Kleine Vorwarnung: Dies ist der Versuch, ein überaus kompliziertes Thema aus einem grundsätzlichen Blickwinkel etwas anders zu beleuchten. Und wenn (falls) Sie diesen (etwas längeren) Beitrag zu Ende lesen, werden Sie unter Umständen trotzdem keine neue Erkenntnis haben. Willkommen in der Welt des Schweizer Gesundheitssystems.
Der Vergleich
Die Schweiz ist flächenmässig bezüglich bewohnbarer Fläche kleiner als das süddeutsche Bundesland Baden-Württemberg und hat drei Millionen weniger Einwohner. Bei uns gibt es rund 300 Spitäler, in Baden-Württemberg 220. Wir haben 26 kantonale Gesundheitsstrukturen, Baden-Württemberg hat eine. 2013 beliefen sich die Ausgaben für gesundheitsbezogene Waren und Dienstleistungen in Baden‑Württemberg auf insgesamt rund 45 Mrd. Franken, in der Schweiz auf rund 69 Mrd. Franken.
Der Filz
Gemäss dem SRF Lobbying-Register 2015 hatten damals 47 Mitglieder des Nationalrats (NR) eine deklarierte Interessensbindung im Bereich Gesundheit, fast gleich viele wie im Bereich Landwirtschaft (49). Jeder dritte dieser NR-Mitglieder hatte eine Interessensbindung mit einer Krankenkasse. Rund ein Viertel des gesamten Nationalrats war somit 2015 mit dem Gesundheitswesen verbandelt. Und fast jede dritte Krankenkasse hatte einen Interessensvertreter im Parlament (es gibt heute noch 45 Krankenkassen in der Schweiz). Im Ständerat hatten laut einer Analyse des Zürcher Tages-Anzeigers neun von 13 Mitgliedern der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-SR) Interessensbindungen im Gesundheitsbereich. Jeder unserer 26 Kantone und Halbkantone hat eine eigene Gesundheitsdirektion, die wiederum in der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) organisiert ist.
Die Kosten und die Wertschöpfung
Das Schweizer Gesundheitswesen ist eine gigantische Maschinerie: Laut Prognose der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) steigen die Gesundheitsausgaben 2018 auf rund 87 Mrd. Franken. Knapp 272’000 Menschen arbeiteten, gerechnet in Vollzeitäquivalenten, 2016 im Gesundheitswesen. Das waren sieben Prozent aller Beschäftigten in der Schweiz. Laut KOF-Prognose beträgt der Anteil der Gesundheitsausgaben im nächsten Jahr 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Unser Gesundheitswesen verursacht also nicht nur Kosten, sondern generiert auch sehr viel Wertschöpfung, schafft Arbeitsplätze und sorgt für wirtschaftliche Stabilität.
Die Knacknuss
Niemand hat ein Interesse, das Problem grundlegend anzupacken und zu lösen. Wir leben in einem föderalistischen System. Die kantonale Autonomie ist heilig. Aus dem Grund ist es auch möglich, dass Sie nach dem Umzug von einer Gemeinde in einem Kanton in eine an sich ähnlich strukturierte Gemeinde in einem anderen Kanton bedeutend mehr oder weniger Krankenkassenprämien bezahlen. Für die exakt identischen Leistungen. Politiker schreien je nach Parteibüchlein nach mehr Regulierung oder nach mehr Deregulierung.
Peinlich wird es, wenn die Expertengruppe „Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflege“ über Lösungsszenarien brütet und unter anderem prüft, ob künftig gewisse Medikamente in Indien eingekauft werden sollten, weil sie dort zehnmal günstiger sind als hier bei uns. Zum Verständnis: der Anteil der Ausgaben für Medikamente beläuft sich im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung (das sind unsere allgemeinen Krankenkassenprämien) auf rund 20 Prozent. Er lag schon vor zehn Jahren bei 20 Prozent, hat sich also linear entwickelt. Über alle Ausgaben gesehen liegt der Anteil an Ausgaben für Medikamente 2018 noch bei rund 8,5 Prozent, 2014 bei rund neun Prozent. Aber national kann nur der Preis für Medikamente beeinflusst werden. Alles andere muss durch die Föderalismus-Mühle. Inzwischen kamen Politiker auch auf die Idee, einmal mehr die Bundesverfassung als Notlösung zu missbrauchen: Die Deckelung der Zunahme der Ausgaben soll in der Verfassung verankert werden. Hilfloser geht’s nimmer.
Dass zwar mit diesen Hauruck-Übungen keinerlei grundlegende und nachhaltige Veränderungen des Systems erreicht werden, versteht wohl jeder, der rechnen kann. Aber es ist eben einfacher, unsinnige Lösungen stolz zu verkünden, statt sich dem wahren Problem zu stellen. Über den unsäglichen Präzedenzeffekt, der durch eine solche Lösung (Medikamentenkauf in Indien) ausgelöst würde, wollen wir gar nicht erst nachdenken. Es käme dem Öffnen der Büchse der Pandora gleich. Bevor ich’s vergesse: Die Medikamentenpreise werden in der Schweiz vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) nach immer strengeren Kriterien und auf Basis eines Vergleichs mit den Preisen in anderen Ländern festgelegt. Bisher verbot das im Krankenversicherungsgesetz verankerte Territorialitätsprinzip die Rückerstattung der Kosten von im Ausland gekauften Arzneimitteln. Im Herbst will die Kommission ihren Bericht zuhanden des Bundesrats vorlegen.
Das wahre Problem ...
... besteht aus drei Wörtern: „Föderalismus“, „stationär“ und „ambulant“. Der Föderalismus verhindert jegliche grundlegende Veränderung des Systems. Solange 26 Kantone und Halbkantone sich am Gesundheitsbuffet laben können, werden sie alles verhindern, was weniger Geld bringt. Politiker werden sich sträuben, die Interessen ihres Heimatkantons hinter nationale Bedürfnisse zu stellen, Spitäler werden mit allen Mitteln versuchen, ihre Betten zu füllen, und Bürger werden lauthals protestieren, wenn trotz ausreichender Versorgung eine Geburtenabteilung geschlossen werden soll. Es nützt wenig zu wissen, dass Avenir Suisse schon vor Jahren ein Konzept mit noch fünf Gesundheitsregionen für die Schweiz entwickelt hat. Das Konzept verstaubt in einer Schublade genauso wie ein weiterer nationaler Lösungsansatz im Bereich der Kardiologie mit noch fünf Herzzentren in der Schweiz. Und es hilft auch nicht, wenn die ehemalige Aargauer Ständerätin und renommierte Gesundheitspolitikerin Christine Egerszegi und selbst der ehemalige GDK-Präsident Dr. Carlo Conti überzeugt sind, dass unsere föderalistische, zerklüftete Struktur mit 26 Gesundheitsdirektionen von gestern ist. Sogar Conti schlägt eine Lösung mit sechs oder sieben Gesundheitsregionen vor. Und er findet auch, dass die heute noch immer kantonal geregelten Krankenkassenprämien versicherungsmathematisch nicht mehr tauglich sind.
Stationär und ambulant
Während die Pharmabranche laufend als Prügelknabe für die steigenden Gesundheitsausgaben herhalten muss (vor allem unser Preisüberwacher Stefan Meierhans lässt keine Gelegenheit dazu aus und sitzt übrigens auch in der oben erwähnten Expertenkommission), geht einer der wohl grössten Beeinflusser für die Entwicklung unserer Krankenkassenprämien nicht zuletzt aufgrund der Komplexität noch immer unter: der Kanton. Wenn Sie ins Spital müssen und stationär behandelt werden (Sie müssen mindestens eine Nacht im Spital bleiben), dann beteiligt sich der Kanton an den definierten Kosten zu derzeit 55%. Die Krankenkasse übernimmt 45% der Kosten. Wenn Sie hingegen ambulant behandelt werden (Sie können am selben Tag wieder nach Hause), dann werden alle Kosten von der Krankenversicherung bezahlt. Der Kanton bezahlt nichts. Der Staat versucht über die neue Abgeltung der stationären Spitalleistungen nach Fallpreispauschalen, möglichst viele Spitalleistungen in den ambulanten Bereich zu verschieben. Gleichzeitig sind die Kantone im Dilemma. Denn sie sind auch Spitalplaner, Spitalbesitzer, Spitalbetreiber und spielen Gesundheitspolizei.
Als Kanton möchten Sie natürlich, dass einerseits möglichst alle Betten in Ihrem Spital besetzt sind, da Sie ansonsten ein Defizit kompensieren müssen. Gleichzeitig freut es Sie, wenn Ihre Einwohner ambulant behandelt werden. Denn dann müssen Sie nichts an die Kosten bezahlen. Das übernimmt ja dann die obligatorische Krankenversicherung zu 100%.
Prämienzahler an den Tropf
Letztlich führt die Entwicklung dazu, dass wir Prämienzahler immer mehr Leistungen über die Krankenkasse abdecken müssen, während sich der Kanton aus der Kostenbeteiligung zurückzieht. Da nun aber die vor Jahren geplanten und inzwischen gebauten neuen Bettenabteilungen im Akutbereich der stationären Abteilung leer stehen, muss er dort als Spitalbesitzer Defizite tragen. Finanziert aus unseren Steuergeldern. Eine klassische Verschiebung von einer Baustelle auf die nächste.
Dass das alles nicht funktioniert und auf diesem Fundament auch nie funktionieren kann, belegt ein erneuter Blick in die letzte Gesundheitsausgabenprognose der KOF: Der Anteil an den Gesundheitsausgaben ist im Bereich der ambulanten Kurativbehandlung von rund 20 Mrd. auf 24 Mrd. Franken (Prognose 2018) gestiegen. Das war zu erwarten. Bei der stationären Kurativbehandlung steigen die Ausgaben aber auch immer noch an: von rund 15 Mrd. (2014) auf knapp 17 Mrd. Franken (Prognose 2018). Zusammen sind diese beiden Bereiche für fast die Hälfte aller Gesundheitsausgaben der Schweiz verantwortlich. Bitte nicht vergessen: Gleichzeitig erfolgt hier auch eine enorme Wertschöpfung über die Beschäftigten und deren Einkommen.
Vor diesem Hintergrund wird klar: etwas stimmt ganz und gar nicht. Denn an sich müssten ja die Steuern gesenkt werden können, weil die Kantone dank dem Trend zur ambulanten Behandlung weniger an den Kosten partizipieren müssen. Wir müssten zwar mehr Prämien bezahlen, weil die Krankversicherungen im ambulanten Bereich mehr Leistungen finanzieren müssen. Dafür würden wir von der Entlastung der Kantone profitieren und könnten zumindest einen Teil der höheren Krankenkassenprämien über die tiefere Steuerrechnung kompensieren. Aber das bleibt natürlich reines Wunschdenken. Und die stationären Ausgaben nehmen weiter zu.
Dabei ist der Trend schon seit längerem bekannt: Wir werden älter, leben auch immer länger gesund (die gesunde Lebenserwartung in der Schweiz beträgt rund 68 Jahre), aber die Ausgaben für Pflege und Rehabilitation machen schon seit mehreren Jahren fast einen Viertel aller Gesundheitsausgaben aus. Es ist anzunehmen, dass mit der Alterung der Gesellschaft (eine Million Babyboomer gehen in den nächsten zehn Jahren in Rente) die Kosten für Pflege und Rehabilitation weiter und vor allem überproportional ansteigen werden.
Privatisierung könnte auf den ersten Blick ein Weg aus dem Dickicht sein. In der Tat versuchen Kantone und Gemeinden immer wieder, ihre Spitäler zu verkaufen. Dagegen wehren sich aber regelmässig Gewerkschaften. Und oft scheitern die Vorhaben dann auch an der Urne. Kommt dazu: Wer ein Spital kauft, will damit auch Gewinn erwirtschaften. Der reglementierte Pseudo-Wettbewerb im Gesundheitswesen verhindert echte, wirtschaftlich sinnvolle Lösungen und unterstützt das Streben nach maximaler Ausreizung des Systems.
Letztlich auf dem Buckel der Prämienzahler.
Die Illusion
Unser System ist grundlegend krank. Und es sieht nicht so aus, also ob jemand wirklich daran interessiert wäre, es zu heilen. Erst wenn wir uns von den 26 kantonalen Hoheitsgebieten verabschieden, für die acht Millionen Menschen in der Schweiz ein nationales Versorgungskonzept umsetzen und auch nur, wenn die Kantone nicht mehr selber Spitäler betreiben mit entsprechenden Finanzierungsinteressen, erst dann werden wir die Chance haben, diesen Patienten wieder auf die Beine zu kriegen. Und es braucht ein strenges Regime, also nicht mehr ein Jekami-Selbstbedienungsbuffet, sondern Verzicht im Interesse einer umfassenden medizinischen und therapeutischen Grundversorgung unserer Bevölkerung. Erleben werden wir das freilich kaum. Zu viele Partikulärinteressen wollen behütet werden. Der Föderalismus ist eine heilige Kuh, die Spitalfinanzierung ein Buch mit sieben Siegeln. Wir werden zusehen müssen, wie Politiker weitere sinnlose Vorhaben anschieben, wie die Solidarität im Gesundheitswesen untergraben wird (warum bezahlen Raucher und Adipöse nicht mehr Krankenkassenprämien als Nichtraucher und Schlanke?), wie Exit boomt und Palliative Care stiefmütterlich behandelt wird, wie uns Krankenkassen mit Fitnessbonus motivieren und Rentner schon bald ihre Pflege selber finanzieren müssen.
Inzwischen steigen die Krankenkassenprämien weiter, wie das Fieber bei einem Patienten, den man falsch behandelt.