Israels jüngster verlustreicher Angriff auf eine Schule in Gaza dürfte einen Waffenstillstand mit der Hamas in noch weitere Ferne rücken. Die Attacke dürfte auch, nicht nur auf Wikipedia, die Diskussion neu entfachen, ob sich Amerikas engster Alliierter des Völkermords schuldig macht. Auch Kamala Harris wird die Frage im US-Wahlkampf beantworten müssen.
Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin der Uno für die besetzten palästinensischen Gebiete, hätte sich nach dem tödlichen Luftangriff der israelischen Armee (IDF) auf eine Schule in Gaza nicht deutlicher äussern können. «Israel begeht Völkermord an einer palästinensischen Nachbarschaft nach der andern, einem Spital nach dem andern, einer Schule nach der andern, einem Flüchtlingslager nach dem andern, einer ‘Safe Zone’ nach der andern», schrieb die 47-jährige italienische Juristin auf X, «mit amerikanischen und europäischen Waffen.» Und sie fügte bei: «Mögen uns Palästinenserinnen und Palästinenser unser kollektives Unvermögen verzeihen, sie zu beschützen, die grundlegendsten Inhalte des Völkerrechts zu ehren.»
Israels Armee dementiert
Am Samstagmorgen waren bei einem Raketenangriff der IDF auf die al-Taba’een Schule in Gaza City laut lokalen Quellen mutmasslich mehr als 100 Menschen, unter ihnen viele Frauen und Kinder, getötet und Dutzende Personen mehr verletzt worden. Augenzeugen berichteten, einige der Opfer seien bis zur Unkenntlichkeit «in Stücke» gerissen worden.
Ein Sprecher der IDF (Israel Defense Force, Verteidigungskräfte) hingegen liess verlauten, die genannte Opferzahl sei übertrieben und widerspreche Informationen der Armee, der Genauigkeit der verwendeten Munition und der Präzision des Angriffs. «Annähernd» 20 Mitglieder der Hamas und des Islamischen Dschihad, unter ihnen führende Aktivisten, seien auf dem Schulgelände, «einer Kommando- und Kontrollzentrale», aktiv gewesen.
Auf dem Gelände waren über tausend Leute untergebracht, unter ihnen Dutzende Flüchtlinge aus Beit Hanoun, denen die IDF befohlen hatte, ihre Häuser zu verlassen. Der Uno zufolge sind bis zum 6. Juli insgesamt 477 von 564 Schulen in Gaza direkt getroffen oder beschädigt worden. Räumlichkeiten der al-Taba’een Schule dienten auch als Moschee und auch diese wurde während des Morgengebets getroffen. Er halte es für unwahrscheinlich, meint ein palästinensischer Journalist und BBC-Mitarbeiter, dass die Hamas Moscheen als Einsatzzentralen benutze.
Mehr US-Waffen für Israel
Währenddessen beschrieb der Direktor des Al-Ahli-Spitals die Lage nach dem Angriff als «katastrophal» und sagte, Ärztinnen und Ärzte könnten Schwerverwundete nicht mehr behandeln. «Es war entsetzlich vor Ort», schilderte ein Student der BBC den Schauplatz der Attacke: «Überall lagen Körperteile herum und die Wände waren mit Blut bedeckt.»
Erst tags zuvor hatte das Aussenministerium in Washington DC mitgeteilt, die USA würden weitere 3,5 Milliarden Dollar freigeben, die Israel für den Kauf amerikanischer Waffen und Ausrüstung verwenden kann. Der Betrag ist Teil jener Militärhilfe für den jüdischen Staat in der Höhe von 14 Milliarden Dollar, die der US-Kongress im April gesprochen hat.
Für Daniel Ley, einen früheren Berater der israelischen Regierung, ist Washingtons Support für Israel Beweis für «die Unredlichkeit und Doppelzüngigkeit» der amerikanischen Exekutive. Das Weisse Haus habe stets behauptet, die Hamas sei das einzige Problem, beginne jetzt aber zu realisieren, getäuscht worden zu sein, weil Benjamin Netanjahu keinen Waffenstillstand wolle. Amerikas Regierung, so Levy, zeige «unwürdige Schwäche».
Wahlkampfthema Gaza
Am Tag vor dem Luftangriff in Gaza konfrontierten Protestierende die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris bei einer Wahlveranstaltung in Glendale (Arizona) mit «Befreit, Befreit Palästina!»-Rufen – ein Indiz dafür, dass sich Israels Krieg in Gaza als Thema nicht so rasch aus dem Wahlkampf eliminieren lassen wird.
«Ich habe es klar gesagt: Jetzt ist es an der Zeit, einen Waffenstillstand und ein Geiselabkommen zu erreichen», unterbrach Harris ihre Rede vor geschätzten 15’000 Zuhörerinnen und Zuhörern. «Der Präsident und ich arbeiten täglich rund um die Uhr, um ein Waffenstillstandskommen zu erzielen und die Geiseln heimzubringen», sagte sie weiter: «Ich respektiere eure Stimmen, aber wir sind heute hier, um über das Rennen 2024 zu sprechen.»
Harris’ Äusserungen dürften wenig dazu beigetragen haben, die Skepsis unter arabisch-stämmigen Amerikanerinnen und Amerikanern gegenüber der Nahost-Politik der Regierung von Joe Biden zu zerstreuen. Schon zwei Tage zuvor war die Vizepräsidentin bei einem Auftritt in Michigan von Zwischenrufen unterbrochen worden: «Kamala, Kamala, you cannot hide, we won’t vote for genocide.» – Kamala, Kamala, du kannst dich nicht verstecken, wir werden nicht für Völkermord stimmen. Worauf Harris, wohl etwas frustriert, antwortete: «Wisst ihr was, wenn ihr wollt, dass Donald Trump gewählt wird, dann sagt es. Andernfalls lasst mich reden.»
Ein unbeeindruckter Premier
Zwar sei der Krieg in Gaza in den USA als Thema nicht so wichtig wie international, analysiert Al-Jazeeras Amerika-Korrespondent Phil Lavelle: «Harris aber weiss, dass in Staaten wie Michigan, die ziemlich grosse arabischstämmige Bevölkerungssegmente haben, der Frust über den fehlenden Fortschritt gross ist.» Die Kandidatin werde das aber, glaubt er, im Wahlkampf anzusprechen wissen. Nach einem Treffen mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Juli in Washington DC hatte Kamala Harris gesagt, ihr Engagement für Israels Existenz und Sicherheit sei «ungebrochen», doch sie «werde nicht schweigen», was die «Tragödien» in Gaza betrifft.
Ebenso ungebrochen ist Benjamin Netanjahus Wille, die Hamas zu zerstören. In einem Interview mit dem Magazin «TIME» sagte er, jetzt sei noch nicht die Zeit, um als Premier Rechenschaft abzulegen für das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, obwohl sich führende Vertreter des Inlandgeheimdienstes Shin Bet und der Armee bereits für ihr Rolle im Vorfeld der Tragödie entschuldigt haben: «Es wird noch genug Zeit bleiben, sich damit zu befassen. Aber ich glaube, das jetzt zu tun, wäre ein Fehler. Wir sind mitten in einem Sieben-Fronten-Krieg. Ich, denke, wir müssen uns auf eine Sache konzentrieren: zu gewinnen.»
Wikipedia: «Gaza Völkermord»
Noch, sagte Netanjahu, sei es auch nicht die Zeit, sich ausdrücklich zu entschuldigen: «Natürlich, natürlich. Es tut mir leid, sehr leid, dass so etwas geschehen ist.» Angesprochen auf Misshandlungen palästinensischer Gefangener durch die israelische Armee und die eher zögerliche Reaktion der zuständigen Justiz verstieg er sich zur Behauptung, Israel habe wahrscheinlich die unabhängigste Justiz des Planeten: «Also ist das Argument lächerlich, wir würden so etwas nicht untersuchen.»
Nicht behagen dürfte Israels Premier ausser unbequemen Fragen der Medien auch der Umstand, dass die Redaktoren der englischsprachigen Wikipedia jüngst beschlossen haben, die Seite «Anschuldigungen des Völkermords bei Israels Angriff in Gaza 2023» in «Gaza genocide» – Völkermord im Gazastreifen – umzubenennen. Der Entscheid fiel der israelischen Tageszeitung «Haaretz» zufolge am 26. Juli nach mehrmonatiger Debatte, obwohl der Internationale Gerichtshof (ICJ) in Den Haag in dieser Sache auf Antrags Südafrikas noch kein Urteil gefällt hat. Die Seite «Gaza Genocide» wird seither täglich 55’000-mal aufgerufen.
1’124 Änderungen
Seit die Seite erstmals aufgeschaltet worden ist, haben Dutzende von freiwilligen Redaktoren 1’124 Änderungen vorgenommen und den Umfang der Seite erweitert. Basierte der Inhalt zuerst noch auf nur fünf Quellen, unter ihnen Berichte von Uno-Experten, Angaben der von Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza und ein Reuters Report über im Krieg getötete Journalisten, so sind inzwischen für die Einschätzung diverse Quellen zusätzlich berücksichtigt worden.
So auch Zitate israelischer Regierungsmitglieder, die auch in der Klage Südafrikas vor dem ICJ auftauchten, wie etwa jenes von Amichai Eliyahu, Minister für nationales Erbe, der im November gefordert hatte, «eine Atombombe über Gaza abzuwerfen». Zitiert wird auch Aussenminister Israel Katz, der bei Kriegsbeginn befahl, Israels Wasserversorgung zu stoppen, und später sagte, Gaze werde «ohne Elektrizität und Wasser und Brennstoff sein, bis die Geiseln freigelassen werden».
Auch die ADL gerügt
Derweil kritisiert das «Jewish Journal» in Los Angeles, der Wikipedia-Seite mangle es an Ausgeglichenheit, weil sie lediglich Quellen zitiere, die Israel kritisierten. Es habe unter den Redaktoren auch Stimmen gegeben, die den neuen Titel abgelehnt und argumentiert hätten, er verstosse gegen die Richtlinien von Wikipedia, da er voreingenommen sei und jene Forscher oder Quellen unerwähnt lasse, die nicht glaubten, dass es in Gaza einen Völkermord gebe.
Wikipedia hatte bereits im Juni Aufsehen erregt, als die Online-Enzyklopädie die jüdische «Anti-Defamation League» (ADL), die in den USA als führende Autorität in Sachen Anti-Semitismus gilt, als «im Allgemeinen unzuverlässig» einstufte. Die Organisation solle nicht mehr zum Thema zitiert werden, weil sie in erster Linie als pro-Israel Lobby fungiere und legitime Kritik an Israel als Anti-Semitismus einstufe: «ADL scheint nicht mehr eine ernsthafte, allgemein anerkannte und intellektuell schlüssige Definition des Anti-Semitismus zu vertreten, sondern hat sich zu einer schamlosen Politisierung jenes Begriffs verleiten lassen, für dessen Definition sie einst als zuverlässige Stimme geschätzt wurde.» Die Organisation selbst bezeichnet den Entscheid von Wikipedia als Resultat «einer Kampagne, die ADL zu delegitimieren.»
Zeuge statt Mediziner
Der samstägliche Luftangriff auf die Schule al-Taba’een bestätigt indes die schlimmsten Befürchtungen des amerikanischen Kinderarztes und Notfallmediziners Dr. Ahmad Yousaf, der als Freiwilliger für die in den USA domizilierte NGO «MedGlobal» im al-Aqsa Spital in Gaza arbeitete. Mit der «New York Times» hat er über seine Erfahrungen gesprochen: «Was ich am häufigsten tat, war triagieren und viele Opfer gleichzeitig behandeln. Das war keine moderne Notfallmedizin. Häufig kamen wir gar nicht so weit. Patienten starben.»
Oft hätten sie, erzählt der Arzt, Patienten, unter ihnen viele Kinder, auf Kartons am Boden behandeln müssen – bei einem gleichzeitigen Mangel an Blutkonserven, Gaze und Anästhesiematerial. «Je länger ich dort war, desto mehr habe ich realisiert, dass meine Rolle nicht die eines Mediziners, sondern die eines Zeugens ist», schliesst Dr. Yousaf: «Immer, wenn ich denke, es kann nicht mehr schlimmer kommen, wird es noch schlimmer.»