Zwei einstige Gegenspieler auf dem weltpolitischen Schachbrett, Henry Kissinger (91) und Michail Gorbatschow (83), kommen heute zum gleichen Fazit. „Die Belastung der Beziehungen zu Russland birgt die Gefahr einer Neuauflage des Kalten Kriegs“, warnte der frühere US-Aussenminister in einem Gespräch mit dem Magazin „Der Spiegel“.
„Die Welt steht am Rande eines neuen Kalten Krieges“, erklärte der letzte Präsident der Sowjetunion an der Seite von Kanzlerin Angela Merkel anlässlich der Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. „Einige sagen, er habe bereits begonnen“, fügte Gorbatschow hinzu.
Krieg aus nichtigem Anlass
Ist das Schwarzmalerei zweier Politiker von gestern? Kann es möglich sein, dass die Welt wegen des Streits um ein relativ unwichtiges Land wie der Ukraine in eine grosse militärische Auseinandersetzung schlittert? „Es wäre eine Tragödie, diese Gefahr zu ignorieren“, meint Kissinger. Der Mann, der mehreren US-Präsidenten diente und dessen Rat noch immer gefragt ist, orientiert sich nach eigenem Bekenntnis an der Realpolitik Metternichs im 19. Jahrhundert.
Der Erste Weltkrieg, dessen Ausbruchs vor 100 Jahren wir gerade gedenken, ist ein Beispiel dafür, wie nichtige Anlässe ganze Kontinente in den Abgrund reissen können. Der Zweite Weltkrieg war eine Fortsetzung des Ersten, doch danach hiess es: „Nie wieder!“
Neue Süielregeln der KSZE
Selbst auf den Höhepunkten der ideologischen Auseinandersetzung zwischen dem kommunistischen System und der westlichen Welt kam es zu keiner direkten militärischen Konfrontation zwischen den Blöcken. Der Kalte Krieg ging in den siebziger Jahren mangels überzeugter Kombattanten zu Ende. 1975 schrieben die USA, die Sowjetunion, Kanada und alle europäischen Staaten in der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) die neuen Spielregeln nieder. 15 Jahre später brachen die Sowjetunion und der Warschauer Pakt zusammen.
Gorbatschow schlug vor, ein „Haus Europa“ zu bauen. Er und sein Aussenminister Eduard Schewardnadse behaupten in ihren Memoiren, dass ihnen die damaligen führenden westlichen Politiker mündlich zugesichert hatten, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Die Gesprächspartner, so weit sie noch leben, können sich nicht daran erinnern.
Russische Einkreisungsängste
Fakt ist, dass sich die Nato bis zur Bucht von Sankt Petersburg ausbreitete. Am Schwarzen Meer blieb Russland nur mehr ein kurzer Küstenstreifen zwischen der Ukraine und Georgien. Wie stark der Westen diese beiden Länder bedrängt, der Nato beizutreten, bleibt ein undurchsichtiges Spiel. Objektiv müssen die russischen Einkreisungsängste ernst genommen werden, zumal Russlands einziger Hafen für seine Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim liegt.
Russische Diplomaten erzählen, dass Putin wütend war, als gerade während der Olympischen Winterspiele in Sotschi die prowestlichen Kräfte in Kiew putschten. Putin musste machtlos zuschauen, sonst hätte er sein pompöses Sportereignis gefährdet. Er holte aber das Versäumnis auf seine Art nach: zuerst durch die verschleierte Besetzung der Krim und dann durch die Eingliederung der überwiegend russischsprachigen Halbinsel in die Russische Föderation.
Gefährliche Zwischenfälle
Das war ein klarer Bruch des Völkerrechts. Die Lage eskalierte durch die Sezession der Ost-Ukraine um die Grossstädte Donezk und Lugansk mit militärischer Unterstützung Russlands. Die Nato hat weder Lust noch das Recht, in den bewaffneten regionalen Konflikt einzugreifen. Die Beistandspflicht gemäss Artikel 5 des Nato-Vertrags beschränkt sich auf ihre Mitglieder. Dazu gehören Estland, Lettland und Litauen. In den drei Baltenstaaten lebt eine starke russische Minderheit. Die Befürchtung, dass Putin diesen Umstand zum Vorwand nimmt, auch hier zu intervenieren, ist nicht von der Hand zu weisen.
Die Nato hat einige Kampfflugzeuge in die Region verlegt. Mehr kann sie im Moment nicht tun, ohne die Russen zu provozieren. Über der Ostsee spielen jetzt die Luftwaffen beider Seiten Katz und Maus wie zu den Zeiten des Kalten Krieges. Experten haben in den vergangenen acht Monaten 39 militärische „Zwischenfälle“ gezählt. Wer dabei die Regeln verletzt hat, ist schwer auszumachen.
Gleiche Augenhöhe
Der deutsche Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe warnt jetzt vor der „Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Konfrontation zwischen der Nato und Russland“. Der CDU-Politiker gehört dem 24-köpfigen Führungskreis eines „European Leadership Network“ an, in dem auch der frühere russische Aussenminister Iwanow und der ehemalige Geheimdienstchef Trubnikow vertreten sind.
„Die sich häufenden Zwischenfälle sollten nicht heruntergespielt werden, sondern zum Anlass genommen werden, die politische und militärische Kommunikation zwischen beiden Seiten zu intensivieren und möglichst transparent miteinander umzugehen“, erklärte Rühe dem „Spiegel“. Der während seiner Ministerzeit als Hardliner eingestufte Politiker wendet sich auch gegen die Abhaltung von Nato-Grossmanövern in Osteuropa. Solche Übungen mit zehntausenden Soldaten hatte der deutsche Nato-General Hans-Lothar Domröse angeregt.
Die Aufgeregung in Deutschland und einigen osteuropäischen Staaten wird nicht von den USA, Frankreich und Grossbritannien geteilt. Das lässt hoffen, dass sich die Lage beruhigt. Den Russen geht es vor allem darum, mit dem Westen auf gleicher Augenhöhe zu reden. Dazu gehört die Anerkennung der legitimen russischen Sicherheitsinteressen. Nach Ansicht Kissingers handelt Putin aus „strategischer Schwäche, die er als taktische Stärke tarnt“. Dass der russische Staatschef jetzt in Peking seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping als Partner umwirbt, wird Russlands strukturellen Schwächen nicht heilen.