Frankreich erlebt jedes Jahr zum Ende der Grossen Ferien Ende August, Anfang September eine "heisse" Rentrée. Dieses Jahr haben die Gewerkschaften mit viel Erfolg zu andauernden Streiks und Manifestationen gegen die Rentenreform aufgerufen, was Präsident Sarkozy schwächt. In unerfreuliche bis skandalöse Affären versunken, muss er zudem in der eigenen Partei für Ordnung sorgen, wenn er das Wahljahr 2012 überleben will.
Wichtiger als der Quatorze Juillet
Die Rentrée ist das grosse Kalenderereignis in Frankreich, noch wichtiger als der Quatorze Juillet. Die Hälfte der Taschenkalender sind wegen dem Schuljahr hier von September bis August nächsten Jahres datiert. Nach der Rückkehr aus den Ferien müssen sich die Franzosen wieder an die widrige Politik und die soziale Krise gewöhnen – diesmal an ein höheres Pensionierungsalter.
Die Steuerrechnungen liegen im Briefkasten. Die Preise - für Energie, öffentliche Transporte, Lebensmittel – sind gestiegen. Die Schulreform greift nicht. Dieses Jahr traten 6000 Lehrer ohne jede pädagogische Ausbildung ihren Dienst an. Proteste blieben folgenlos. Schulbücher waren nicht gedruckt, weil die Änderung des Fachinhalts zu spät beschlossen worden war. Zu diesen fast alltäglichen Sorgen gesellten sich aber weitaus bedenklichere Konflikte.
Unpopuläre weil unfertige Rentenreform
Als sein Meisterwerk sieht Präsident Sarkozy die unpopuläre Rentenreform, nachdem er in der Sicherheits- , Investitions- und Aussenpolitik weitgehend versagt hat.
Ein magisches Verschwinden des Milliardendefizites der staatlichen Rentenversicherung würde ihm endlich die Aura des Staatsmannes schaffen, die er laufend verspielt hat. Das Jonglieren zwischen der Hochfinanz, den Wirtschaftsverbänden und dem "Volk", dem er 2007 alles und nichts versprochen hatte, gefällt ihm – nicht weil er sich als Demagoge fühlt, sondern als cleverer Retter sieht.
Die Gewerkschaften liefen Sturm und mobilisierten am 7. September über 2 Millionen Mitglieder für Streiks und Manifestationen. Dieser Pegel, der an den 24. Juni anknüpft und an die Rentrées von 1995 und 2006 erinnert, ist für jede Regierung riskant.
Am 8. September hat Sarkozy bereits in einigen Details - für Schwer- und Langzeitarbeiter - nachgegeben. Aber das war schon vorher als ehrenwerte Rückzugsposition geplant. Die Gewerkschaften, diesmal als einige Front, planen derweil die nächste Massenaktion. Sie wollen, wie auch die Sozialistische Partei, keine Erhöhung des Pensionsalters von 60 auf 62 Jahre bis 2018. Die Regierung kann darauf aus finanziellen Gründen aber nicht verzichten, ohne ihre Autorität aufzugeben.
Mythischer Wohlfahrtstaat
Niemand bestreitet die Notwendigkeit einer Sanierung des Defizits des staatlichen Systems, das auf dem unzureichenden Umlageverfahren beruht. Die Gegner verlangen allenfalls, dass die zusätzliche Finanzierung allein auf die Unternehmen und – via Steuern – die Reichen konzentriert wird.
Das Fehlen einer obligatorischen 2. Säule über das Kapitalisierungsverfahren - das hier weitgehend als unsozial und, oft zu Recht, für Kleinverdiener als unerschwinglich gilt, erschwert eine sozial und wirtschaftlich ausgewogene Lösung, die auch der speziellen Benachteiligung der Frauen Rechnung tragen könnte.
Die Erhöhung des Rentenalters auf 62 Jahre – eines der niedrigsten in Europa - stösst deshalb auf einen virulenten, nicht immer verständlichen Widerstand. Denn bis 1983 – als Mitterrand dies änderte - war die Altersgrenze "Europa-üblich" 65 Jahre.
Aber alle sozialen Errungenschaften seit dem "Front Populaire" vor dem Zweiten Weltkrieg und unter de Gaulle und seinen Nachfolgern nachher haben als das "französiche Modell" inländisch eine fast mythische Anklammerung gefunden – als gäbe es anderswo keine Sozial- und Wohlfahrtstaaten.
Das letzte Beispiel war die Einführung der 35-Stundenwoche im Jahr 2002 durch die sozialistische Arbeitsministerin Martine Aubry, was mehr Probleme als neue Arbeitsplätze geschaffen hatte. Aubry als umstrittene Parteipräsidentin hat jetzt Mühe, plausible Gegenvorschläge zur Rentenreform zu formulieren – und ausser sich selbst einen glaubwürdigeren Gegenkandidaten zu Sarkozy zu akzeptieren. Und heisse er Dominique Strauss-Kahn, zur Zeit Direktor des Internationalen Währungsfonds in Washingon, aber kein Liebling aller Sozialisten, obwohl er die besten Chancen hätte, Sarkozy zu schlagen.
Sarkozy ohne Postur
Mit dem ihm eigenen Mangel an Gespür für eine präsidiale Postur – und seine Berater helfen ihm mit kleinkarierten Strategien da nicht - verfehlt Sarkozy fast stets seine Ziele und Absichten.
So hat er mit der kollektiven Ausweisung rumänischer und bulgarischer Roma – über Tausend bisher – mehr Probleme geschaffen als gelöst. Die Proteste gegen die eindeutig illegalen Massnahmen kamen aus der eigenen Partei – der UMP (Union pour un Mouvement Populaire) –, von der Opposition, von nahmhaften Juristen, von den europäischen Instanzen, vom Papst und den internationalen Medien.
Sarkozy übertrieb indessen provokativ, indem er ein Gesetz zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft einbrachte, das sich gegen naturalisierte Ausländer richtet, die Gewalt gegen Amtspersonen anwenden.
Sarkozy wie Berlusconi
Auf weitere Tatbestände wurde – vorderhand? – verzichtet. Aber die Bresche ist geschlagen: sie verletzt die Verfassung und europäisches Menschenrecht. Vergleiche mit dem Nazi-Rassismus waren ebenso naheliegend wie übertrieben. Dass Sarkozy heute in europäischen und anglo-sächsischen Kommentaren bereits mit Berlusconi gleichgestellt wird, müsste ganz Frankreich zu denken geben – und der Europäischen Union auch.
Sarkozys populistisches Manöver ist ebenso durchsichtig wie gefährlich. Er hofft damit, Stimmen aus der extremen Rechten - vor allem vom Front National von Jean-Marie Le Pen, der jetzt von der Szene abtritt – zu gewinnen.
Er nimmt damit eine schwere Verfassungskrise in Kauf – nicht die einzige in seinem Repertoire. Die norwegisch-französische Juristin Eva Joly, Präsidentschaftskandidatin ohne Chancen für Europe-Ecologie (Cohn-Bendit von 1968, aber wie gereift!, lässt grüssen), hat in einer Liebeserklärung an Frankreich auch ihren Liebeskummer über die seit langem verletzte Gewaltentrennung ausgedrückt.
Sie beklagt als Juristin , dass ausgerechnet in Frankreich mit seiner Tradition der Revolution (grausam wie sie war), unter der jetzigen Regierung noch mehr "Gegengewalten" beseitigt werden: unabhängige Medien, Humoristen, Richter, gemeinnützige Vereinigungen, Opponenten.
Falls Sarkozy weiter gegen Menschenrechte und soziales Gewissen verstösst, könnte er sich in der Defensive finden. Es gibt eine anständige konservative Rechte in Frankreich, wenn auch geschwächt, die Sarkoyz diese Schwächung nicht verzeihen wird. Und eine unterschwellige Bevölkerungsmehrheit schützt oft auflüpfisch mit illegalen Bürgeraktionen bedrohte Ausländer.
Abrechnen im Vorwahlkampf
Das ist insofern wichtig, als mit der Rentrée auch die Präsidentenwahlen von 2012 vorbereitet werden. Nach der Rentenreform folgt die Steuerreform zum Staatsdefizit, auch wenn sie erst 2013 greift, damit Sarkozy sein Wahlversprechen von 2007 – keine Steuerhöhungen – einhalten kann.
Im November ist eine grössere Regierungsumbildung vorgesehen: alle Gegner von Sarkozy müssen gehen, sicher Verteidigungsminister Morin von seiner Ein-Person-Zentrumspartei, der sich bereits gegen den Präsidenten aufgelehnt hat, hoffentlich der hoffnunglos ohnmächtige Aussenminister Kouchner, abtrünniger Sozialist. Damit wäre endlich Sarkozys kalkuliert unehrliche "Oeffnung" zum Zentrum zu Ende.
Politik und Pathologie
Nicht aber die Skandale, welche die Sommerpause überdauert haben. Sarkozy hatte überheblich gegen seine Rivalen und Vorgänger "Sauberkeit" versprochen und ist jetzt in die Affäre "Woerth-Bettencourt" verwickelt. Er steht seinen Vorgängern im Elysée in nichts nach, ausser dass er noch raffinierter sein wollte.
Hätte die etwas altersschwache L'Oréal-Erbin Liliane Bettencourt-Schueller, aus einer französischen pro-Nazi-Dynastie, sich nicht spät an einen älteren Dandy angeklammert und ihn zum Alleinerben gemacht, hätte ihre Tochter nicht reagiert, wären die Machinationen des früheren Schatzmeisters der UMP, des späteren Finanz- und heutigen Arbeitsministers Woerth – ein "Musterschüler" der UMP – und Sarkozys selbst, nicht vorzeitig aufgeflogen.
Niemand will Sarkozy zum zweitenmal
Der Noch-Minister Woerth hatte derweil seinen Bannstrahl gegen das unmoralische Steuerparadies Schweiz gerichtet, während er der reichsten Französin, die viel Geld an die UMP spendete, gleichzeitig wissend oder indirekt oder pathologisch half, – auch über seine Frau – ihr Geld, unter anderem in der Schweiz, vor dem französischen Fiskus zu verstecken. Zum Dank liess Frau Bettencourt in ihrer Villa in Neuilly bei Paris, wo Sarkozy Bürgermeister war, jeweils diskret braune Briefumschläge mit Geld an Woerth und andere überreichen.
Es hat schon zuviel Spekulationen über eine zweite Kandidatur von Sarkozy gegeben. Seine zweite Frau, die angebliche Sängerin Carla Bruni, hat sich schon einmal verschleiert dagegen ausgesprochen, wie auch direkt Sarkozys ungeliebter Vater.
Beides spricht für eine neue Kandidatur, so wie auch Sarkozys Charakter. Niemand will Sarkozy zum zweitenmal, aber niemand glaubt, dass er verlieren würde. Es fehlt – zur Zeit noch – an glaubwürdigen Gegnern. Allerdings: die Zahl derer, die bedauern, dass sie ihn 2007 gewählt haben, scheint derart astronomisch, dass eigentlich keine Wähler für ihn mehr übrig bleiben. Das galt, in minderem Mass, auch für Vorgänger. Auch die Wähler haben ein Recht auf Pathologie.