Mit 53 Ja-Stimmen bei einer Enthaltung (Botswana) forderten vergangenes Wochenende die versammelten Staatschefs der Afrikanischen Union, dass der Prozess gegen den kenianischen Präsidenten Kenyatta vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Dafür beriefen sie extra eine Sondersitzung ein.
Kenyatta war von der afrikanischen (!) Chefanklägerin des ICC auf die Anklagebank zitiert worden, weil ihm die Beteiligung an Ausschreitungen mit Tausenden von Toten während seiner «demokratischen» Wahl vorgeworfen wird. Zudem hat der ICC einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten und Blutsäufer Omar al-Bashir erlassen. Das sei, kommt uns das Argument bekannt vor, Rassismus, immer auf die armen Afrikaner.
Ein Sittenbild
Was kümmert die versammelten afrikanischen Staatschefs das Elend, die Hungernöte, Gemetzel, Flüchtlingsströme, namenlose Verbrechen, die ganze Misere des Höllenlochs, in das sich Subsahara-Afrika verwandelt hat? Wurde wenigstens darüber geredet, dass sie über den einzigen Teil-Kontinent der Welt herrschen, in dem «absolut» Arme (definiert durch Zugang zu weniger als 1,25 PPP-Dollar pro Tag) im Schnitt mehr als 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen? Wurde zur Kenntnis genommen, dass deren Anteil an der gesamten Weltbevölkerung in den letzten zwanzig Jahren von 43,1 Prozent auf 17 Prozent abgenommen hat? Und dass nur in Subsahara-Afrika die Zahl der Hungernden in den letzten 20 Jahren um über hundert Millionen zugenommen hat?
Hat der ehemalige Befreiungskämpfer Mugabe aus Simbabwe eingeräumt, dass er vielleicht auch Schuld daran trägt, dass sich sein einstmals blühendes Land mit grossen Naturschätzen von einem Nahrungsmittelexporteur in eine Hungerhölle verwandelte, in der rund 1,5 Millionen Simbabwer durch internationale Nahrungshilfe vor dem Krepieren bewahrt werden müssen?
Hat der ehemalige Befreiungskämpfer dos Santos, der Herrscher Angolas, angekündigt, dass seine Tochter, immerhin die erste Milliardärin Afrikas, ein Einsehen hat und wenigstens die Hälfte ihres Vermögens den verelendenden Angolanern spendet? Haben die rund 140'000 schwarzafrikanischen Millionäre, die über ein Vermögen von insgesamt einer Billion US-Dollar verfügen, eine Grussadresse gesandt und angekündigt, dass sie dem Elend ihrer Landsleute nicht länger zuschauen könnten und einen Solidaritätsfonds gründeten?
Nein, natürlich nicht. Diese Herrscher und Millionäre interessiert einzig und alleine, dass sie weiter ungestört herrschen, sich und ihre Entourage bereichern und irgendwann einmal einen luxuriösen und friedlichen Lebensabend verbringen können. Gelegentlich schlagen sie sich vor Vergnügen auf die Schenkel, wenn sie zur Kenntnis nehmen, wie schnell und einfach man bei vielen Europäern bis heute Betroffenheit, Schuldgefühle und Helfer- sowie Spendentrieb auslösen kann.
Deshalb war das einzige Traktandum dieses Treffens laut Agenda das Verhältnis zum Internationalen Strafgerichtshof. Pardon, es gab auch noch die Ernennung eines «Kommissars für Frieden und Sicherheit». Damit sollten dann die Flüchtlingsprobleme ja gelöst sein. Und wer weiss, vielleicht wurde unter Punkt 5, «Varia», noch kurz über ein paar unwichtigere Probleme Afrikas gesprochen. Wer abgehärtet genug ist, ich verzichte zum Schutz der geschätzten Leserschaft auf eine deutsche Übersetzung, darf sich noch diesen Auszug aus der offiziellen Erklärung antun: «At their meeting today, the Heads of State and Government reiterated their unflinching commitment to fight impunity, promote human rights and democracy, and the rule of law and good governance on the continent.» Wem es da nicht schlecht wird, der hat wirklich kein Hirn und kein Herz.
Schreiende Widersprüche
Rassismus, Kolonialismus, die ewige Schuld des weissen Mannes (und der weissen Frau), die Ausbeutung Subsahara-Afrikas durch profitgierige internationale Multis, willkürliche Grenzziehungen, Handelsschranken. Alles Faktoren, die einen Beitrag dazu leisten (oder leisteten), dass Afrika im Elend ist. Aber sie begründen nicht ausschliesslich und ausreichend, wieso Afrika beispielsweise zwar mehr als ein Viertel (27 Prozent) allen landwirtschaftlich nutzbaren Bodens der Erde besitzt, 34 afrikanische Staaten aber mehr Nahrungsmittel importieren als sie ausführen.
Das Problem unserer Sicht auf Afrika ist aber ein ganz anderes. Man kann da noch so viele unbezweifelbare und offizielle Zahlen internationaler Organisationen aufeinanderstapeln. Man kann darauf hinweisen, dass auch bedeutende afrikanische Wissenschaftler schon seit Jahren die sofortige und bedingungslose Einstellung jeglicher Entwicklungshilfe fordern. Man kann darauf hinweisen, dass Länder wie Südkorea, von Vietnam ganz zu schweigen, noch vor wenigen Jahrzehnten wirtschaftlich weit hinter afrikanischen Staaten lagen und im Falle Vietnams zudem den grausamsten und längsten postkolonialen Krieg erleiden mussten.
Das alles prallt aber an der einbetonierten Meinung vieler menschlich Bewegten und Betroffenen ab, dass ein von Schuldgefühlen getriebenes Helfen, egal wie, die einzig moralisch erlaubte Haltung sei. Ein Tabu, ein unbezweifelbarer Glaubenssatz, eine unverrückbare Wahrheit. Wie alle Tabus krankt auch dieses daran, dass es seinen schreienden Widerspruch zur Realität nicht reflektieren kann.
Falsch mit Fortsetzung
Beelendend ist: Wenn ein Handeln, eine Politik, eine Massnahme unwiderlegbar mindestens fünfzig Jahre lang nichts genützt, im Gegenteil: geschadet, verschlimmert, alles nur noch furchtbarer gemacht hat, dann gäbe es doch eigentlich keinen einzigen Grund, ihre Fortsetzung zu fordern.
Wem der Gipfel der Schande und Heuchelei der afrikanischen Potentaten in Addis Abeba nicht die Augen geöffnet hat, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen.