„Zieht euch aus, bis auf Unterhosen und Socken. Es ist heiss unten“. Wir ziehen uns aus und erhalten einen orangen Overall. Es gibt Grössen von 35 bis 55. Dann riesige Stiefel, eine Schutzbrille, einen Helm, einen Rucksack mit Erste-Hilfe-Utensilien und einer Flasche Mineralwasser. Und zum Schluss einen Gurt; an ihm wird eine grosse Batterie mit einer Handlampe befestigt.
Alles wirkt fast militärisch oder abenteuerlich. Mehr abenteuerlich als militärisch. So stelle ich mir Höhlenforscher vor. Wir werden gefragt, ob wir gesundheitlich fit sind.
Dann noch Kopfhörer. Der Ingenieur, der uns führen wird, macht eine Tonprobe und spricht in ein Mikrophon. Alles funktioniert, alle hören seine Anweisungen. Es ist nicht nur heiss unten, es ist auch laut. Ohne Kopfhörer würden wir ihn nicht hören.
Wir befinden uns unterhalb des Dorfes Sedrun zwischen Disentis und dem Oberalp-Pass. Wir sind eine Gruppe von 15 Journalistinnen und Journalisten, die letzten Medienvertreter, die vor dem Durchschlag in den Tunnel geführt werden. Dabei ist das ZDF, die französische Fernsehstation FR3, einige deutsche und österreichische Journalisten – zwei Schweizer und wir vom „Journal21“.
Dabei ist auch Renzo Simoni, der oberste Chef der AlpTransit Gotthard. Sie ist die Bauherrin des 57 Kilometer Gotthard- und des 15,4 Kilometer langen Ceneri-Basistunnels. Der 49jährige Simoni ist seit drei Jahren Chef hier. Sein Leitspruch: „Erfolge gehören den Mitarbeitern, Misserfolge dem Chef“.
Durch einen 800 Meter hohen Kamin ins Erdreich hinab
Wir werden zu einem Schuppen geführt, in dem seltsame, kleine Züge stehen. Transportwagen für die Arbeiter, die zur Schicht fahren. Wir klettern auf die engen Sitze und schlagen mit den Helmen an die Decke des Zügleins.
Dann rattern wir durch eine Tunnelröhre in den Berg hinein, einen Kilometer weit. Hier öffnet sich ein riesiges Gewölbe, etwa fünf Mal so hoch wie eine Turnhalle. Überall Förderbänder und kleine Wagen, auf die Schutt geladen wird. „Kipper“ nennt man sie.
Von hier aus wurde ein riesiger 800 Meter langer Schacht senkrecht nach unten gegraben: eine Art Kamin, der tief in den Berg hineinreicht. Durch ihn gelangt man per Lift nach unten. „Unten“, das ist das Tunnelniveau auf 540 Metern über Meer.
Wir steigen in den Lift. Er ist etwa zwei mal drei Meter gross. Ketten rasseln, es ist halbdunkel, ein gespenstisches Gefühl. Nichts für Leute, die Platzangst haben. Dann rast der Lift nach unten, 800 Meter in etwa 18 Sekunden. Hier wird am Freitag auch Moritz Leuenberger heruntersausen. Und all die Gäste, die an der Durchschlagsfeier teilnehmen.
2000 Kumpels arbeiten hier unten. Über uns wölbt sich der 2983 Meter hohe Piz Vagira. Keine Zeit und keine Lust, an die zweieinhalb tausend Meter Fels zu denken, die über uns liegen. Wer klaustrophob ist, wird hier wahnsinnig.
Zwischenangriffe wie in Sedrun gibt es auch bei Amsteg und Faido. So kann die Bauzeit halbiert werden. Man kann so an fünf Stellen gleichzeitig bohren. Durch die senkrechten Schächte und Zugangsstollen wird auch das Aushubmaterial abtransportiert. 24 Tonnen Fels müssen ausgebrochen werden; das ist soviel wie fünf Cheops-Pyramiden. Die ersten Bauarbeiten begannen 1993.
Alles hier unten ist in gleissendes Licht getaucht. Trotzdem herrscht eine unheimliche Stimmung. 45 Grad heiss wäre es hier. Klimaanlagen kühlen die Luft auf 28 Grad hinunter. „Man gewöhnt sich daran“, sagt uns ein italienischer Arbeiter. „Schön ist es im Winter, wenn wir aus 28 Grad plus auftauchen und oben minus 28 Grad vorfinden“. Er zwinkert mit den Augen.
Eine andächtige Stille
Einige der Journalisten sind sehr ruhig geworden, fast blass. Ein beklemmendes Gefühl übermannt sie hier im tiefen Erdreich. Langsam gehen sie den Tunnelwänden nach. „Es gab schon Leute, die mussten wir schnell wieder nach oben bringen“, erzählt ein Organisator. „Sie hatten plötzlich starke Kopfschmerzen“.
Wir gehen durch eine Seitenröhre in die beiden Hauptröhren. Durchschlagen wird jetzt am Freitag die Oströhre des Tunnels. Der Durchschlag der Weströhre folgt im kommenden Frühjahr. Der Gotthard-Basistunnel besteht aus zwei parallel verlaufenden einspurigen Röhren, die einen Abstand von 40 Metern haben. Alle 325 Meter gibt es eine Querverbindung, sogenannte Querschläge. Einen eigentlichen Fluchttunnel gibt es nicht. Geschieht ein Unglück in einer der Röhren, werden die Passagiere durch die Querverbindungen in die andere Röhre evakuiert.
Eine seltsame Stimmung kommt auf. Da stehen wir im längsten Tunnel der Welt. Zum Teil ist er in ein grünliches Licht getaucht. Man sieht weit, weit nach hinten und nach vorn. Und plötzlich herrscht eine fast andächtige, besinnliche Stille. In sechs oder sieben Jahren werden hier 300 Züge täglich mit bis zu 250 Kilometern die Stunde vorbeibrausen.
Weite Teile des Tunnels sind schon ausbetoniert. Die Schienen werden direkt auf das Betonbett montiert. Schotter gibt es in diesem Tunnel nicht.
An andern Stellen ist es nass. Die Wände sind feucht, überall Pfützen, überall stapelt sich Werkzeug. Man steht in einer Tropfsteingrotte. Ein Arbeiter revidiert einen Bohrkopf, ein anderer schweisst zwei Metallstücke zusammen. Der Feuerschweif des Schweissgeräts reflektiert sich an den Wänden bis tief hinein ins Gewölbe.
Die Stelle, wo am Freitag der Hauptdurchschlag erfolgt, liegt acht Kilometer südlich von hier. Schichtzüge rattern dorthin. Dort sind zwei Tribünen aufgebaut, auf denen die 200 Gäste Platz nehmen werden. Den Organisatoren ist es mulmig zumute, 200 Gäste hierher zu transportieren. „Vergessen wir nicht“, sagt ein Ingenieur, „das ist eine riesige Baustelle mit all ihren Gefahren“. Sind die Gäste gesundheitlich fit genug, haben sie Platzangst?
Krönung einer politischen Karriere
Um 14.00 Uhr wird die Feier losgehen – übertragen von Fernsehstationen in alle Welt. Selbst das japanische Fernsehen wird hier sein. Die SRG-Sender werden von morgens 10.00 Uhr bis 17.30 live vom Ereignis berichten. Drei kurze Reden werden gehalten, dann – auf Wunsch von Bundesrat Leuenberger – gibt es eine kurze kulturelle Einlage.
Für Leuenberger ist dieser Durchschlag die Krönung seiner politischen Karriere. Er gilt als Mr. Neat und hat das Projekt intensiv vorangetrieben. Die Idee zum Tunnel entstand allerdings schon vor seiner Amtszeit.
Vor zehn Tagen wurde die Tunnelbohrmaschine "Sissi" angehalten. Von Süden her hat sie sich ins Gestein Richtung Norden gefressen. Jetzt steht sie anderthalb Meter vor dem Durchbruch. In den letzten Tagen wurde hier das Gewölbe des Tunnels gesichert, so dass der feierliche Durchschlag problemlos verlaufen kann.
Am Freitag um 14.00 Uhr wird „Sissi“ mit seinen 62 Rollmeisseln angedreht, und die letzten Brocken zwischen Nord und Süd werden fallen.
Es war schwierig, ein Datum für den Durchschlag zu prognostizieren. Man weiss nie, was einem im Fels erwartet. „Vor der Hacke ist es duster“, heisst der Leitspruch der Mineure. Um die Durchschlagfeier organisieren zu können, waren die Bauherren gezwungen, früh ein Datum zu fixieren. Man legte sich auf Mitte Oktober fest. Im Sommer schien diese Zielvorstellung gefährdet; es gab viele Wassereinbrüche, man traf auf flockiges Gestein. Nur fünf oder sechs Meter kam man jeden Tag voran. Seit Mitte August konnte man den Rückstand aufholen. Die Maschinen frassen sich täglich 18 oder 19 Meter tief in den Berg hinein.
“Die Schweiz beweist, dass sie zu Europa gehört
Nach der Inbetriebnahme des Gotthard- und Ceneri-Basistunnels können doppelt so lange Güterzüge wie bisher eingesetzt werden. Sie werden auch nur noch von einer Lokomotive gezogen. Das bedingt, dass die Steigung auf der Nord-Süd-Strecke nie mehr als 12 Promille beträgt. Bisher mussten zwei Lokomotiven die Güterzüge nach Göschenen hinaufschleppen und durch den alten Tunnel führen.
Moritz Leuenberger nannte den Neat-Tunnel das „erste Weltwunder der Schweiz“. „Am Anfang standen die Vision und der Wille unseres Volkes, den Schwerverkehr durch die Alpen auf die Schiene zu verlagern“ sagte er. „Wir werden uns von ganz Europa gratulieren lassen, weil wir dem Kontinent eine leistungsfähige Transitachse ohne Staus und Abgase zur Verfügung stellen“.
„Die Schweiz beweist mit dem Bau der Neat, dass sie zu Europa gehört, indem sie mit Europäern für Europa den längsten Eisenbahntunnel der Welt baut“, betont er. Die europäischen Verkehrsminister werden allerdings nicht zur Feier erscheinen; sie tagen an diesem Freitag in Luxemburg. Dennoch sind sie beim Durchschlag live dabei – das Fernsehen überträgt die Bilder in den Verhandlungsraum.
Von Zürich nach Mailand in 2 Stunden und 40 Minuten
Die Fahrzeit von Zürich nach Mailand beträgt heute mit einem EC-Zug 4 Stunden und 10 Minuten. Ein Neigezug schafft die Strecke in 3 Stunden und 4 Minuten. Nach der Eröffnung der Gotthard-, Ceneri- und Zimmerberg-Basistunnels reduziert sich die Zeit auf 2 Stunden und 40 Minuten.
Von der Reisezeitverkürzung profitieren 22 Millionen Menschen, die in den Einzugsgebieten wohnen. Der Zug wird auf der Strecke Zürich Mailand oder Süddeutschland-Mailand eine echte Alternative zum Flugzeug. Vor allem für die zehn Millionen Menschen in Baden-Württemberg, drei Millionen deutschsprachige und rätoromanischsprachige Schweizer, sowie 9 Millionen Menschen aus der Lombardei. Sie alle rücken zusammen.
Masochistische Schweizer?
Eigentlich folgte der allererste Durchbruch schon vor einigen Tagen. Als wir durch den senkrechten Schacht wieder oben in Sedrun auftauschen, treffe ich Roman B. Auch er ist eben unten gewesen. Er ist Produzent beim Schweizer Fernsehen. Seine Equipe war dabei als ein sechs Zentimeter breites Loch in die letzten anderthalb Meter Gestein getrieben wurde – ein Loch, in das ein Fernsehkabel für die Direktübertragung gelegt wurde.
Nach der Führung spreche ich noch mit einigen deutschen Journalisten. Sie waren tief beeindruckt. „Ihr Schweizer seid schon seltsam“, sagte einer. „Da baut ihr den längsten Tunnel der Welt, und was tut ihr: Ihr überhäuft euch mit Kritik.“ Ein anderer pflichtet ihm bei: „Statt stolz zu sein, sprecht ihr von defekten Abwasserrohren. In den Zeitungen steht, der Tunnel sei nichts Besonderes, nur eine Fleissarbeit“.
Wieder meldet sich der Erste: „Ihr lamentiert, dass die europäischen Verkehrsminister nicht kommen. Sollen sie doch nicht kommen, diese Bürokraten“. Und dann ein vernichtendes Urteil: „Seid doch nicht so bescheiden, ihr habt etwas Bahnbrechendes geleistet. So masochistisch wie ihr sind nicht einmal wir Deutschen. Was sind schon defekte Abwasserrohre im Vergleich zu dieser Leistung.“.