Der Hindu-Nationalismus ist nicht nur eine Zurückweisung des Säkularismus. Premierminister Modi nabelt Indien von den Überbleibseln der kolonialen Monarchie ab, um deren autokratische Version einzuläuten.
Mit dem Tod von Königin Elizabeth II. begann Grossbritannien vor Wochenfrist mit der Inszenierung eines politischen Performance-Kunstwerks, um sicherzustellen, dass mit dem Tod der Monarchin nicht auch die Monarchie zu Grabe getragen wird. Es war ein Zufall, dass am Todestag der Queen in einem zweiten Epizentrum des ehemaligen Weltreichs – in Delhi – ein Schauspiel ablief, das sich wie ein Kontrapunkt dazu darbot.
Symbole und Gepränge
Premierminister Narendra Modi weihte am 8.September zwar nur eine Strasse ein, aber der «Rajpath» ist so aufgeladen mit historischen Referenzen und Modis Auftritt und Äusserungen trieften dermassen von Symbolik, dass jedermann die Zielrichtung des Events ausmachen konnte: die Abnabelung vom kolonialen Erbe.
Die britische Elite versteht es meisterhaft, den Staat mit den Symbolen und dem Gepränge des Empire auszuschmücken, wenn es darum geht, der Monarchie am Ende einer beispiellosen Regentschaft ein weiteres Überleben zu sichern. Doch auch Modi, der Antipode im ehemaligen «Jewel in the Crown» des Weltreichs, ist ein Meister des politischen Feuerwerks.
Wenn Modi etwas gelernt hat von den früheren Kolonialherren, dann ist es eben dieses Wissen um die Macht der Symbole. Edwin Lutyens und Herbert Baker, die Architekten der neuen Hauptstadt Indiens (nach 1911) konzipierten den «Kingsway» als Zentralstück des imperialen Kolonialstaats. Er legitimierte den Anspruch des britischen Königs, den Titel «Emperor of India» zu tragen, ein Titel, der nur für die indische Kronkolonie galt (und nicht für das Mutterland).
Der Anlass für die Feier war die Einweihung des umgestalteten «Rajpath» (wie der Kingsway nach 1947 hiess) zwischen der früheren Statue für den «Emperor of India», George V., und dem Sitz seines Vertreters, dem Vizekönig. Entlang ihrer drei Kilometer Länge reihten sie die wichtigsten Symbole des indischen Staats auf: Parlament, Ministerien, das Nationalmuseum und das Nationalarchiv.
Eine «neue Geschichtsschreibung»
Für sich genommen war die Renovation nicht mehr als eine urbane Infrastruktur-Auffrischung, mit Spazierwegen, Teichen, Unterführungen, unterirdischen Einstellhallen, Toiletten und einer neuen Verkehrsführung. Doch für Modi war es nur der erste Spatenstich, um die «Spuren der kolonialen Sklaverei» aus dem öffentlichen Leben Indiens zu beseitigen – mehr noch: damit auch eine Umdeutung der Geschichte vorzunehmen.
Es bleibt also nicht bei den energieschonenden LED-Lämpchen und der Berieselung durch hinduistische Mantren. Neben einem neuen Parlament und Premierminister-Amt werden Ministeriumsblöcke abgerissen und ersetzt. Zudem soll das Nationalmuseum – und vielleicht das Nationalarchiv – aus dem neubenannten Kartavya Path verbannt werden. Denn während das Erstgenannte neben klassischer hinduistischer Kunst auch islamische Artefakte enthält, dokumentiert das Archiv 250 Jahre Kolonialherrschaft. Für Modi ist es der Beginn einer, wie er bei seiner Rede sagte, «neuen Geschichtsschreibung» und einer «neuen Weise, wie das Volk denkt und handelt».
Mit Bulldozer-Politik allein ist noch kein Staat zu machen. Die ehemalige «Viceregal Lodge», heute Präsidialsitz, darf daher bleiben. Doch wie sieht es mit dem andern Ankerpunkt – der früheren Statue des Königs – aus? Wer ist die historische Leitfigur dieser «Neuen Geschichte»?
Es ist keine einfache Sache, denn die Hindu-Nationalisten hatten der Unabhängigkeitsbewegung von Gandhi passiv und misstrauisch zugeschaut. Und die Staatsgründer haben ausgedient. Nehru ist bereits zur Karikatur verzerrt worden, und selbst das Bild des Gründervaters Gandhi wird beharrlich von innen ausgehöhlt (und von aussen: kürzlich tauchten Videos auf, die Anhänger einer radikalen Hindu-Organisation zeigten, wie sie auf ein Bild von Gandhi schossen und dabei sangen: «Wir verehren Mahatma Godse» – den Mörder Gandhis).
Strategie der Gewaltlosigkeit
Einmal mehr ist Modi auf der Suche nach Helden in der viel geschmähten Kongresspartei fündig geworden und hat diese – einige waren Atheisten und Sozialisten gewesen – als resolute Hindus eingefärbt. Bei der Suche nach einem Säulenheiligen zeigte er mit dem Bengalen Subhas Chandra Bose ein feines Gespür. Er war ein Rivale Nehrus gewesen und hatte Gandhis Strategie der Gewaltlosigkeit als aussichtslos verworfen. Für Bose konnte der Kolonialfeind nur im bewaffneten Kampf aus Indien vertrieben werden.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs suchte Bose Unterstützung bei den Nazis, die ihn an die Japaner weiterreichten. Diese halfen ihm, in Südostasien eine «Indian National Army» (INA) im Umfang von über 40’000 Mann auszuheben und der japanischen Invasionsarmee einzugliedern. Die INA scheiterte dann allerdings am Widerstand der Kolonialarmee, deren Gros ebenfalls aus indischen Soldaten bestand – Inder schossen auf Inder.
Bose kam im August 1945 bei einem Flugzeugabsturz in Taiwan ums Leben und entging damit dem Kriegsverbrecherprozess, den die neue Kongress-Regierung gegen die Überlebenden der INA anstrengte. Auch dies wird Nehru heute angekreidet. Er stürzte sich zwar in die Robe eines offiziellen Verteidigers für die angeklagten Soldaten. Aber er tat dies, ohne sein Amt als Regierungschef (und damit als oberster Ankläger) ruhen zu lassen. Die meisten Verurteilten wurden zwar rasch begnadigt und erhielten sogar eine Pension. Es nützte Nehru wenig. Für Modis Indien ist der erste Regierungschef des Landes heute ein «Quisling», der sich der ehemaligen Kolonialmacht angebiedert hatte.
Anhaltende Virulenz des Kolonialismus
Am Abend des 8. September weihte der Premierminister eine neun Meter hohe Bronze-Statue von Bose ein. In seiner Ansprache machte er auch klar, dass seine Zielscheibe nicht in erster Linie das perfide Kolonialreich war. Es war «Ghulami Mansukhia», wörtlich übersetzt «Sklavenmentalität», in den englischsprachigen Zeitungen aber bezeichnenderweise als «colonial mindset» wiedergegeben. Er sieht die anhaltende Virulenz des Kolonialismus weniger im fernen kleinen England weiterleben als in Indien selber.
BJP-Regierungspolitiker brauchen für die politische Elite, die sich während Jahrzehnten in den kolonialen Bungalows rund um den Rajpath eingerichtet hatte, gerne das Schimpfwort der «Lutyens-Meute». Diese hat, so der Vorwurf, mit dem Kolonialstil und Kolonial-Nostalgie auch deren Herrschaftsformen übernommen, mit denen sie die weiterbestehende Macht von Klasse und Kasten demonstrieren.
Heute sitzen zwar die Hindutva-Nationalisten in denselben Bungalows und geniessen den Tee-Service livrierter Diener, die verdächtig wie koloniale Versatzstücke aussehen. Daran ändern auch die neuen Strassennamen nichts, etwa wenn der Sitz des Premierministers statt an «Race Course Road» heute an der «Lok Kalyan Marg» liegt – der «Strasse der Volkswohlfahrt».
Wiedergeburt der Autokratien?
Augenwischerei? Gewiss – doch dahinter verbirgt sich eine ernst zu nehmende Wegscheide. Denn Modi ist, trotz seiner Brokade-Roben, auch der Modernität in der Form von globaler Marktwirtschaft verpflichtet. Doch es ist eine Modernität, die er nicht mehr mit demokratischen Rechten individueller Freiheit verbindet.
Dies zeigt sich gerade in der Wiedertaufe des «Rajpath». Für die Staatsgründer bedeutete «Raj» Herrschaft – Volksherrschaft. In seiner Begründung für die Tilgung des Namens brachte Modi aber die Nebendeutung des Worts ins Spiel, in dem «Raj» als Kürzel für den «British Raj» dient. Der alte «Rajpath» war für ihn der Beweis, dass der Kongress noch immer von der Kolonialzeit träumte.
Der neue Ersatzname «Kartaviya Marg»– «Strasse des Dienstes» – zeigt die neue Richtung an. Es ist nur auf den ersten Blick ein plumper Kunstname. Dahinter steckt, so der «Indian Express», eine beliebte Formel, mit der die Autokraten von heute die Demokratie von innen aushöhlen: Bürger haben nicht in erster Linie Rechte (die sie vom Staat einfordern können), sondern Pflichten (die der Staat von ihnen verlangt).
Naht das Ende der Monarchien, wie es das wochenlange Trauerritual im Britischen Königreich nahelegt? Oder erleben wir ihre Wiedergeburt als Autokratien?