Auf einer weissen Konsole liegen fünf Physalis-Kapseln, Schalen der Judenkirschen-Frucht, die durch den natürlichen Zersetzungsprozess zu feinen Gittern geworden sind. Nun sind die Objekte, so fragil, dass man kaum zu atmen wagt, vergoldet: „A Whole Universe (Physalis)“ ist das Werk betitelt, dem die Besucherinnen und Besucher des Aargauer Kunsthauses nahe beim Zugang zur Ausstellung „Nested“ von Su-Mei Tse begegnen. In einem der folgenden Räume stossen wir auf „A Whole Universe (Pomegranate)“: Wiederum auf einer kleinen, diesmal aber aus Kirschbaumholz gefertigten Konsole liegt ein aufgeschnittener saftiger Granatapfel.
Es sind wunderschöne, Sinne und Denken anregende kleine Objekte. Ihr Titel gibt ihnen darüber hinaus eine zusätzliche Dimension. Das Unscheinbare, Zerbrechliche und Gefährdete hier, das Prall-Saftige und Rot-Glänzende – der Granatapfel ist ein uraltes Fruchtbarkeitssymbol – dort: Das ist „Alles“, das ganze Universum. Oder wenigstens: In diesem Kleinen spiegelt sich das Ganze.
Zeitliche Spange
Su-Mai Tse zielt in ihrer Arbeit, und gerade das macht sie, neben anderem, so reich an Verästelungen hierhin und dorthin, auf das Ganze. Die Ausstellung in Aarau – ihre erste umfassende in der Schweiz – macht das mehrfach deutlich. Einerseits schlägt sie elegant den Bogen von ihrer Jetzt-Zeit in die Antike: Gegenüber dem realen Granatapfel hängt eine antik gerahmte Fotografie, welche einen Granatapfel in der Hand einer römischen Göttinnen-Figur zeigt. Von natürlicher, wohl über Jahrhunderte andauernder Erosion geformte fernöstliche Meditationssteine bilden in einem weiten und hellen Museumssaal eine frei ausschwingende Landschaft – und ruhen auf höchst präzise geformten rot, pink, gelb oder schwarz bemalten modernen Holzsockeln: Da scheint heutiger Konstruktivismus auf Archaik zu treffen.
Andererseits legt sich die Künstlerin nicht auf ein Medium fest, sondern nutzt, was ihr zur Verfügung steht, zur Gesamtschau dessen, was zu ihrer persönlichen Weltsicht beiträgt. Technisch virtuos bearbeitete Fotografie, schlichte Videos, Zeichnung, Neonskulptur und Neon-Schrift, Skulptur, Musik – die Künstlerin bedient sich all dieser Medien, teils einzeln, teils in Kombination, und entwickelt damit eine Installation, die sich locker und frei, aber doch bis ins Detail sehr genau bedacht durch all die Museumsräume zieht. Dass viele dieser Räume gegen den Innenhof hin verglast sind, was nicht nur für schönes Tageslicht, sondern auch für Durchblicke bis hin in andere Räume sorgt, legt ganz im Sinne der angestrebten Gesamtschau Verbindungslinien über zeitliche und mediale Grenzen hin frei.
Tradition und Zeitgenossenschaft
Überraschende Durchblicke ergeben sich auch in einzelnen Arbeiten selber. „Gewisse Rahmenbedingungen 2“ nennt sie grosse leere Bilderrahmen aus Ahorn-, Kirsch-, Nussbaum- und Eichenholz, die so in einem der Säle hängen, dass sie je nach Blickwinkel andere und sich überschneidende Raum-Ausschnitte sichtbar machen.
Su-Mei Tse
Su-Mei Tse, geboren 1973, lebt in Luxembourg und Berlin. Ihre Mutter, Engländerin, ist Pianistin, der Vater, Chinese, Violinist. Su-Mei Tse studierte Cello in Luxembourg und Paris, gefolgt von Ausbildungen in Druckgrafik, Skulptur und Textilkunst in Paris. Längere Aufenthalte in Rom und in Japan. Weltweite Ausstellungs-tätigkeit. An der Biennale Venedig 2003 erhielt der Pavillon Luxembourgs, den Su-Mei Tse gestaltete, den Goldenen Löwen für den besten Länder-Pavillon.
Besonders eindrücklich und gewissermassen paradigmatisch demonstriert Su-Mei Tse in „Gewisse Rahmenbedingungen 3“ ihre Gesamtschau. In einem abgedunkelten Raum sehen wir drei quadratische Videos. Eine Hand spielt jeweils, in eleganten Dreh-Bewegungen jonglierend, mit einer gläsernen Kugel, die den im Video nur unscharf sichtbaren Umraum so präzise spiegelt, dass wir Details erkennen und die Situation lokalisieren können: Die drei Situationen sind der Blick auf das Alte Museum in Berlin, der Park der Villa Adriana in Tivoli und der Saal mit Raffaels Fresken in der Villa Farnesina in Rom – das sind Orte von hoher kulturhistorischer Ausstrahlung, die Su-Mei Tse mit ihrer Arbeit in unsere Gegenwart hineinholt. Die Trilogie wirkt wie ein kulturelles State-ment, wie ein Bekenntnis zur Tradition kulturellen Nährbodens und zum Postulat der Zeitgenossenschaft jedes und also auch jedes künstlerischen Handelns.
Altar für die Kartoffel
Beide Versionen von „A Whole Universe“, aber auch die auf modernen Sockeln präsentierten Meditationssteine zeigen Su-Mei Tses Tendenz, natürliche Prozesse in ihrer Zeitdimension in ihr Schaffen einzubeziehen. Sie tut das so, dass man von einer Haltung der Ehrfurcht sprechen möchte. Das gilt auch von den Klein-Skulpturen „Das Ich in jeder Kartoffel“, in denen die Künstlerin einem der banalsten Natur-Produkte, der Kartoffel eben, eine eigene und diese Banalität durchaus sprengende Individualität und Aura zu geben scheint. Es handelt sich um bis auf die Erdreste auf der Schale täuschend echt gemachte Keramik-Kartoffeln, aus denen glänzend glasierte Keime spriessen. Diese „Kartoffeln“ zelebriert sie in einer Art Altar-Situation auf sorgfältig gestalteten Sockeln, die mit antiken Steinplatten belegt sind.
Verbindungen hin zur Natur sucht Su-Mei Tse auch in einer raumfüllenden Videoinstallation „Mistelpartition“. Die Kamera streift langsam über einen winterlichen Birkenwald; in die Äste der Birken heben sich Misteln. In den Bäumen blitzen helle Lichter auf – genau im Rhythmus zur Musik, die das Geschehen begleitet – zu Ausschnitten aus dem zweiten Satz von Schostakowitschs erstem Cello-Konzert. Das Naturerlebnis führt zum Kulturerlebnis: „Mistelpartition“ beruht auf einfachster und spontaner Assoziation. Su-Mei Tse erzählt, sie sei oft an diesen Bäumen vorbeigefahren, und es hätte sich plötzlich und doch ganz organisch-fliessend die Erinnerung an Schostakowitschs Musik eingestellt.
Eingenistet
Und der Ausstellungstitel „Nested“? Was will die Künstlerin damit sagen? Eine umfangreiche Werkgruppe trägt ebenfalls diesen Titel. Es sind weisse, in natürlichem Prozess differenziert ausgeschwemmte Kalksteine, in deren zahlreiche Vertiefungen die Künstlerin glänzend geschliffene kleine Marmorkugeln setzt. Ihre bunten Farben, teils gleichmässig, teils geädert und mit Einsprengseln durchsetzt, kontrastieren zum matten Weiss des Kalks. Das Kunst-Produkt nistet sich so in die natürliche Form ein, als sei es genau dafür gemacht. Auch hier das Ganze im Kleinen.
Die Ausstellung wurde vom Aargauer Kunsthaus und vom Mudam in Luxemburg organisiert, in Zusammenarbeit mit dem Yuz Museum Shanghai und dem Taipe Fone Arts Museum. Kuratiert wurde sie von Katrin Weilenmann (Kunsthaus Aarau) und Christoph Gallois (Mudam Luxembourg).
Su-Mei Tse: „Nested“. Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 12. August. www.aargauerkunsthaus.ch