Was erfährt jemand, der in ein Kriegsgeschehen verwickelt ist, eigentlich davon? Diese Frage hat der französische Schriftsteller Stendhal gestellt. Und er hat sie mit einem Paradox beantwortet. Als Teilnehmer der napoleonischen Feldzüge und in der Schlacht bei Bautzen schrieb er in sein Tagebuch: «Von Mittag bis drei Uhr nachmittags sahen wir alles, was man von einer Schlacht sehen kann, das heisst: nichts.» Man ist dabei und sieht und versteht doch nichts. Schlacht und Krieg lassen sich nicht «von aussen» erzählen. «Drinnen» vergehen einem Hören und Sehen.
Umgekehrt gesagt: Bei Erzählungen vom Krieg handelt es sich immer schon um Deutung und Gerücht. «More Coverage» ist das Motto der Stunde. Es herrscht die Kriegsberichterstattung, die eigentlich besser Kriegsgerüchterstattung hiesse. Denn auch hier gilt ein Paradox: Je mehr man erfährt, desto weniger weiss man. Stündlich fluten uns Nachrichten an mit dem Vermerk «mutmasslich», «angeblich», «offenbar», «nach unbestätigten Quellen», «wie aus Geheimdienstkreisen verlautet». Das Gerücht gibt nicht so sehr eine Antwort, sondern tritt eine Fragenkaskade los. Und zündet damit ein Lauffeuer der Spekulation. Der News-Ticker meldet uns das Neuste von der Front, die neuesten Waffenlieferungen, Bombardements von Kranken- und Schulhäusern, Totenzahlen, über den Gesundheitszustand des Kremlchefs. Diese Live-Manie treibt die Fantasie auf höchstes Dopaminniveau.
Das alles ist nicht neu. Kriegsführung lebt wesentlich vom Gerüchtestreuen. Eine Buchillustration aus dem 17. Jahrhundert zeigt Mars, den Kriegsgott, auf seinem von vier Pferden gezogenen Streitwagen. Auf seine Lanze stützt sich eine kleine, geflügelte Gestalt: Fama, die Komplizin des Kriegsgottes. Sie trägt in ihrer linken Hand Pfeil und Bogen – die Symbole für Schnelligkeit und Kampfkraft –, und bekundet damit, dass sie an der Gewalt teilhat. Gerüchte können Handlungsoptionen einschränken. Sie sind kommunikative Gewaltausübung.
Die Welt ist alles, was der Fall sein könnte
An dieser Stelle kommt ein Faktor der jüngsten Mediengeschichte ins Spiel, bekannt unter dem Namen «Fake News». Eigentlich ist das keine genaue Beschreibung, denn bei vielen solcher News handelt es sich nicht um schlechthin falsche, sondern um virtuelle, das heisst um solche, die sich nicht falsifizieren lassen. Und das genügt, um virale Wirkung auszuüben. Die Welt ist alles, was der Fall ist, wissen wir von Ludwig Wittgenstein. Nur interessiert das, was der Fall ist, meist gar nicht so sehr. Vor allem in ungewissen Zeiten, wie jenen des Krieges. Hier zählt die «Fama», das, was gerüchteweise der Fall sein soll, sein könnte. Nicht unser Wirklichkeitssinn wird angesprochen, sondern, wie das ein anderer berühmter Wiener ausdrückte, unser Möglichkeitssinn. Wer ihn besitzt, so Robert Musil, «sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; (…) So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.»
«Vorverstärkung» durch das Gerücht
Das Mögliche gleich wichtig nehmen wie das Wirkliche – das charakterisiert recht treffend die Lage des nicht direkt am Krieg beteiligten Nachrichtenkonsumenten. Zudem ist das Mögliche, wie Dürrenmatt bemerkte, unheimlich, also ein Aufmerksamkeits-Attraktor. Darin liegt auch die Ursache einer psychologischen Reaktion: des sogenannten «letzten Tropfens», der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Ethnologe und Psychoanalytiker Georges Devereux sprach vor fünfzig Jahren vom Effekt der «Vorverstärkung», die Gerüchte ausüben können. Er verglich die Situation mit einem kleinen Gegenstand, der in der Nähe einer Lampe liegt und daher einen grossen Schatten auf die Wand wirft. Nachrichten mit kleinem Informationsgehalt können durch Gerüchte einen riesigen Schatten in den Medien erzeugen. Devereux erwähnt ein Beispiel aus dem Eroberungszug von Dschingis Khan in Zentralasien. Ein ganzes islamisches Dorf in Choresmien (südlich des Aralsees) geriet beim Anblick eines einzigen Mongolen in Panik, weil es hinter diesem die ungeheure Armee aus den Steppen fürchtete. «In diesem Fall», schreibt Devereux, «können wir (…) von einer Vor-Verstärkung durch das Milieu selbst sprechen.»
Mit Mutmassungen wuchern
Kriegsparteien werfen einander naturgemäss Desinformationsmanöver vor. Wie ein anderer Psychoanalytiker – Sigmund Freud – schreibt, monopolisiert der Staat im Krieg das Recht auf Gewalt und Lüge. Er «fordert das Äusserste an Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmündigt sie aber dabei durch ein Übermass von Verheimlichung (…), welche die Stimmung der intellektuell so Unterdrückten wehrlos macht gegen (…) jedes wüste Gerücht». Wie soll sich die Kriegsberichterstattung verhalten? Wenn man schon nichts Genaues weiss, kann man immerhin mit Mutmassungen wuchern. Man bleibt in diesem Sinn «neutral». Aber Informationen im Mutmassungsmodus tragen zur Ungewissheitslage von uns Nicht-Kombattanten bei. Und vor allem dann, wenn die Informationen sich als falsch erweisen – was jederzeit der Fall sein kann –, setzen die Medien ihre Vertrauenswürdigkeit aufs Spiel. Das ständige Bombardement durch News von der Kriegsfront stumpft ab. «Russisches Militär meldet Tötung von 360 ukrainischen Soldaten», «Russische Raketen treffen Selenskis Heimatstadt» – «Gerüchte» unter anderen? Man will schon gar nichts mehr hören. Es gibt auch eine Betroffenheitserschöpfung.
Nachrichtendiät als Gebot der Stunde
Soll man also keine Nachrichten mehr hören? Natürlich nicht! Aber eine Lektion des grossen Kriegstheoretikers Clausewitz wäre zu beherzigen: Nirgendwann sind die Ereignisse unvorhersehbarer als in Kriegszeiten: «Ein grosser Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist widersprüchlich, ein noch grösserer Teil ist falsch und bei weitem der grösste einer ziemlichen Ungewissheit unterworfen. Was man hier vom Offizier fordern kann, ist ein gewisses Unterscheiden, was nur Sach- und Menschenkenntnis und Urteil geben können.»
Auch von uns Nicht-Kombattanten wäre ein solches Unterscheidungs- und Urteilsvermögen gefordert. Woran aber sollen wir dieses Vermögen wetzen, wenn die Faktenlage ungewiss ist? Zur Ungewissheit trägt nicht ein Mangel an Information bei, sondern ein Übermass. Krieg verunklärt alles. Gerade die Berichterstattung. Sie ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Es gibt, anders gesagt, zwei Kriege: den realen und den medialen. Zum Beenden des realen können wir traurigerweise wenig beitragen. Mehr dagegen zum Beenden des medialen. Letzterer – inklusive Verschwörungstheorien – gedeiht auf den Gerüchten wie Saprophyten auf dem Kot. Die tägliche Überdosis an Information richtet uns ab zu überreizten, «ver-twitterten» News-Allesfresssern. Womit wir an den Anfang zurückgekehrt sind, zum Motto «More Coverage». Nachrichtendiät wäre das Gebot der Stunde. Ziemlich sicher ein ungehörtes.