Der Wanderer erkundet die Gestade des Obersees. Er trifft auf das Projekt einer Marina, die sich naturschützerisch gibt, wird an das unrühmliche Ende eines stolzen Salondampfers erinnert und denkt mit Wehmut an die gerettete «Blüemlisalp» auf dem Thunersee.
Lachen lässt sich vom Zeitgeist nicht beeindrucken. Während unser grosser Nachbar von der Kernenergie Abschied nimmt, widmet sich das Ausserschwyzer Lachen der Kernerneuerung, etappenweise. Jetzt ist die «Etappe Begegnungszone» dran. – Vielleicht hätte die Kernenergie in Deutschland mit dieser Etappe bessere Chancen gehabt! Aber jetzt ist es zu spät.
Nicht aber in Lachen: Die Vordere Bahnhofstrasse verheisst Zukunft. Und wie überall in der zivilisierten Welt beginnt Zukunft mit Baugruben. Wer vom Bahnhof kommend zur «Etappe Begegnungszone» vorstossen möchte, sucht sich balancierend seinen Weg zwischen mächtigen Baumaschinen und Zukunftsgruben zum See, vorbei an schönen Bürgerhäusern und an der katholischen Pfarreikirche zum Heiligen Kreuz.
Auf der Fahrt von Zürich ins Bündnerland sind die zwei markanten Türme der an Süddeutschland erinnernden Barockkirche von Lachen nicht zu übersehen. Einst werden sie wohl den ehemaligen Versammlungsort der Landsgemeinde March visuell dominiert haben, doch unterdessen hat die kaum kontrollierte, dem «Wirtschaftswunder Schwyz» geschuldete Bautätigkeit mit Hochhäusern und Industriebauten das optische Bild des einstigen Marktfleckens lädiert.
Ein Bauerndorf war Lachen nie. Davon zeugt nur schon die Tatsache, dass Lachen im Vergleich zu den Nachbargemeinden flächenmässig ein Winzling ist. Seine Landfläche umfasst nur gerade 2,3 km2. Für Landwirtschaft gibt es schlicht zu wenig Platz. Ähnlich waren die Verhältnisse in Rapperswil, Lachens Nachbarstadt im Kanton St. Gallen schräg über den Obersee. Dessen Stadtgebiet, umschlossen von der zehnmal grösseren Gemeinde Jona, beträgt nur gerade 1,7 km2, so dass die im Jahre 2007 vollzogene Fusion mit Jona wohl unausweichlich war.
Lachen aber ist noch immer eine unabhängige Gemeinde. Es ist Geburtsort einer stattlichen Zahl herausragender Persönlichkeiten, unter denen die schönen Künste gut vertreten sind, vor allem die Musik. Der Komponist und Dirigent Joachim Raff (1822–1882), der es später in Wiesbaden und Frankfurt zu einigem Ruhm brachte, ist hier geboren. Zahlenmässig am besten vertreten sind in Lachen allerdings, wenn man Wikipedia glauben darf, die Sportlerinnen und Sportler.
Als Nichtsportler bin ich heute nicht wegen des Sports hierhergefahren, sondern wegen der besonderen Landschaft am Obersee, welche mich schon in meiner Jugend fasziniert hat. Lachens Besonderheit kündigt sich auch im Ortsnamen an. Er soll vom althochdeutschen «lahha» (Lache, Sumpf) stammen. Das sumpfige «Lachenufer» – bzw. das, was von ihm übriggeblieben ist – will ich heute erwandern. Von der Kirche gehe ich nordwärts, am «entsumpften» Strandbad vorbei, wo zwei Polizistinnen mit einem Kollegen und einem Polizeihund trainieren, weiter zum Mündungsgebiet der Chli Aa, wo ich schon wieder auf einen Bauzaun stosse. «Entdecken Sie das Projekt», verkündet ein halb transparentes Gewebe der Genossame Lachen, hinter dem sich die Umrisse einer Hafenanlage abzeichnen.
Offenbar gibt es neben der Gemeinde noch einen zweiten wichtigen Akteur, der sich um Lachens Zukunft kümmert. Auf dem Internet lese ich staunend, die Genossame Lachen, welche durch acht Geschlechter von Lachen und Umgebung gebildet wird und seit über 600 Jahren, nämlich seit 1406, die Zukunft von Lachen bestimme, sei «… eine Genossenschaft des kantonalen öffentlichen Rechts. Das Kerngeschäft ist die umfassende Bewirtschaftung von Ländereien, Liegenschaften und Immobilien».
Wenig später überquere ich die Wägitaler Aa und identifiziere als Erstes die unverkennbare olfaktorische Note einer Kläranlage. Tatsächlich liegt sie in unmittelbarer Nähe einer auf drei Landzungen in den See hinausgebauten Siedlung namens «Seeanlage Lachen», dem einzigen Landstück der Gemeinde rechts vom Bach. Als selbsternannter Geografie-Historiker stellte ich mir natürlich sofort die Frage, wie Lachen zu diesem Stück Land «Ennet Aa» gekommen sei und vermutete, die Wägitaler Aa, welche weiter oben die Grenze zwischen Lachen und der Gemeinde Wangen bildet, habe früher einen anderen Verlauf genommen. Vielleicht stimmt meine Vermutung, aber ich kann sie nicht nachprüfen, denn auf der ältesten mir zur Verfügung stehenden Dufourkarte dieser Gegend aus dem Jahre 1854 hat die Aa schon ihren heutigen Verlauf. Jedenfalls muss «Ennet Aa» für das Lachener Immobiliengeschäft ein riesiger Glücksfall gewesen sein, entstanden doch hier in den 1970er-Jahren mitten in einer Riedlandschaft nicht nur die Kläranalge, sondern auch die erwähnte Siedlung.
Aber verlassen wir nun das unsichere Terrain der baulichen Entwicklungsprogramme von Lachen und queren wir die Grenze zur Gemeinde Wangen. Dort erwarten uns in der kontrastreichen Landschaft weitere Überraschungen.
Rechts dehnt sich das weite Ried gegen Nuolen aus, auf dem Arbeiter (des Kantons?) damit beschäftigt sind, Elektrozäune zu montieren. Ein Plakat erklärt, dass hier die Wiederansiedelung der selten gewordenen Kiebitze geplant sei. Auf der anderen Seite meines Weges, nur wenige Hundert Meter seewärts, erklingt das tiefe Brummen eines Sportflugzeugs. Für einen kurzen Moment sehe ich es, wenige Meter über dem Boden schwebend, dann verschwindet es hinter dem Clubhaus des Flugplatzes Wangen-Lachen. Ich höre, wie der Pilot den Motor wieder auf Touren bringt. Offenbar wird das Durchstarten geübt.
Erstaunlich: Die 500 Meter lange Piste des Sportflugplatzes liegt mitten in einer ehemaligen Riedlandschaft. Ich ertappe mich bei der Frage, ob ich mich nun als Naturschützer darüber empören oder umgekehrt stolz sein sollte, dass die kleine Schweiz es fertigbringe, auf kleinstem Raum verschiedensten Bedürfnissen gerecht zu werden. – Ich weiss es nicht, hoffe, die Kiebitze, falls sie sich die Aufforderung auf dem Schild des Kantons zu Herzen nehmen und hier siedeln, können sich mit der grösseren Konkurrenz kollisionsfrei arrangieren. Vielleicht sollten die Betreiber des Flugplatzes kiebitztaugliche Funkgeräte an die Vögel verteilen. Ob sich umgekehrt Flugzeuge von Elektrozäunen im Zaum halten lassen?
Ich wandere weiter ostwärts und freue mich darüber, dass sich zumindest andere Bewohner des Rieds an den Flugbetrieb gewöhnt haben. Auf der Wiese vor der Ryffelbucht «weiden» Schwäne. Über hundert habe ich gezählt. Und dann tauchen die ersten Häuser von Nuolen auf. Ich kann mich nicht erinnern, je hier gewesen zu sein, aber das kleine Dorf am westlichen Rand des Buechbergs, das zu Wangen gehört, ist mir seit meiner Jugend ein Begriff, wenn auch nicht unbedingt ein guter. Mich mit dem Dorf und seiner Kiesgrube zu versöhnen, könnte zu einer Art Nebeneffekt meiner heutigen Wanderung werden. Wieso?
Machen wir eine kleine Zeitreise in die 1950er-Jahre. Auf dem ehemaligen Schwemmkegel der Wägitaler Aa baute damals schon seit Jahrzehnten die Kibag Kies ab und fuhr ihn auf Ledischiffen nach Zürich. Der rege Ledischiffverkehr auf dem Zürichsee gehört zu meinen intensiven Kindheitserinnerungen. Ich nehme an, dass die Schiffe der Kibag auf dem See hie und da dem dazumal grössten Raddampfer der Schweiz, der 1875 von Escher-Wyss gebauten 65,1 Meter langen «Helvetia» begegneten. (Die heute noch auf dem Zürichsee verkehrenden, bedeutend jüngeren Dampfschiffe «Stadt Zürich» und «Stadt Rapperswil» sind 59,1 Meter lang.) *
Weil das Eidg. Departement für Verkehr die Betriebsbewilligung für die Helvetia auf das Jahr 1960 begrenzt hatte und die Zürichsee Schiffahrtsgesellschaft (ZSG) nicht plante, das unrentable Schiff zu behalten, wurde die Helvetia vor ihrem Abbruch während der Gartenbauausstellung G59 als Gaststätte verwendet und danach an Coiffeurmeister Schwarz verkauft. Als dieser keine Bewilligung für ein schwimmendes Restaurant erhielt, schleppte die ZSG am 16. November 1961 die Helvetia gratis – hatte man ein schlechtes Gewissen? – in die Kiesgrube der Kibag nach Nuolen.
Es ist nicht klar, was danach geschah und wer dafür die Verantwortung trägt. Jedenfalls sank das Schiff wegen eines Lecks schon bald auf Grund. Halb geflutet bildete die einst stolze Helvetia ein jämmerliches Bild. Erst als das Bundesgericht urteilte, der letzte Besitzer sei für den ordnungsgemässen Abbruch des Schiffes verantwortlich, beauftragte Schwarz im Jahre 1964 die Kibag mit deren Verschrottung. Die Schale des Schiffs blieb allerdings auf dem Grund der heutigen Marina «Kiebitz» (!) liegen und wurde 1994 von Mitgliedern des «Oldtimer Boot Clubs Zürichsee» wiederentdeckt. Eine Gedenktafel erinnert an sie.
Soweit die Geschichte der Helvetia. Anzumerken wäre, dass dem Dampfschiff «Blüemlisalp» auf dem Thunersee, das auch einmal in eine Kiesgrube geschleppt worden war und dort jahrelang vor sich hin rostete, ein Leck erspart geblieben ist. Sie wurde «wiedergefunden», instandgesetzt und ist heute auf dem Thunersee nicht mehr wegzudenken.
Entlang der Marina Kiebitz gehe ich bis zur Spitze des Nuoler Ried, schaue durch den Gitterzaun auf die still daliegende Lagune, versuche mir das Grab der 65 Meter langen Schiffsschale vorzustellen und schliesse meinen Frieden mit den damaligen Tätern.
Später wandere ich dem Pfaffenberg entlang ins Buebental, wo die einstige Kiesgrubenlandschaft zum Golfplatz geworden ist. Vom Rütihof geht es steil hinunter nach Wangen. Plötzlich stehe ich vor einer hohen Wand, hinter der es rauscht und saust. Als Automobilist wird man sich kaum bewusst, dass hier die A3 das Dorf Wangen zerteilt und von seinem einstigen hügeligen Hinterland abgeschnitten hat.
Der Rest ist schnell erzählt. Der Weg durch das amorphe Häusermeer von Wangen bis zum Bahnhof Siebnen-Wangen dauert etwa 20 Minuten. Dort nehme ich den Zug Richtung Zürich. Als ich beim Vorbeifahren hinter den konkurrierenden Hochhäusern die beiden Türme der Kirche von Lachen sehe, tröste ich mich mit dem Gedanken, dass die Kirchtürme unsere Konjunkturtempel vermutlich um Jahrhunderte überleben werden.
* Eine Übersicht über alle Schiffe der Schifffahrt auf dem Zürichsee findet sich im Buch von Kurt Hunziker und Rober Knöpfel, «Zürichsee Schifffahrt», Verlag NZZ, 2014.