Seitdem sind zwei Wochen vergangen, und damit wäre die Weltbevölkerung schon wieder um (fast) jene der Schweiz gewachsen. Aber so genau nehmen wir’s nicht. Denn wer kann sagen, wer der siebenmilliardste Weltbürger war, wenn am 31.Oktober, genau um 07:20:00 fünf Babies geboren wurden? Und überhaupt: Gemäss der Webseite der UNO liegt die Fehlerquote für die Schätzung der Weltbevölkerung bei +/- 1 Prozent. Das wären siebzig Millionen Menschen und bedeutet, dass das erste neunstellige Siebner-Kind vielleicht im August zur Welt gekommen ist, vielleicht aber auch erst im nächsten Januar entbunden wird.
Damit ist auch der genaue Geburtsort als Trick einer weltweiten PR-Übung entlarvt. Was übrigens bereits geschehen ist, denn an nicht weniger als sieben Orten entdeckten die Heiligen Drei UNO-Könige die prophezeite Niederkunft. Und wenn ich richtig gelesen habe, lagen fünf davon in armen Ländern. Das kann logisch erklärt werden, denn schliesslich leben dort 80 Prozent der Weltbevölkerung. Aber einige indische Beobachter gaben sich empört. Sie sahen darin den alten malthusianischen Reflex, der die Überbevölkerung in der armen Welt dafür schuldig macht, dass dem Planeten allmählich der Schnauf ausgeht.
Knappe Ressourcen
Auch ich bin, wenn ich ehrlich bin, dem Reflex erlegen. Mein erster Impuls, darüber zu schreiben, folgte diesem dumpfen Gefühl, dass die wachsende Knappheit der lebenswichtigen Ressourcen – Nahrungsmitel, Wasser, Energierohstoffe – in erster Linie den Entwicklungsländern anzulasten ist, die ihre Kinderzahl nicht im Griff haben. Denn ist es nicht gerade in diesen Ländern, in denen diese Knappheit bereits mit Händen zu greifen ist – verschmutzte Luft, unsauberes Trinkwasser, menschenunwürdige Behausungen? Die Lebenserwartung des indischen Christkinds, Nargis Yadhav, liegt 20 Jahre unter jener des Knaben, der zur gleichen Zeit in Boise (Idaho) zur Welt gekommen ist.
Nargis kann sich schon glücklich schätzen, dass sie überhaupt zur Welt kam, denn ihr Geburtsdorf Dhanaur liegt in der Region der Provinzhauptstadt Lucknow, in der die Mädchengeburten gemäss jüngster Volkszählung auf die Rate von 899 (auf 1000 Knaben) gesunken sind. Die Dorfklinik von Dhanaur war zwar für die TV-Kameras schmuck hergerichtet worden, aber rund zwei Drittel dieser einfachen Geusndheitszentren im Bundesstaat Uttar Pradesh stehen leer – ohne Ärzte, Geräte, Betten. Nargis‘ Mutter Vineeta sah gesund und stämmig aus, aber über die Hälfte ihrer indischen Geschlechtsgenossinnen ist anämisch. Und Nargis kann von Glück reden, wenn sie zu den 50 Prozent gehören wird, die überhaupt in den Vollbesitz ihrer mentalen und körperlichen Anlagen kommen.
Amerikas Verbrauch
Aber dann denke ich auch an dieses simple, vielleicht simplistische, Diagramm des Bevölkerungswissenschafters Paul Ehrlich zurück: Zwischen den beiden Achsen Bevölkerungszahl (vertikal) und Ressourcenkonsum (horizontal) erhebt sich zuerst eine rechteckige Säule, die zeigt, dass 80 Prozent der Weltbevölkerung 20 Prozent der Ressourcen verbrauchen. Dann fällt dieses Rechteck auf die Nase und liegt breit und schwer auf der Ressourcenachse: 20 Prozent der Welt konsumieren 80 Prozent des Wassers, der Energie, Luft und Nahrung. Natürlich ist die Angst berechtigt, dass der schmale Wurf des Bevölkerungssäule, wenn er einmal in die Breite geht, das Übergewicht der Welt noch einmal potenziert. Das Beispiel Chinas zeigt ja drastisch, wie rasch ein Schmalhans zu einem Allesfresser mutiert und sich in der ganzen Welt mit Ressourcen eindeckt.
Aber ich bin mit den indischen Kritikern einig: Nicht die kleine Nargis aus Dhanaur sollte zum PR-Mahnmal eines ausgelaugten Planeten erkoren werden, sondern der kleine China-Amerikaner aus Boise (Idaho). Und ich denke dabei an den Ausspruch von Amartya Sen aus dem Jahr 1994: „One additional American typically has a larger negative impact on the ozone layer, global warmth, and all other elements of the Earth’s environment than dozens of Indians and Zimbabweans put together“.
Stabiles Glöeichgewicht bis 2025
Gerade wenn ich mein Adoptivland anschaue, dann sieht nicht alles so trüb aus wie gemeinhin befürchtet. Zwar wird Indien in spätestens 14 Jahren China als grössten Bevölkerungspool ablösen, dank der Blähung in seinem demografischen Profil, einer Bevölkerung, die zur Hälfte noch nicht 25-jährig ist – im Gegensatz zur raschen Überalterung Chinas als Folge von dessen Ein-Kind-Politik. Aber die Volkszählung von diesem Frühjahr hat ergeben, dass sich die Wachstumsrate der indischen Bevölkerung zum ersten Mal überhaupt im letzten Jahrzehnt verlangsamt hat, von 24 Prozent (zwischen 1991 und 2001) auf 17 Prozent (zwischen 2001 und 2011). Falls dieser Trend anhält, wird Indien 2025 seine ‚Reproduktionsrate‘ erreicht haben, d.h. ein stabiles Gleichgewicht von Geburten und Todesfällen.Einige Bundesstaaten, wie etwa jene im Süden Indiens, sind bereits soweit.
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass dies eine demografische ‚Dividende‘ und nicht eine Hypothek wird, oder gar eine ‚Zeitbombe‘, die Lieblingsvokabel malthusianischer Schreckensszenarien. In Indien als einzig grossem Land – ein knapper Sechstel der Weltbevölkerung ist indisch – wird die Zahl der ökonomisch Abhängigen, also der Kinder und Alten, in den nächsten 40 Jahren wegen des Verlangsamungseffekts von Generationswechseln weiter fallen. Noch zur Jahrhundertmitte wird der Altersmedian bei 38 Jahren liegen. Glaubt man dem ‚Economist‘, wird die Weltbevölkerung dannzumal quasi das rettende Ufer erreichen. Nach zwei Jahrhunderten Steilanstieg wird das Wachstum allmählich wieder in jene horizontale Linie übergehen, die sie in der Menschheitsgeschichte bis dann gezogen haben wird.
Fröhliche Gesichter inmitten der Armut
Zweckoptimismus? Vielleicht, denn man kann sich tatsächlich fragen, ob es der Welt bis 2050 gelingen wird, aus der Erde noch einmal 50 Prozent mehr Nahrungsmittel herauszupressen. Und wenn Indien seine Armutsgelder weiterhin so verschleudert wie bisher, kann aus der Dividende rasch ein Schuldzins werden, der nicht mehr zu bedienen ist. Denn eine Wirtschaft ohne qualizierten Nachwuchs wird dann nicht mehr die Produktivität entwickeln, die den Nahrungsbedarf und die Gesundheitskosten einer kränkelnden Gesellschaft aus eigener Anstrengung zu decken vermag.
Aber wenn ich die vielen jungen Menschen beobachte, die in Bombay in die Züge strömen und den ‚Gateway of India‘ überfluten, sehe ich nicht traurige, gebrochene Gestalten. Es sind meist fröhliche Gesichter, knapp der Armut entflohen, mit der Energie und Zuversicht von Menschen, die – buchstäblich – nichts zu verlieren haben.
Der Hunger in ihren Augen ist nicht jener nach Nahrung, sondern nach einem besseren Leben. Und sie wissen, dass sie es sind, die sich emporarbeiten müssen – im Unterschied etwa zu unseren Gesellschaften, die meinen, der Staat habe für Arbeit zu sorgen (und wenn er es nicht kann, wird er dafür mit Arbeitslosengeldern bestraft). Von ihrem Staat wissen die armen Inder, dass er zwar viel verspricht, aber wenig hält, und dass sie deshalb auf sich selbst angewiesen sind.