalifats kämpfenden aber von ihm zur Aufgabe ihrer Waffen aufgeforderten sunnitischen Gruppen auf die Regierungsseite umschwenken. Sollte er einen Nachfolger erhalten, dem die Sunniten mehr Vertrauen schenken als al-Maliki, bestünde noch eine kleine Aussicht darauf, dass ein sunnitisch-schiitischer Bürgerkrieg vermieden werden könnte. Ein solcher Krieg aller Schiiten gegen alle Sunniten würde die besten Voraussetzungen für das Wachstum des Kalifates bilden. Jeder Bürgerkrieg polarisiert die in ihm wirkenden Kräfte, und das Kalifat könnte in diesem Fall die Führung der irakischen Sunniten übernehmen.
Falls es doch noch gelingen sollte, die nicht islamistischen Sunniten auf die Seite der Regierung zu ziehen, würde sich eine ähnliche Konstellation ergeben wie jene, die es den Amerikanern von 2008 an erlaubte, des damaligen islamistischen Aufstandes Herr zu werden. Damals wandten sich die sunnitischen Stammesleute von den Islamisten ab und traten unter dem Namen "Sahwa", übersetzt als "awakening", auf die Seite der Amerikaner. Die Islamisten, unter ihnen Zarqawi, der direkte Vorläufer des gegenwärtigen Kalifen, konnten dadurch zurückgedrängt werden.