Ein Heuhaufen von 4 Kubikmetern enthält etwa 40 Millionen Halme. Was vor unseren Augen liegt, wird übersehen. Heu ist das Medium, in dem wir suchen. Und wir sehen durch das Medium, wir sehen nicht das Medium.
Rationale und irrationale Zahlen
Mathematiker sprechen vom Heu-im-Heuhaufen-Phänomen: Schwer zu finden wie Heu im Heuhaufen. Was ist damit gemeint? Betrachten wir die elementare Zahlengerade. Man kann auf ihr Brüche (rationale Zahlen) und Nicht-Brüche (irrationale Zahlen) unterscheiden, wie z. B. √2 oder Pi. Wir rechnen im Alltag mit Brüchen, weil Rechnungen endliche Operationen sind. Wollten wir wirklich mit der Zahl Pi rechnen, dann kämen wir an kein Ende, weil Pi eine unendliche Dezimalzahl ist, deren Stellen wir nicht vollständig kennen. Wenn wir also im Alltag mit Pi rechnen, dann rechnen wir mit einer Bruch-Näherung an einen Nicht-Bruch. Erstaunlich ist nun, dass irrationale Zahlen im Überfluss vorkommen, rationale viel seltener. Letztere sind sozusagen die „Nadeln“. Das „Heu“ der irrationalen Zahlen entgeht unserer Aufmerksamkeit, weil sie sich zum Rechnen als weniger praktikabel erweisen. Aber eigentlich enthält dieses „Heu“ mehr mathematische Geheimisse als die „Nadeln“. Nur muss man neue Methoden erfinden, um sie aufzuspüren.
The Medium is the Bullshit
Das Heu-im-Heuhaufen-Phänomen beschränkt sich nicht auf die Mathematik. Es stellt sich als höchst interessante Trivialität heraus, die alle Medien charakterisiert: Was im Überfluss vorkommt, wird unsichtbar. Zum Beispiel der Dreck. Wo alles dreckig ist, wird der Dreck nicht mehr bemerkt. Er wird mit der Zeit zum Medium, in dem man lebt. Das gilt im Besonderen für den geistigen Dreck, den Bullshit. Er ist in den Medien omnipräsent, daher nicht mehr wahrnehmbar: The Bullshit is the Medium. Oder, mit McLuhan: The Medium is the Bullshit.
Hier manifestiert sich ein anderer, ein resignativer Aspekt des Heu-im-Heuhaufen-Phänomens: Man hört auf, nach der Nadel zu suchen, vielleicht, weil man daran zweifelt, dass es sie überhaupt gibt. Man hat sich an das Heu gewöhnt, immer nur Heu gefunden und bescheidet sich damit. Unter Umständen macht man sich sogar lächerlich, wenn man erklärt, nach etwas anderem als Heu zu suchen. Was, etwas anderes als Heu? Man sucht in den Medien nach etwas anderem als Bullshit. Was zum Teufel ist denn etwas anderes als Bullshit?
Es gibt den offensichtlichen Bullshit und es gibt den weitaus heimtückischeren Bullshit, der sich nicht so leicht zu erkennen gibt. Und gerade deshalb wächst dem Heu-im-Heuhaufen-Phänomen eine immer wichtigere kritische Funktion als Defizit-Detektor zu: Es fehlt etwas im Heu. Vielleicht haben wir nur eine diffuse Vorstellung von diesem Etwas, aber entscheidend ist das Wecken eines Unbehagens, einer Unzufriedenheit, einer Eintönigkeitserfahrung: Immer nur Heu! Uns stinkt das!
Das Leben offline
Das Heu-im-Heuhaufen-Phänomen zeigt sich auch am allgegenwärtigen Gebrauch von Geräten. Die meisten „intelligenten“ Dinge des Alltags hüllen uns derart in eine Atmosphäre des Banalen und Trivialen, dass sie eigentlich wie Heu für uns sind, medial. Wir leben dank ihnen vorzugsweise online. Der Philosoph Luciano Floridi spricht sogar von der digitalen Lebensform als vom „Onlife“. Aber diese Medialität der Technik – ihr Heuhaufen-Charakter – wird dann zum Problem, wenn die „Intelligenz“ der Artefakte unsere Intelligenz als entbehrlich oder gar obsolet erscheinen lässt. In diesem Zusammenhang wäre auch an McLuhans These zu erinnern, dass jedes Medium eine Erweiterung des Körpers darstellt. McLuhan sagt nämlich auch, dass jede Erweiterung gleichzeitig eine Selbst-Amputation sei. Was wir an Vermögen an die Technologie auslagern, kann sich als Vernachlässigung, um nicht zu sagen: Verkümmerung dieser Vermögen aufseiten des Menschen auszahlen. Am Ende können oder wollen wir uns gar nicht mehr vorstellen, wie ein Leben offline aussähe. Die Nadel – das Leben offline – ist im Heuhaufen – der Gerätewelt – verschollen.
Das Daten-Heu der Geheimdienste
Ein besonderes Interesse am Heu-im-Heuhaufen-Phänomen bekunden die Geheimdienste. Die Datenbanktechnologie hat mittlerweile ein so hohes Raffinement erreicht, dass sich in grossen Datenmassen leicht Muster ausfindig machen lassen. Nehmen wir an, eine Datenabfrage – eine Query – sucht nach einer bestimmten Physiognomie: der Nadel. Um sie zu finden, geht Big Data indirekt vor. Big Data mag Heu. Die potenten Suchalgorithmen sammeln Daten über jeden Halm, und je grösser die Varietät der Halme, desto besser das Verständnis des Computers für das Heu. Und je besser der Computer versteht, was „normale Daten“ sind (Heu), desto eher findet er die „anormalen Daten“ (Nadel). Gerade Daten über das Kommunikationsverhalten im Netz – Metadaten – eignen sich vorzüglich, herauszufinden, wer mit wem verkehrt. Schon 2008 errechneten Studierende des MIT aus einer Analyse von Facebook-„Norm-Freundschaften“ (Heu) die Wahrscheinlichkeit von „abweichenden Freundschaften“: Homosexualität (Nadel).
Philosophen und ihre Heuhaufen
Natürlich kennt die Philosophie das Heu-im-Heuhaufen-Phänomen. Man könnte sogar sagen, dass Philosophie die genuine Disziplin ist, die sich um dieses Phänomen dreht. Eine ihrer faszinierendsten Praktiken liegt darin, die Abgründigkeit des Gewöhnlichen zu entdecken. Sie macht uns erst auf das Heu im Heuhaufen aufmerksam, auf das, was aufdringlich vor Augen steht. Das ist, betonen wir es, eine Kunst. Es gibt Meister dieser Kunst, zum Beispiel Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger. Nietzsche entdeckte die christliche Moral mit ihrem erdrückenden „Überfluss“ an lebensverneinenden Geboten und Verboten als Heuhaufen. Die Nadel des echten Lebens sei darin kaum mehr zu finden. Wittgenstein entdeckte im gewöhnlichen Sprachgebrauch einen Heuhaufen von Voreingenommenheiten, die unseren Verstand „verhexen“. Eine seiner berühmten Bemerkungen in den „Philosophischen Untersuchungen“ (Par. 434) lautet: „Was ich lehren will, ist: Von einem nicht offensichtlichen Unsinn zu einem offensichtlichen übergehen.“ Philosophie als Suche nach den Nadeln offenkundigen Unsinns. Heideggers Heuhaufen ist das „uneigentliche“ Leben des „Man“, in dem der Mensch verlernt hat, dazusein. Erst wer sein „in die Welt geworfenes Dasein“ erkennt, hat die Nadel gefunden.
Der Sinn des Lebens im Heuhaufen
Ist unser Leben nicht ein einziger Heuhaufen aus Wünschen und Wunscherfüllungen, grösseren und kleineren Zielen, Erfolgen und Niederlagen, aus unzähligen banalen Verrichtungen und Geschäften? Und wir suchen darin eine Nadel, die wir „Sinn des Lebens“ nennen. Sie ist schwer zu finden. Gibt es sie überhaupt? Vielleicht besteht der Sinn des Lebens gerade in der Definitionsumkehr: Das Leben ist doch ein wunderbarer Heuhaufen, warum darin nach einer Nadel suchen? Das muss nicht resignativ verstanden werden, sondern könnte den Ansatz zu einem gelingenden Dasein markieren. In diesem Sinn: Viel Glück in Ihren Heuhaufen!