Es ist in einer offenen Gesellschaft guter Stil, das Gesicht zu zeigen. Dies zu tun, zeigt die Bereitschaft, Teil dieser offenen Gesellschaft zu sein. Nur: offen ist sie gerade auch dann, wenn sie es ihren Mitgliedern ermöglicht, das Gesicht zu verstecken. Dies kann aus sehr unterschiedlichen Gründen geschehen. Die meisten von ihnen würden eine offene Gesellschaft anerkennen. Problematisch wird der Tatbestand der Gesichtsverschleierung dann, wenn das Motiv selbst als problematisch angesehen wird und wenn diejenigen, die sich das Gesicht verschleiern, weigern, den Schleier zu lüften, sobald der Staat und seine Institutionen dies in Vertretung der Gesellschaft verlangen.
Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass der moderne Staat ein Recht hat, das Gesicht seiner Angehörigen zu sehen und eine Person aufgrund des Gesichts zu identifizieren. Er hat also das Recht zu verlangen, das Gesicht zu enthüllen. Dieses Recht hatte er schon immer und muss nicht noch eigens verfassungsrechtlich bestätigt werden.
Den Sinn der Bundesverfassung wahren
Wenn nun aber das Verhüllen des Gesichts verboten werden soll, dann wird das situationsbezogene Recht des Staats in eine Generalprävention verkehrt. Die in der Bundesverfassung mit der Formel «Niemand darf ...» eingeleiteten Grundsätze betreffen das Verbot von Diskriminierung, von Zwang zu einer Mitgliedschaft, von Ausschaffung, wenn Folter droht oder von Bevorzugung aufgrund der Bürgerrechte. Es handelt sich also um Formulierungen, die den liberalen Rechtsstaat begründen helfen. Dies spiegelt sich auch in den bisherigen Verbotsanordnungen der Verfassung. Verboten sind die Todesstrafe, die Folter, die Zensur, der Handel mit menschlichen Organen und – seit 2009 in Art. 72.3 – der Bau von Minaretten. Bis auf das letztgenannte Verbot ist das verfassungsrechtliche «Verbieten» als Generalprävention zum Schutz des Lebens und der Freiheit zu verstehen.
Das angestrebte «Verbot der Verhüllung des eigenen Gesichts» folgt nun der antiliberalen Logik des Verbots des Baus von Minaretten. Es wurde behauptet, Minarette gefährdeten die Freiheit, deshalb müssten sie verboten werden. Nun hat schon der Philosoph Karl Popper in seiner Verteidigung der «offenen Gesellschaft» darauf hingewiesen, dass Freiheit nicht durch Verbote, sondern nur durch die Gewährleistung der Freiheitsrechte verteidigt werden kann. Andernfalls droht das Paradox des illiberalen Liberalismus.
Insofern ist die Forderung, dass niemand gezwungen werden darf, sich das Gesicht zu verhüllen, im Prinzip richtig. Problematisch hingegen ist es, wenn mit der Formulierung «aufgrund des Geschlechts» nur ein Motiv der Zwangsausübung genannt wird und wenn mit dem Verbot der Verhüllung nur ein Handlungsfeld des Erzwingens genannt wird. Denn im Prinzip gilt jede unzulässige Gewaltanwendung oder Drohung, jedes unzulässige Einwirken von aussen auf jemanden unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, und damit jede Unterdrückung des Freien Willens als Zwangshandlung, die durch bestehendes Recht verboten und sanktioniert ist. So ist die Frage berechtigt, warum die Bundesverfassung genau diese eine und nur diese eine Form des Zwangs beziehungsweise der Nötigung verbieten soll.
Umgekehrt werden in der Gesetzgebung zahlreiche Tatbestände angesprochen, für die es keine Setzungen in der Bundesverfassung gibt. So wird in § 232a StGB im Abschnitt «Straftaten gegen die persönliche Freiheit» die Zwangsprostitution verboten, da der Tatbestand das Rechtsgut der persönlichen Freiheit der Betroffenen verletzt. Konsequenterweise müsste in der Bundesverfassung ein Verbot der Zwangsprostitution eingefügt werden. Die Verletzung des freien Willens liegt auch bei Zwangsheiraten vor, die nun als «Verbrechen» und nicht bloss als «Vergehen» eingestuft werden. Hier ist das Zivilgesetzbuch zuständig. In der Schweiz soll es pro Jahr etwa 300 bis 400 im Ausland geschlossene Zwangsheiraten geben. Die Zahl ist drei- bis viermal so hoch als die Zahl derjenigen Frauen, die sich in der Schweiz öffentlich das Gesicht verhüllen. Dringlicher als die Verhüllungsfrage ist die Problematik der Züchtigung von Kindern. Warum ist es bis heute in der Schweiz immer noch nicht verboten, Kinder mit Prügel zu züchtigen? Warum gelingt es der Legislative hier nicht, eine Gesetzgebung in die Wege zu leiten?
Aus der Sicht der Initianten gibt es zahlreiche Situationen, in denen das Verhüllen des Gesichts legitim ist. Wenn sich Menschen vor einer Ansteckung schützen, wenn sie sich zu ihrer eigenen Sicherheit unkenntlich machen, wenn sie sich vor klimatischer Exposition schützen und sie einem «einheimischen Brauchtum» folgen wollen, dann dürfen sie sich das Gesicht verhüllen. Logischerweise wäre es illegitim, in anderen Situationen das Gesicht zu verhüllen. Faktisch läuft dies so auf eine sittenpolizeiliche Ordnung hinaus, wo Verhüllte nach der Gesinnung ihres Tuns befragt werden müssen, um abzuklären, ob ihre Verhüllung illegitim ist. Oder im Ausführungsgesetz wird mitgeteilt, an welchen Formen der Verhüllung erkennbar ist, ob diese legitim ist. Selbst dann könnte es schwierig werden. So tragen in Frankreich manche Frauen, die weiter ihr Gesicht verschleiern wollen, einen medizinischen Gesichtsschutz.
Vom Vermummen und Verhüllen
Es gibt Kleidervorschriften an Firmen, Schulen und Behörden. Es gibt Bekleidungsvorschriften am Arbeitsplatz und in Clubs. Es gibt das Reglement «Bekleidung und Packungen» der Schweizer Armee. Aber es ist ein wesentliches Merkmal einer freien Gesellschaft, dass sie ihren Mitgliedern keine Vorschriften macht, wie sie sich öffentlich zu kleiden haben. Inzwischen sind auch die sozialen Konventionen, die bislang die öffentliche Kleidungsordnung bestimmt hatten, weitgehend abgebaut worden. Der Staat hat dies schon längst anerkannt. Es gibt keinen Zwang, sich in der Öffentlichkeit den Körper zu verhüllen, es sei denn, andere nehmen Anstoss daran und kantonales Recht definiert dies dann als «unanständiges Benehmen». So darf der Körper im Prinzip auch öffentlich nackt sein. Zugleich gibt es keine Verpflichtung, dass Teile des Körpers nackt zu bleiben haben. Dies wäre der Fall, wenn Menschen das Zeigen ihres Gesichts als «Entblössung» oder «Nacktheit» bestimmen. Der Staat hat natürlich kein Recht, den Menschen Vorschriften zu machen, ob sie sich in irgendeiner Weise «nackt» zu zeigen hätten. Nun gibt es Frauen, die aus welchen Gründen auch immer die Gesamtheit des unbekleideten Körpers und nicht allein den unbekleideten Rumpf als «nackt» verstehen. Genauso wenig wie der Staat eine Bekleidungsgebot erlassen kann, kann er ihnen die Vorschrift machen, sich zu «entblössen», selbst wenn es nur einen Teil des Körpers betrifft.
Der Sache nach wird um die soziale Bedeutung des Gesichts gestritten. «Kein freier Mensch verhüllt sein Gesicht», heisst es. Das ist eine normative Aussage, die sich mit dem Prinzip der Freiheit nicht verträgt. Zur Freiheit gehört aber auch, dass sich Menschen ohne Angst erkennbar machen können, so auch religiös erkennbar. In dem Sinne können Mensch selbst dann Gesicht zeigen, wenn sie das Gesicht verhüllen. Die Metapher «Gesicht zeigen» gilt heute vor allem dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechtsextremismus, auch unter muslimischen Gemeinden wird dieser Ausdruck zunehmend verwendet, um den Widerstand gegen islamisierenden Extremismus und islamische Sektenkulturen zu mobilisieren. So müsste der Satz eigentlich heissen: «Der freier Mensch zeigt Gesicht gegen Extremismus und Gewalt.»
Das wahre Gesicht zeigen – es geht um den Islam
Rhetorisch ist seit dem frühen 19. Jahrhundert die Rede davon, dass Menschen unter Umständen «ihr wahres Gesicht zeigen» würden. Das zeigt auch die aktuelle Debatte um das Verhüllungsverbot. So hat Walter Wobmann anlässlich einer Medienkonferenz zur Volksinitiative im September 2019 referiert, dass im Gegensatz zur Situation in islamischen Ländern die Gesichtsverhüllung «in abendländisch-rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnungen nichts zu suchen» habe (kath.ch, 29. September 2015). Damit wird klargestellt, dass die Volksinitiative auf eine islamische Praxis zielt. Andere Praxen der Verhüllung, die gegebenenfalls auch unter ein Verbot fielen, werden kaum thematisiert.
Das war früher anders. «Gesichtsverhüllung» und «Vermummungsverbot» waren von 1981 bis 2003/4 fast ausschliesslich auf eine linksradikale Protestkultur ausgerichtet. Ausgelöst durch den französischen Kopftuchstreit, der am 10. Februar 2004 zum Entscheid des Parlaments führte, wonach das öffentliche Tragen «grösserer» religiöser Symbole verboten sei, änderte sich der semantische Bezug der Debatte um die Gesichtsverhüllung fundamental. In den meisten westlichen Ländern wurde sie nun auf die islamische «Vollverschleierung» bezogen. Erstmals sprach man in Deutschland, dann in Österreich und ab 2009 auch in der Schweiz, von einem «Verhüllungsverbot».
Ausgelöst durch die Bilder des Afghanistankriegs und aufgeschreckt von der martialischen Herrschaftspolitik der afghanischen Taliban wurde die islamische Vollverschleierung bald schon mit dem Bild der paschtunischen Burqa gleichgesetzt. Seitdem dominiert diese Bezeichnung über andere Ausdrücke, die auf eine islamische Vollverschleierung bezogen sind. Der soziale Zwang, der Frauen in paschtunischen Umwelten zum Tragen einer Burqa auferlegt wird, wurde schnell auf alle muslimische Traditionen, das Gesicht zu verhüllen, bezogen, das aus Stoff oder Rosshaar vergittert erscheinende Sichtfenster der Burqa wurde bald zum Symbol des Gefängnisses, in dem sich voll verschleierten Frauen befänden.
Doch kann die Burqa tatsächlich als Symbol für die Unterdrückung der Frau verstanden werden, und handelt es sich überhaupt um ein islamisches Symbol? Die Vollverschleierung ist natürlich nicht an sich ein Zeichen der Unterdrückung. Es handelt sich ja zunächst nur um die Praxis von Menschen, die die Verhüllung ihres Körpers auch auf das Gesicht beziehen. Solch eine Praxis hat formal genauso wenig Bedeutung wie die Tatsache, dass man Schuhe an den Füssen oder Handschuhe trägt. Bedeutung erlangt die Praxis erst durch die Art und Weise, wie sie erfolgt, durch den sozialen Ort, an dem sie Gewohnheit erlangt und durch ihre Rechtfertigung.
Die Praxis, das Gesicht zu verhüllen, hat auch in muslimischen Umwelten nicht an sich eine religiöse Bedeutung. Vielmehr wurde diese Praxis erst im Laufe des 20. Jahrhunderts religiös gedeutet und durch den Rückverweis auf islamische Normenordnungen gerechtfertigt. Es ist richtig, dass auch in der islamischen Tradition von Frauen verlangt wurde, als Zeichen ihrer Tugendhaftigkeit den Körper zu verhüllen. Wie weit diese Verhüllung reichen sollte, war immer umstritten und ist selbst innerhalb islamischer Rechtsschulen nie verbindlich geregelt worden. Im Hochmittelalter galt, dass sich edle Frauen besonders um eine Verhüllung des Körpers zu bemühen hätten. Die Verhüllung des Körpers wurde aber nie als Akt eines religiösen Bekenntnisses verstanden, sondern als tugendhaftes Verhalten, das sich an einer an die Frauen des Propheten Muḥammad gerichteten moralischen Empfehlung im Koran orientierte.
Zudem wurde in der frühislamischen Zeit eher darauf geachtet, dass bestimmte Bekleidungspraxen von Frauen, wie etwa das Tragen von Handschuhen oder auch das Verhüllen des Gesichts, nicht während der Kulthandlungen ausgeübt wurden. Vorislamische Quellen legen nahe zu vermuten, dass in hellenistischen Zeiten im Vorderen Orient die Verschleierung des Gesichts bei Frauen wie Männern vorgekommen war. Erst im Hochmittelalter befassten sich muslimische Juristen und Moralisten mit der Frage, ob das Gesicht einer Frau zu ihrer «Scham» gehöre und daher in der Öffentlichkeit «abzudecken» sei. Nur eine Minderheit von ihnen bejahten dies, und auch sie behandelten diese Frage nicht als religiöses Problem, sondern als rechtliche Sicherstellung des sozialen Status der Frau und ihrer «Sicherheit».
Doch ihre Theorien hatten kaum Auswirkungen auf die gelebte Praxis. Eine Kleiderordnung, die für Frauen auch einen Gesichtsschleier einschloss, wurde erst im 18. und 19. Jahrhundert üblich. Gefördert wurde sie vor allem von puritanischen Hofparteien in Istanbul, Isfahan und Delhi sowie von puritanischen Gemeinschaften selbst. Wie auch in entsprechenden Milieus in Europa definierten die Puritaner eine keusche Mode, die zugleich ihre Normenkontrolle über die Gesellschaft absichern sollte. Im späten 18. Jahrhundert erfasste die puritanische Tradition auch ländliche Milieus etwa auf der arabischen Halbinsel und in den Herrschaftsgebieten paschtunischer Stämme in Afghanistan und Nordwestindien; selbst in ländlichen Regionen im muslimischen subsaharischen Afrika geriet die Mode zu einem geeigneten Instrument sozialer Disziplinierung und Kontrolle.
Eine religiöse Bedeutung erlangte die Gesichtsverschleierung erst in der Moderne, und zwar genau in der Zeit, als die Oberschicht in vielen islamischen Ländern ihre alte Statusordnung, die sie in Kleidung und Habitus ausgedrückt hatte, an die Moden und Stile der Europäer anpassten. Männer legten den Turban ab und setzten sich einen Hut auf. Frauen der Oberschicht legten den meist weissen, durchsichtigen Gesichtsschleier ab und schmückten sich mit einer Art Turban, der dann auch in den europäischen Metropolen nach dem Ersten Weltkrieg Mode wurde. In der Oberschicht und dann auch im breiteren Bürgertum verschwand der Gesichtsschleier innerhalb weniger Jahre. Bisweilen überlebte er in sozialen Nischen im Kontext der kolonialen Ausgrenzung, zum Beispiel in Algerien. Als in den 1920er Jahren der Gesichtsschleier ausser Mode geriet, bildete sich in Metropolen und Provinzstätten der islamischen Welt ein neues islamisches Milieu, das sich an einer neuen islamischen Normenordnung orientierte. In diesem Milieu waren zum Beispiel die ägyptischen Muslimbrüder beheimatet. Für die in diesem Milieu ansässigen Frauen schufen sie eine spezielle rituelle Kleiderordnung, in deren Mittelpunkt ein nun als islamisch interpretiertes Kopftuch (Hidschab) stand. Angeregt durch die Kleiderordnung der wahhabitischen Puritaner auf der arabischen Halbinsel integrierten sie in diese Hidschab-Mode als Option einen Gesichtsschleier (Niqab) und einen mantelartigen Überwurf (Abaya).
Formal hatte diese Kombination eine gewisse Ähnlichkeit mit der paschtunischen Burqa, was dazu führte, dass westliche Beobachter auch die neuislamische Kombination aus Hidschab, Niqab und Abaya als Burqa bezeichneten. Dabei haben die beiden Kleidungsstile wenig gemein. Die Burqa, im Unterschied zur Niqab-Kombination ein Ganzkörpergewand, ist ein Bekleidungsstil für paschtunische Frauen, der ursprünglich auf städtische Eliten begrenzt war. Im vormodernen Arabisch bezeichnete das Wort Burqa (burquʿ) einen Kapuzenmantel, der unter arabischen Beduinen üblich war. Der Begriff wurde dann für die Tschador-Mode verwendet, die um 1800 herum in Persien aufgekommen war. Der Tschador war ein Ganzkörpermantel, der aber das Gesicht unbedeckt lässt. Daher wird die Burqa in Afghanistan oft auch Tschadari genannt. Die Burqa wurde von den Taliban dann durch Rechtsvorschriften verallgemeinert. Es handelt sich eindeutig um einen Kleidungsstil, der die Frauen aus dem öffentlichen Raum ausschliessen sollte und andere Massnahmen wie das Verbot, die Schule zu besuchen oder arbeiten zu gehen, ergänzte. Mit diesem Gesamtpaket rächten sich die Taliban zugleich an jenen Emanzipationsprozessen, die zwischen 1930 und 1980 die Modernisierung der afghanischen Gesellschaft geprägt hatten.
Die arabische Vollverschleierung aus Hidschab, Niqab und Abaya hat inhaltlich mit der Burqa wenig zu tun. Die bisweilen in Ländern am arabisch-persischen Golf anzutreffende Mode, eine Buschiya (oder Ghatwa, eine schwarze Pelerine, die oft über die Abaya gelegt wird) zu tragen, wird selbst von den betroffenen Frauen nicht mit dem Islam in Verbindung gebracht. Natürlich zwingen auch auf der arabischen Halbinsel manche Familienväter und Verwandte Frauen, diese Kombination zu tragen; bis vor kurzem hatten zudem wahhabitische Sittenwächter diesen Zwang ausüben dürfen. Doch ausserhalb der Milieus arabischer Puritaner ist die Vollverschleierung nicht mehr Teil einer Sozialisierungs- oder Disziplinierungsordnung. Bisweilen bekommen wir diese noch mit, wenn Touristen von der arabischen Halbinsel bei uns absteigen oder einkaufen. Doch im Allgemeinen ist die Vollverschleierung heute das Ergebnis einer individuellen Entscheidung geworden.
Selbst hartgesottene muslimische Puritaner und Fundamentalisten erachten das Tragen eines Gesichtsschleiers heute nicht mehr als Teil der islamischen Pflichtenlehre. Dies verwundert nicht, da sich weder im Kanon frühislamischer Texte, auf den sie sich für gewöhnlich beziehen, noch im Koran und in der Prophetentradition normative Aussagen zur Gesichtsverschleierung finden. Frauen, die sich heute das Gesicht in der Öffentlichkeit verhüllen, verstehen ihre Praxis als Frömmigkeit, als Keuschheit, als Ablehnung westlicher Vorstellungen von Sexualität, als Wunsch nach mehr Mobilität, Privatsphäre oder Schutz in einem von Männern dominierten sozialen Umfeld oder als Symbol der Mitgliedschaft in einer speziellen islamischen Gemeinschaft. Zwänge, sich das Gesicht zu verschleiern, gibt es natürlich auch, oft ausgeübt durch Gruppen oder Familienangehörige. Bisweilen sind die Grenzen fliessend. Aber immer handelt es sich um Einzelfälle, die auch als solche beurteilt werden müssen.
Wenn also gefragt wird, ob die Burqa Symbol der Unterdrückung der Frau ist, dann lautet die Antwort: Die Burqa kann im Kontext der paschtunischen Gesellschaftsordnung in Afghanistan und Pakistan durchaus als Symbol der Unterdrückung verstanden werden. Dies gilt aber nicht für die moderne Vollverschleierung an sich.
Kooperation statt Verbot
Darf der Staat unter solchen Voraussetzungen Kleidervorschriften machen? Eine Vorschrift, bestimmte Kleider zu tragen beziehungsweise nicht zu tragen, kann nur dann erfolgen, wenn sie der öffentlichen Ordnung dient. Im deutschen Versammlungsgesetz gibt es zum Beispiel ein Uniformierungsverbot. Dort heisst es: «Es ist verboten, öffentlich oder in einer Versammlung Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung zu tragen.» Auch in der Schweiz gab es einmal (1935) ein bundesrätliches Uniformierungsverbot. In den Kantonen Basel-Stadt, Zürich, Bern, Luzern, Thurgau, Solothurn und St. Gallen wurde zwischen 1990 und 2009 ein Vermummungsverbot erlassen. In all diesen Fällen geht es formal darum, ein bestimmtes Kleidungsstück nicht zu tragen, weil andernfalls die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. Wenn der Staat also mit einer Bekleidungsvorschrift interveniert, dann muss dies aufgrund einer Gefährdung des «ordre publique» erfolgen. Doch bislang fehlt jeder stichhaltige Beleg dafür, dass diese Ordnung durch das Tragen eines Gesichtsschleiers gefährdet ist. Eher müsste man da an den Ganzkörpermantel denken. So hatte der osmanische Sultan Abdülhamid II in den 1880er Jahren das Tragen eines Ganzkörpermantels verboten, da er vermutete, dass sich anarchistische Attentäter hinter dem Körperschleier verbergen könnten. Wenn ein solcher Sicherheitsaspekt in Betracht käme, müsste nicht der Gesichtsschleier verboten werden, sondern weite Mäntel und Jacken, unter denen sich Sprengwesten verbergen liessen. Wenn das Verhüllungsverbot dazu dienen soll, muslimischen Frauen in prekären Lebenssituationen, in denen sie zum Tragen eines Schleiers durch wen auch immer gezwungen würden, beizustehen, dann gilt die Beistandspflicht auch ohne ein solches Verbot. Zudem dürften gewalttätige Ehemänner oder Familienväter kaum von ihrem Tun Abstand nehmen, wenn die Frauen auf ein Verhüllungsverbot verweisen oder wenn sie sich in der Öffentlichkeit nicht das Gesicht verhüllen.
Angesichts dieser Umstände besteht natürlich der Verdacht, dass ein Ja zum Verhüllungsverbot einen weiteren Schritt hin zur Verdrängung des Islam aus dem öffentlichen Raum darstellt. Ansonsten wäre die gesamte Aktion vollkommen unverhältnismässig. Denn in die Verfassung ein Verbot einzutragen, das mangels Tatbestände nur eine minimale Wirkung haben kann, kann nur dadurch gerechtfertigt werden, wenn vermutet wird, dass hinter der Burqa ein viel grösserer Gegner lauert. Auch wenn der Effekt eines Verbots gleich Null sein dürfte, so wird es eine Wirkung auf die Islampolitik der Gesellschaft haben. Nach dem Verbot des Baus von Minaretten würde Musliminnen nun das Tragen eines Gesichtsschleiers verboten, und da beide Verbote Verfassungsrang hätten, würde das Verbot die muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz mit dem Stigma auszeichnen, dass sie nur im Rahmen einer Verbotsordnung öffentlich agieren könnten. Das aber widerspricht der Ordnung einer Gesellschaft als Gemeinschaft freier Menschen.
Anstelle einer erneuten verfassungsrechtlichen Regelung des Zusammenlebens mit muslimischen Gemeinschaften das Wort zu reden, sollten diese vielmehr eingeladen werden mitzuwirken, das vermeintliche Anliegen der Initiative aufzugreifen: nämlich mitzuarbeiten, einer islamischen Rechtfertigung der Unterdrückung der Frauen das Wasser abzugraben, mitzuhelfen, die Idee der freien, offenen Gesellschaft auch in muslimischen Gemeinden nachhaltig zu verankern, und mitzugestalten, wie die Freiheitsrechte auch im islamischen Kontext begründet und durchgesetzt werden können.
Völlig ausser Acht lässt die Initiative die Tatsache, dass der Wandel, mit dem die Länder in der islamischen Welt konfrontiert sind, zu einer drastischen Veränderung der sozialen und religiösen Verhältnisse führen wird. Der Gesichtsschleier, der seit knapp 100 Jahren eine religiöse, islamische Bedeutung erlangt hat, wird diesem Wandel irgendwann zum Opfer fallen. Und doch: Alle Religionen bestehen aus Traditionen, die im Laufe der Jahrhunderte angesammelt, verändert oder verworfen wurden. Manches, was uns heute als Grundbestand einer Religion erscheint, hat nur eine sehr kurze Geschichte. Man denke nur an die katholische Festsetzung der Unfehlbarkeit des Papsts, die protestantische Kirchenmusik oder die Orgel in jüdischen reformierten Synagogen. Die religiöse Symbolik der Kleidung ist im islamischen Kontext auch nur wenige Jahrzehnte alt. Und doch gehört sie für viele Muslime heute zum Islam. Zu behaupten, dass etwas deshalb keine Berechtigung habe, weil es in der Urfassung einer Religion nicht vorhanden sei, hätte zur Folge, dass kaum etwas, was heute unsere Religionen bestimmt, noch Bestand hätte. Weder Beichte noch Zölibat, noch Bibelübersetzungen, noch Kirchtürme, noch Glocken, noch kanonische Rechtsordnungen hätten heute eine Daseinsberechtigung. Insofern ist die Frage sinnlos, ob die Burqa zum Islam gehört. Die Burqa gehört zu den Frauen, die sie tragen wollen oder müssen, und es ist an ihnen zu sagen, ob sie die Burqa als dem Islam zugehörig erachten. Dies ist Teil unserer Freiheitsordnung. Alles andere ist historischer Fundamentalismus.
Ein Nachtrag
Der Ausdruck «mit Kanonen auf Spatzen schiessen» wurde 1872 von einem ungarischen Politiker geprägt, um das deutsche Verbot von Niederlassungen der Jesuiten als übertriebene Massnahme zu brandmarken.