Nach Einschätzung der Veranstalter ist das Frauenfelder Festival der Strassenkunst das grösste und vielfältigste in Europa. Das werden die englischen und norwegischen Streetart-Hotspots Bristol, Bergen und Stavanger vielleicht anders sehen. Mit Sicherheit trifft aber zu, dass sich die Thurgauer Hauptstadt kulturell ins Zeug legt wie noch nie.
Herzhaft hat die Stadt ihren sprichwörtlichen Tugenden der Bescheidenheit, Sparsamkeit und Rücksichtnahme auf sämtliche Befindlichkeiten abgeschworen und sich markant kulturfördernd engagiert. Da ist im wahrsten und mal ausnahmsweise im besten Sinne des Wortes Geld auf die Strasse geworfen worden, wo es nun kunstvoll wächst.
Die vom Frauenfelder Designer-Ehepaar Monika und Marco Niedermann mit Impulsen von Christof Stillhard, Leiter des Kulturamtes, organisierte und bis zum 30. September dauernde Freiluft-Ausstellung kostet eine halbe Million. 280’000 Franken steuert die Stadt bei, 150’000 der Kanton, den Rest das lokale Gewerbe mit Sponsorenbeiträgen und unentgeltlichen Sachleistungen.
Aus 100 Ländern bewarben sich 700 Kunstschaffende für die Teilnahme, 67, davon 12 aus der Schweiz, überzeugten die Jury und realisierten 79 Werke in den Kategorien Graffiti, Mural, Lettering, Urban Knitting, Installationen, Tapeart, Past-up und Keramik.
Frecher Sprössling der Kunst
In die Augen springen die Grossflächigkeit, der Farbenreichtum und die fantasievolle Kraft der Werke. Sie bestätigen sich als die unbekümmert frechen Sprösslinge der Kunst im öffentlichen Raum. Auffallen um jeden Preis. Der verblüffende Überraschungseffekt zählt.
Allerdings: Die von den Kunstschaffenden eingereichten Referenzprojekte als Empfehlungen für die Teilnahme waren spektakulärer als die vor Ort ausgeführten Arbeiten. Eine strengere Kuratierung hätte sich aufgedrängt.
Gleichwohl: Die nach Mass und Buntheit oft ins Monumentale gesteigerte Pracht ist für Frauenfeld, wo der ruhige und harmonische Gang der Dinge geschätzt wird, eine Herausforderung. Die Bevölkerung hat sie – jedenfalls während der ersten Ausstellungstage – angenommen. Die Freude überwiegt haushoch die Verärgerung jener, die Kunst und insbesondere Gegenwartskunst für glatte Geldvernichtung halten.
Um die Heftigkeit dieser Missbilligung zu mindern, rechnen die Veranstalter in ihrem Informationsblatt klitzeklein vor, welch positiven Rückfluss die Ausstellung dem ortsansässigen Gewerbe sichert. Damit ist die Diskussion eröffnet, ob es sich beim Wandel der einst subversiven, als Sachbeschädigung qualifizierten und mit Gefängnis bestraften Streetart zur trendigen Renditeperle um einen Segen oder einen Fluch handelt.
Zur guten Aufnahme durch die Bevölkerung mag die umsichtige Objektplatzierung beitragen, für die mehrheitlich periphere Lagen gewählt wurden. Nirgendwo auch nur die Gefahr einer Kunstüberflutung. Dass sich aber in der mittelalterlichen Innenstadt, die nach dem politischen Willen dringend aufgewertet werden soll, lediglich drei Murals befinden, ist ein die Besorgtheit übertreibender Mangel. Oder doch nicht?
Prämiierte Rebellion
Der Entschluss, das Frauenfelder Zentrum spärlich zu bestücken, ist auch lesbar als Respekt gegenüber der Streetart, die zu Ende des letzten Jahrhunderts im Verborgenen anarchistisch und rebellisch zu blühen begann, Auch dank Harald Naegeli, dem «Sprayer von Zürich», der mit einem Minimum an Materialaufwand für ein Maximum an bürgerlichen Protesten, polizeilichen Aktionen und strafrichterlicher Härte sorgte. 2020 erhielt er den Kunstpreis der Stadt Zürich – wie vor ihm Peter von Matt, Pipilotti Rist, Franz Hohler und Bruno Ganz.
Je mehr Toleranz die Streetart beanspruchen kann, desto schneller muss sie sich neu erfinden, um nicht mit den Blumenkübeln und Fähnchengirlanden zum Dienst an der Strassendekoration befohlen zu werden.
Die Frauenfelder Ausstellung vermittelt einen kunterbunten, mithin der Sache angemessenen Überblick über das aktuelle Streetart-Schaffen mit seinen inneren Widersprüchen der störenden Einmischung und der heiteren Anbiederung. Diese Zwischenbilanz ist mit leuchtenden und zuweilen rollenden Augen sommerlich begeh- und erlebbar.
Die Freiluft-Ausstellung mit zahlreichen Rahmenveranstaltungen dauert bis zum 30. September.
www.streetart-festival-frauenfeld.ch