Auch in Indien ist es nachgerade ein Cliché, dass die Bollywood-Filmindustrie ihre Geschichten in einem Übermass von vulgären Tanznummern, überzeichneten Charakteren, lärmiger Gewalt und Sentimentalität breitwalzt. Der zentrale Erzählfaden bleibt dabei meist auf der Strecke.
Wie alle Clichés ist auch dieses weitgehend wahr. Ein kürzliches Beispiel war der Film Padmaavati. Er erzählt die weitgehend fiktive Geschichte von der Rajasthan-Königin von Chittor. Ihr Gemahl wird vom mörderischen Sultan von Delhi in der Schlacht besiegt und getötet. Sultan Khilji hat es aber nicht nur auf das Reich abgesehen, sondern auch auf die schöne Padmaavati. Statt sich zu ergeben, wählt sie und ihr weiblicher Hofstaat den Freitod im Feuer.
Ähnlich einer Oper ist der Film eine Aneinanderreihung von Tableaux, seien es riesige Interieurs – Schlafzimmer von der Grösse eines Fussballfelds – oder ein regelrechter Schlachthof von Scheiterhaufen, in den mehrere hundert Frauen Welle um Welle begeistert hineinstürzen. Bis zur Unkenntlichkeit aufgeschwollen sind die Charaktere – der tierisch-gierige Sultan, der fromm-schwache Rajput-König, die todesmutige, perlenübersäte Prinzessin.
Tiefsitzende Vorurteile
Weder Exzess noch das völlige Fehlen einer Erzähllogik schadeten dem Film. Im Gegenteil, sie halfen ihm, den problematischen Subtext hoffähig zu machen. Einer war die Verherrlichung eines Akts weiblicher Unterwerfung unter patriarchalische Herrschaftsmuster: Die Frau „muss freiwillig“ den Tod wählen, wenn ihre Raison d’être – der Ehemann – nicht mehr am Leben ist.
Das zweite Motiv war nicht einmal mehr „Subtext“, so laut und krass kam es daher: Muslime sind gewalttrunken und sexbesessen, also primitive Lebewesen und eine tödliche Gefahr für die (Hindu-)Zivilisation. Das schon während der Drehzeit verbreitete Gerücht, das Drehbuch sehe eine Liebesgeschichte zwischen Padmaavati und Khilji vor, führte zu Morddrohungen gegen Schauspieler und Regisseur vonseiten der Hindu-Fanatiker.
Es heizte die Publicity-Maschine weiter auf. Staatliche Aufführungsverbote, gefolgt von gerichtlichen Freigaben stellten den kommerziellen Erfolg zusätzlich sicher. Ein weiteres Mal hatte Bollywood gezeigt, wie man mit bombastischen Szenen tiefsitzende Vorurteile und unterschwellige Ängste zu einem politisch virulenten Cocktail vermischen kann.
Das andere Bollywood
Doch es gibt auch ein anderes Bollywood. Im westlichen Indienbild nimmt es fast keinen Platz ein, obwohl es so alt ist wie die hundertjährige indische Filmindustrie: Streifen mit sozialen und politischen Inhalten. Auch sie sind oft ein Gemisch von exzessiver Sentimentalität, Gewalt, und billigen Happy Ends. Auch sie plündern schamlos Ideen und Plots von Hollywoodfilmen. Aber die Verpackung hilft ihnen, drängende gesellschaftliche Probleme effektvoll anzubringen: Armut und Ungleichheit, Korruption, die Marginalisierung der Frau, morbide Familienstrukturen, politische Manipulation.
Zwei kürzliche Premieren haben dies einmal mehr vor Augen geführt. Beide tragen eigentümliche Titel: Hitchki und Padman. „Hitchki“ ist ein lautmalerisches Wort, das die unwillkürlichen Schnapplaute von Personen mit Tourette-Syndrom wiedergeben soll. Gleichzeitig mit heftigen Kopfzuckungen platzen sie mitten in ihr völlig normales Alltagsverhalten hinein und ziehen missbilligende Blicke auf sich.
Rani Mukherjee spielt eine junge Frau mit diesem Befund. Sie ist sich der sozialen Ausgrenzung in Form von Mitleid und Missbilligung seit ihrer Kindheit gewohnt. Sie liess sich aber nicht in die soziale Isolation drängen, nachdem ein Schulvorsteher sie einmal vor versammelter Schule für ihren Mut gelobt hatte. Deshalb wird sie Lehrerin, deshalb lässt sie lässt auch von Dutzenden erfolglosen Job-Interviews nicht abschrecken.
Schliesslich wird sie angestellt, ausgerechnet von einer Schule, die nach dem heiligen Notker – dem Stotterer – benannt ist. Es ist jedoch nur zu einem kleinen Teil Mitleid für ihre Krankheit. Sie muss eine der sechs Abschluss-Klassen übernehmen, an der sich bisher alle Lehrer die Zähne ausgebissen haben.
Kinder aus dem Elensviertel
Der Grund liegt in der Tatsache, dass die Schule am Rand eines städtischen Slums liegt. Dies verpflichtet sie, nicht nur wohlhabende Mittelklasse-Kinder aufzunehmen, sondern auch solche aus dem Elendsviertel. Und da diese Kids auf engem Raum leben, zuhause arbeiten müssen, oft ohne einen Vater mit Verdienst, sind ihre Chancen für einen Schulerfolg denkbar gering.
Deshalb nutzen sie die Schulbank, um Karten zu spielen, Fusel zu trinken, zu tanzen, und ernsthaften Schabernack anzustellen – ein angesägtes Bein des Lehrerstuhls, der leergesaugte Benzintank ihres Motorrollers, Schiesspulver in der Kreide – und natürlich höhnisches Gelächter bei jedem Kopfzucken und „Hitchki“ von Miss Mathur.
Doch Miss Mathur ist soziale Isolation gewohnt, und sie verfügt über genügend Empathie, um auch jene ihrer Schüler zu verstehen. Sie siedelt ihren Unterricht im informellen Rahmen des Pausenplatzes an, und sie nutzt die Überlebensskills ihrer Schüler, um den Unterrichtsstoff darauf zu bauen – Chemie mit Knallkörpern, Glücksspiel und dessen Risikoberechnungen mit Mathematik etwa.
Gesellschaftliche Ungleichheit und Diskriminierung
Es kommt, wie es kommen muss. Am Ende des Schuljahrs wird das Zucken und Jaulen der Lehrerin gar nicht mehr wahrgenommen (übrigens: auch vom Zuschauer nicht), und die Nichtsnutze aus dem Slum gewinnen den Klassenpreis.
Es kommt alles in vertrauter Bollywood-Manier daher und ist dennoch subtil. Denn im Lärm der bellenden Tourette-Rufe und Knallkörper wird dem Zuschauer unterschwellig Relevantes beigebracht: gesellschaftliche Ungleichheit und Diskriminierung, die Fragwürdigkeit schulischen Besserwissens gegenüber dem „Überlebenswissen“ der Slumbewohner, gedankenlose soziale Ausgrenzung von Menschen mit chronischen Krankheiten, die Einsicht, dass Menschen mit „special needs“ oft auch über „special skills“ verfügen.
Ähnlich wie Rani Mukherjee ist auch Akshay Kumar ein typischer Bollywood-Star, der seine Hüftgelenke ebenso vibrieren lässt wie den schmachtenden Blick. Aber in Padman ist er weniger – und mehr. Er spielt einen jungen Fahrradmechaniker in einem zentralindischen Städtchen, der nach seiner Eheschliessung einen gewaltigen Schock erlebt.
Mit Ziegenblut gefüllte Binden
Es ist die monatliche „Mens“ seiner Frau, verbunden mit Körperschmerzen, Scham- und Schuldgefühl, sowie blutigen Stoff-Fetzen. Und weil Blut – wie alle Körperausscheidungen – für einen Hindu eine rituelle Verunreinigung darstellt, geschieht alles heimlich, verstohlen und ... unhygienisch.
Laxmi Chauhan stellt fest, dass Frauen nicht nur dreckige Stoffresten benutzen, sondern manchmal sogar Stroh und Laub. Er macht sich schlau und erfährt, wie viele Frauen aus diesem Grund chronisch Unterleibsinfektionen erleiden, manchmal mit fatalen Folgen.
Er kauft seiner Frau teure Binden, doch sie weigert sich, sie zu tragen. So beginnt er, solche herzustellen und zu erproben – an sich selber. Er schnürt sich eine mit Ziegenblut gefüllte Fussballblase auf den Unterleib und prüft beim Austreten des Bluts die Saugfähigkeit seiner Binde. Es gelingt ihm schliesslich, eine solche herzustellen. Noch mehr: Er konstruiert einen einfachen Apparat, der diese produziert, so dass Frauen-Selbsthilfegruppen die Pads selber herstellen und für wenig Geld im Dorf verkaufen können.
Padman ist ein Biopic. Hinter dem Filmhelden verbirgt sich ein Tamile, Arunachalam Murugan, der inzwischen Berühmtheit erlangt hat. Dieser Film wird ihn zweifellos noch bekannter machen. Das ist auch der Grund, warum ein Mann plötzlich zum Retter dieses weiblichen Intimakts wird. Oder herrscht in der indischen Gesellschaft immer noch die Auffassung, Frauen und ihr sozialhygienisches Verhalten seien in Männerhänden bestens aufgehoben?